Dr. phil. Paul Natterer
Inhaltsverzeichnis

Zum Begriff der messianischen Ära

Unterdrückung und Süße des Lebens

In unserem Gang durch die Religionswissenschaft hat sich gezeigt: Der Begriff des Messias (griechisch: Christos) als von Gott mit göttlicher Kraft und Würde gesalbter Erlöser ist eine universelle Idee und Erwartung in vielen Traditionen der Menschheit. Wir kommen in Folge darauf zurück. In den Heiligen Schriften des prophetischen Theismus (Bibel) ist Begriff und Person des Messias a fortiori zentral. Thema des Neuen Testamentes ist der Messias und das durch ihn verwirklichte Reich Gottes. Die Hl. Evangelien sind Messiasbiographien. Die anderen Schriften des Neuen Testamentes beleuchten die Mission und das Werk des Messias, d.h. die christliche Kirche als das messianische Reich. Das Christentum ist die messianische Zivilisation und die messianische Ära.

Die messianische Zivilisation wird als die Ära und der Raum der Erlösung verstanden. Der Begriff der Erlösung hat als sachlogische Voraussetzung (i) die Erfahrung eines intellektuell, ethisch und zivilisatorisch suboptimalen, schlechten, schädlichen Zustandes der Lebenswelt und der Umwelt und (ii) die Annahme der Möglichkeit einer Verbesserung oder Optimierung der Menschenwelt. Alternative Begriffe für Erlösung sind "Befreiung" oder "Neuschöpfung" oder "Neue Weltordnung". Der Begriff „Erlösung“ ist nun, wie oben angesprochen, in der europäischen und auch globalen Zivilisation wie kein anderer mit den Begriffen „Christentum“ [= Messianisches Heil und Reich], „Evangelium [= Frohe Botschaft]“, „Jesus Christus“ [= Messianischer Erlöser] verbunden. Seit 1500 Jahren war unsere Gesellschaft bis vor wenigen Generationen in Verfassung, Gesetzgebung, Bildung und öffentlichem Leben offiziell und selbstverständlich christlich.

Die folgenden Eckdaten zum Selbstverständnis des Christentums machen dessen Zusammenhang mit dem Begriff der Erlösung auch in der Sache deutlich. Es sind diese: (1) Gott schafft und erhält das Universum. (2) Der Sinn des Lebens ist die Erkenntnis und Anerkennung Gottes. (3) Gottesfurcht ist die Bedingung von Intelligenz, Erfolg und Glück. (4) Das Böse Gottlosigkeit, Dummheit, Ungerechtigkeit, Schwäche, Gier gewann in der Geschichte zunehmende Macht über die Menschen. (5) Jesus Christus ist der Messias, d.h. der Erlöser oder Befreier aus dem Bann des Bösen und Geber ewigen Lebens. (6) Christen sind ontologisch "Gottessöhne" und ethisch "Propheten" und transzendieren als spirituelle Spezies die animalische Menschheit von homo sapiens (Matthäusevangelium 5, 12.45). (7) Christen sind als kognitive und moralische Elite „Licht der Welt“ und „Salz der Erde“ (ebd. 5, 1314). (8) Das Christentum ist das Israel Gottes: Seine Mission ist die Spiritualisierung der Völker der Erde und die Verwirklichung der idealen menschlichen Gemeinschaft rechtschaffener Nationen, mit dem Ziel, den Namen des Herrn anzurufen und ihm zu dienen. (9) Das Christentum ist die größte und definitive Religion der Erde und die neue ideale Ära. (10) Die ideale messianische Ära des Christentums generiert auf allen Gebieten der Lebenswelt überlegene, ultimative Leistungsfähigkeit und definiert in Wissenschaft, Ethik, Recht, Politik, Technik, Kunst, Architektur und Musik die globalen Standards.

Der Kernbegriff der Messiasbiographien alias Evangelien ist dementsprechend das "Reich Gottes" (Markus 1, 15) als "fundamentale Zeitenwende" (ebd.) und Lebensraum der Erlösung oder ganzheitlichen Gesundung und Optimierung. Es ist eine Neue Weltordnung. Repräsentativ für dieses Selbstverständnis ist etwa der folgende axiomatische Leitsatz aus einer bekannten Grundsatzerklärung der Römischen Kirche zum atheistischen Kommunismus: "Durch ihn [= Jesus Christus] wurde eine neue universale Kultur begründet, die christliche Kultur, unvergleichlich höher als jene, die der Mensch bis dahin mit Mühe und nur in einigen wenigen bevorzugten Nationen erreicht hatte [... Sie ist] die einzig wahre menschliche Zivilisation." (Pius XI: Divini Redemptoris, 19.03.1937)

Auch heute ordnen die meisten ohne weiteres die Worte „Erlösung“ und „Christentum“ demselben Begriffsfeld zu. Der Unterschied ist nur, dass diese Gedankenverbindung inzwischen weithin als Ausdruck eines verheerenden geschichtlichen Irrtums gilt. Der säkularisierte Zeitgeist, die veröffentlichte Meinung und ein großer Prozentsatz der Bevölkerung halten das Christentum der Tradition für eine entmündigende, verdummende und unterdrückerische Institution. Also das genaue Gegenteil von Erlösung. Diese Strömungen werden inspiriert und gebündelt durch die neokonservative Vision einer alternativen Neuen Weltordnung und Erlösung bzw. Lösung der Menschheitsprobleme. Hierbei handelt es sich bekanntlich um die beherrschende globale Agenda der Gegenwart. Neokonservative wollen wie frühere marxistisch-leninistische Kommunisten reflektiert die Neue Weltordnung des Christentums beseitigen und durch eine andere neue Weltordnung ersetzen (siehe das Menu zur Tora, Einleitung). Nur nach den Zielvorgaben des Zeitgeistes genmutierte Varianten des Christentums erhalten noch — um im Bild zu bleiben — eine offizielle Zulassung.

Ch_M_de_TalleyrandDagegen steht die bekannte Aussage der Leitfigur und grauen Eminenz der antichristlichen französischen Revolution in allen ihren Phasen, Charles-Mauricede Talleyrands [Portrait links]. Sie wird meist zitiert: Il fallait vivre avant la révolution pour savoir la douceur de la vie. Auf Deutsch: „Man musste vor der Revolution gelebt haben, um die Süße des Lebens zu kennen.“ [Das Originalzitat ist wohl eher bei gleichbleibendem Sinn: Qui n‘a pas vécu dans les années voisines de 1780 n‘a pas connu le plaisir de vivre]. Für Talleyrand ist also die integral christliche, näherhin katholische Zivilisation vor 1789 Rahmenbedingung für Lebensfreude und Erlösung. Er sagt dies, obwohl er sich gegen seine Jugend traurig und unglücklich machende — Schattenseiten dieser Gesellschaft wehrte. Die Süße des Lebens macht er anhand anderer Jugenderfahrungen anschaulich, etwa am Beispiel der alle Stände in Respekt und Liebe einbeziehenden Lebensformen auf dem Landsitz Chalais seiner Urgroßmutter Marie-Françoise de Rochechouart. Ich verstehe Talleyrands vielschichtigen Standpunkt, denn ich teile sowohl seine positiven wie negativen Jugenderfahrungen im Rahmen der christlichen Zivilisation als auch seine Offenheit für alle authentischen Einsichten. Im SWR habe ich 1998 darüber einmal ein ausführliches Interview gegeben. Rationalistische Engführungen unter Verdrängung der komplexen, scheinbar widersprüchlichen Wirklichkeit führen hier nicht weiter.

Alexis de Tocqueville (1805—1859) ist der Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft mit bis heute akademisch und realpolitisch — in China seit 2013 offizielle Pflichtlektüre — grundlegenden Analysen zur amerikanischen Revolution und Gesellschaft (Über die Demokratie in Amerika) und zur Französischen Revolution und Gesellschaft (L'Ancien Régime et la Révolution). Er bestätigt Talleyrands Erfahrungen: "Ich weiß nicht, ob es insgesamt und trotz der Schwächen einiger seiner Mitglieder jemals in der Welt einen beachtlicheren geistlichen Stand gegeben hat als den katholischen Klerus Frankreichs zu dem Zeitpunkt, als die Revolution über ihn gekommen ist: einen gebildeteren, einen nationaler gesinnten, einen Klerus, der sich weniger in privater Frömmigkeit abgekapselt hätte, sondern sozial und politisch engagiert war und gleichzeitig gläubiger gewesen wäre: Die Verfolgung hat dies überzeugend gezeigt. Ich habe das Studium der Gesellschaft des Ancien régime voller Vorurteile gegen ihn begonnen! Nach meinem Studium war ich voller Respekt." (L'Ancien Régime et la Révolution, Paris 1986 [1856], 169).

Hippolyte Taine, der zweite klassische Historiker des vor- und nachrevolutionären Frankreich, stimmt Tocqueville genauso ausdrücklich zu wie die modernen Standardwerke von M. Péronnet: Les évêques de l’Ancienne France, Paris 1977, und Ph. Loupès: La vie réligieuse en France au XVIIIème siècle, Paris 1993: Der französische Klerus und insbesondere auch „der französische Episkopat im Jahrhundert der Aufklärung verkörperte Würde und Kompetenz … und so unterschiedliche zeitgenössische Beobachter wie Burke oder Senac oder Meilhan haben ihm bereitwillig Ehrenbezeugungen erteilt“ (1993, 64—69).

Antike Vorurteilsstruktur

Angesichts dieser gegensätzlichen Standpunkte zu den Begriffen "Erlösung" und "Christentum" müssen wir das Rad nicht neu erfinden. Denn auch in der Antike wurde das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung angefeindet als Inbegriff der Ignoranz, des Atheismus, der Unmoral und Subversion und Hunderttausende von Christen deswegen verhaftet, gefoltert und hingerichtet. Die kanonischen Schriften des Neuen Testamentes sehen dabei diese Feindschaft als unvermeidlich und quasi naturgesetzlich. Sie gilt als Standardreaktion der von "Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit" angetriebenen Welt alias der Menschen außerhalb des messianischen Reiches, "die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten" (Römerbrief 1, 18): "Nehmt euch vor den Menschen in Acht! Denn sie werden euch vor die Gerichte bringen und in ihren Synagogen auspeitschen. Ihr werdet um meinetwillen vor Statthalter und Könige geführt, damit ihr vor ihnen und den Heiden Zeugnis ablegt [...] Und ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden [...] Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Matthäus 10, 1622, 34). 

Der universell gebildete Starprofessor und Regierungssprecher Aurelius Augustinus (354–430) war von dieser Vorurteilsstruktur stark geprägt, bevor er Christ, Theologe und Bischof wurde. Augustinus‘ Verachtung und Abwehr des Christentums ließ ihn daher theoretisch wie praktisch alle alternativen Konzeptionen eines glücklichen Lebens erproben wie Hedonismus (Sinnenfreude), Wissenschaft (Erkenntnis), Karriere (Macht), Skepsis (Resignation) in unterschiedlichen Philosophien bzw. Religionen: Epikureische Lebensphilosophie, Akademischer [spätplatonischer] Skeptizismus, Ciceronianischer Stoizismus, Dualistischer Manichäismus, Idealistischer Neuplatonismus. Seine Selbstbekenntnisse bilanzieren ein Scheitern der Suche nach Erfüllung auf dem Weg dieser Einstellungen und Philosophien. Sein Denk- und Lebensweg auf der Suche nach dem glücklichen Leben (Eudaimonie) mündete im vierten Lebensjahrzehnt in den prophetischen Monotheismus des neutestamentlichen Israel, in welchem er bekannte, dieses Glück gefunden zu haben.

Augustin Lateran 6 JhAugustinus hat später die vielleicht einflussreichste religionswissenschaftliche und kulturgeschichtliche Analyse der gegensätzlichen Standpunkte zum Thema „Erlösung“ und „Christentum“ verfasst: De civitate dei (Vom Gottesstaat, 413426 n. C.). Anlass des Werkes ist der Vorwurf heidnischer Senatoren und Schriftsteller, dass das Christentum kein Heil gebracht habe, sondern für den Untergang des Römischen Reiches verantwortlich zeichne. Die Bücher 110 sind eine umfassende und ins Einzelne gehende Phänomenologie und Kritik der römisch-griechischen und überhaupt indogermanischen Religion und Gesellschaft, durch den vielleicht brillantesten Analytiker der antiken Zivilisation. Sie verbindet unmittelbares persönliches Erleben derselben mit Aufarbeitung aller wichtigen religionsphilosophischen Autoren der Antike – unter durchgängiger Konfrontation mit dem prophetischen Theismus des alt- und neutestamentlichen Israel. Die Bücher 1122 thematisieren darüber hinaus in entsprechender Weise summarisch die orientalischen und afrikanischen resp. ägyptischen Religionen und Kulturen. [Bild oben: Aurelius Augustinus, Lateranbasilika 6. Jh.]

Wer über Augustinus hinaus die gesamte antike Diskussion zu unserem Thema einsehen will, kann dies anhand der aktuellen und gut lesbaren Standardwerke des Trierer Experten Michael Fiedrowicz tun: Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten, 3. Auflage Paderborn / München / Wien / Zürich 2006, sowie: Christen und Heiden. Quellentexte zu ihrer Auseinandersetzung in der Antike, Darmstadt 2004.

Moderne Vorurteilsstruktur

Es ist freilich nicht nötig, so weit zurück zu gehen. Denn der unserer Zeit und unserem Erleben näher stehende Journalist und Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton (18741936) weist eine ähnliche intellektuelle Biographie auf wie Aurelius Augustinus. Als typisches Produkt der englischen oberen Mittelschicht vor dem 1. Weltkrieg, erzogen in der elitären St. Paul’s School in London und mit G. B. Shaw befreundet, war er bereits als Jugendlicher Heide und überzeugter Agnostiker. Wie die ihn prägende gesellschaftliche Schicht hielt auch er das Christentum, namentlich in Gestalt der orthodoxen und katholischen Tradition, für den Inbegriff des Schlechten, Kranken und Dummen. Wir waren im 20. Jh. Zeitzeugen, wie aufgrund dieser Beurteilung im kommunistischen Ostblock wiederum Millionen Christen verhaftet, gefoltert und getötet wurden. Das statistische Standardwerk T. M. Johnson: World Christian Trends AD 30 AD 2200, Pasadena 2012, zählt 70 Mio. christliche Martyrer in zwei Jahrtausenden, davon 45 Mio. im 20. Jh. Zur Zeit werden jährlich ca. 100.000 Christen ermordet, womit Christenverfolgung auch im 21. Jh. weltweit die mit Abstand schlimmste Form der Diskriminierung ist (Grim/Finke: The Price of Freedom Denied: Religious Persecution and Conflict in the Twenty-First Century, Cambridge 2010).

Chestertons eigene Ablehnung des Christentums beschränkte sich darauf, die Beschäftigung mit christlicher Literatur und Theologie zu verweigern und ausschließlich atheistische, agnostische und darwinistische Autoren und Gesprächspartner zu akzeptieren. Nur und genau durch deren Beobachtungs- und Denkfehler sowie Widersprüche wurde er nach eigener Aussage Christ im Sinne der katholischen Tradition oder Orthodoxie (= Authentischer Glaube, Rechtgläubigkeit). In Letzterer sah er nun die einzige menschlich überzeugende und wissenschaftlich haltbare Weltanschauung. Er hat wie Augustinus seine Neuorientierung literarisch dokumentiert, in dem Werk Orthodoxy von 1909, dem 1925 ein Ergänzungsband The Everlasting Man und zahlreiche weitere Sachbücher und Belletristisches folgten. Orthodoxy genießt wie sein sonstiges Oeuvre bis heute im angelsächsischen Raum großes Ansehen. Wegen dessen literarischer und intellektueller Brillanz stellt man ihn in eine Reihe mit Thomas Carlyle und John Ruskin. Es wurde u.a. bewundert von Ernest Hemingway, Gabriel Garcia Marquez, Agatha Christie, Sigrid Undset, T. S. Eliot, Orson Wells und natürlich von seinem engen, ebenfalls entschieden römisch-katholischen Freund J. R. R. Tolkien, dem Autor von Der Herr der Ringe. Orthodoxy bekehrte C. S. Lewis, den Autor der Chroniken von Narnia und bedeutenden christlichen Vordenker zum Christentum. Andere Werke Chestertons inspirierten Michael Collins zur Gründung der Irischen Unabhängigkeitsbewegung und des Irischen Staates und Mahatma Gandhi zur Gründung der Indischen Unabhängigkeitsbewegung und der Indischen Union. Gandhi sagte auch einmal, dass Chestertons Schriften ihn fast zum Christen gemacht haben. Und Kafka: "Er ist so lustig, dasss man fast glauben könnte, er habe Gott gefunden." (G. Janouch: Gespräche mit Kafka, Frankfurt 1961, 59)

G. K. ChestertonOrthodoxy hat neun Kapitel, die jeweils eine Stufe von Chestertons persönlichem Weg und Aufstieg zur Transzendenz behandeln. Dabei wird eine große Zahl von Pros und Contras angeschnitten, die in Geschichte und Gegenwart die religionsphilosophische Diskussion zum Thema Erlösung und Christentum bestimmten. Deswegen und weil fast nichts zeitbedingt und überholt ist, halten wir es für sinnvoll, diesen ebenso modernen wie provokativen Klassiker vorzustellen und folgen der Einfachheit halber der Gliederung und damit dem Denkweg Chestertons. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe Orthodoxy, Mineola, New York 2004. Deutsch: Orthodoxie, Frankfurt 2000/2011. Nach einem Einleitungskapitel „Introduction in Defence of Everything Else“ erörtert Chesterton in Kapitel 2 Bedingungen und Eigenschaften mentaler Gesundheit:

Kapitel II. Der Maniker / The Maniac: Mentale Gesundheit ist ganzheitliche Verbindung von Intuition, Phantasie, Gefühl, Instinkt, und formalem Denken. Geisteskrankheit ist in der Regel aus dem Gesamtzusammenhang losgelöstes, frei driftendes und unbedingt gesetztes abstraktes Denken einer oder weniger fixer, manisch verfolgter Ideen: „They all have exactly [...] the combination of an expansive and exhaustive reason with a contracted common sense.” (14) “The chief mark and element of insanity […] is reason used without root, reason in the void.” (19).

Geisteskrankheit ist eingleisige rationalistische Engführung unter Verdrängung der komplexen, scheinbar widersprüchlichen und geheimnisvollen Wirklichkeit. Mystik hält Menschen gesund: “Mysticism keeps men sane. As long as you have mystery you have health; when you destroy mystery you create morbidity.” (20) “It is exactly this balance of apparent contradictions that has been the whole buoyancy of the healthy man.” (20)

Kapitel III. Der Selbstmord des Denkens / The Suicide Of Thought: Charakteristisch für die Moderne sind wildlaufende und vergeudete Tugenden. Wenn eine religiöse Architektur zerschmettert wird (wie die Christenheit der Tradition in der Reformation), werden nicht nur die Laster los- oder freigelassen, sondern auch die Tugenden. Und die Tugenden irren noch wirrer umher und richten noch größeren Schaden an: “The modern world is not evil; in some ways the modern world is far too good. It is full of wild and wasted virtues. When a religious scheme is shattered (as Christianity was shattered at the Reformation), it is not merely the vices that are let loose. The vices are, indeed, let loose, and they wander and do damage. But the virtues are let loose also: and the virtues wander more wildly and the virtues do more terrible damage. The modern world is full of the old Christian virtues gone mad.” (22)

Demut und Bescheidenheit richtet sich an sich auf den Ehrgeiz und Stolz, heute aber auf die Glaubensüberzeugung. Der Mensch sollte skeptisch in Bezug auf sich selbst sein, aber ohne Zweifel in Bezug auf die Wahrheit. Das ist inzwischen genau umgekehrt: “What we suffer from to-day is humility in the wrong place. Modesty has moved from the organ of ambition. Modesty has settled upon the organ of conviction; where it was never meant to be. Man was meant to be doubtful about himself, but undoubting about the truth; this has been exactly reversed.” (23).

Religiöse Autorität ist ein Wall gegen die Selbstzerstörung der menschlichen Vernunft bis zur mentalen Hilflosigkeit: “The modern critics of religious authority are like men who should attack the police without ever having heard of burglars. For there is a great and possible peril to the human a peril as practical as burglary. Against it religious authority was reared, rightly or wrongly, as a barrier. And against it something certainly must be reared as a barrier, if our race is to avoid ruin. That peril is that the human intellect is free to destroy itself.” (25) “In short, the modern revolutionist, being an infinite sceptic, is always engaged in undermining his own mines. In … rebelling against everything he has lost his right to rebel against anything.” (34) “For madness may be defined as using mental activity so as to reach mental helplessness” (35).

Kapitel IV. Die Ethik des Elbenlandes / The Ethics Of Elfland: Die Dinge und Ereignisse der Welt sind nicht selbstverständlich, sondern eine Geschichte voller Wunder, magisch und von einem Willen gesteuert, was Kinder und viele einfache Menschen instinktiv spüren (und was gute Demokraten ernst nehmen sollten): “Democracy tells us not to neglect a good man’s opinion, even if he is our groom; tradition asks us not to neglect a good man’s opinion, even if he is our father.” (40) “This was my first conviction […] I had always vaguely felt facts to be miracles in the sense that they are wonderful: now I began to think them miracles in the stricter sense that they were willful I mean that they were, or might be. Repeated exercises of some will. In short I had always believed that the world involved magic […] I … had always felt life first as a story: and if there is a story there is a storyteller.” (53)

Kapitel V. Die Flagge für die Welt / The Flag Of The World: Intersubjektive, sichtbare, feststellbare Orientierung als Spezifikum der rechtgläubigen Weltkirche: “The only fun of being a Christian was that a man was not left alone with the Inner Light, but definitely recognized an outer light, fair as the sun, clear as the moon, terrible as an army with banners.” (68)

Kapitel VI. Die Paradoxien des Christentums / The Paradoxes of Christianity: Das Christentum als korrupteste Institution der Geschichte, von widernatürlicher und dämonischer Schlechtigkeit, Sammelbecken der schlimmsten und widersprüchlichsten Laster, Lügen, Vorurteile, Krankheiten oder: das normale Gesunde hinter einer Wolke irrer Kritiker: “I read the scientific and skeptical literature of my time […] I never read line of Christian apologetics. I read as little as I can of them now. It was Huxley and Herbert Spencer and Bradlaugh who brought me back to orthodox theology [… According to its critics] Christianity [had] the most flaming vices, but it had apparently a mystical talent for combining vices which seemed inconsistent with each other. It was attacked on all sides and for all contradictory reasons […] One accusation against Christianity was that it prevented men, by morbid tears and terrors, from seeking joy and liberty in the bossom of Nature. But another accusation was that it comforted men with a fictitious providence and put them in a pink-and white nursery [..…] This puzzled me. It couldn’t be at once be the black mask on a white world, and also the white mask on a black world.” (7778).

“I only concluded that if Christianity was wrong, it was very wrong indeed. Such hostile horrors might be combined in the thing, but that thing must be very strange and solitary.” (82) "Such a paradox of evil rose to the stature of the supernatural. It was, indeed, almost as supernatural as the infallibility of the Pope. An historic institution, which never went right, is really as much of a miracle as an institution that cannot go wrong. The only explanation which immediately occurred to my mind was that Christianity did not come from heaven, but from hell. Really, if Jesus of Nazareth was not Christ, He must have been Antichrist [...] And then in a quiet hour a strange thought struck me like a still thunderbolt […] Perhaps, after all, it is Christianity that is sane and all its critics that are mad—in various ways.” (83)

Kapitel VII. Die ewige Revolution / The Eternal Revolution: Revolution modernen Stils und zügellose Freidenkerei als Unterminierung von Freiheit und Emanzipation: “We may say broadly that free thought is the best of all the safeguards against freedom. Managed in a modern style the emancipation of the slave's mind is the best way of preventing the emancipation of the slave.” (100) “The modern young man will never change his environment; for he will always change his mind.” (101).

Freiheit und Emanzipation sind nicht von der Vergangenheit und Tradition bedroht, sondern von den Mächten des Kapitals und der Medien: “We have almost up to the last instant trusted the newspapers as organs of public opinion. Just recently some of us have seen (not slowly, but with a start) that they are obviously nothing of the kind. They are, by the nature of the case, the hobbies of a few rich men. We have not any need to rebel against antiquity; we have to rebel against novelty. It is the new rulers, the capitalist or the editor, who really hold the modern world.” (108)

Menschliche Institutionen werden regelmäßig und schnell missbraucht. Auch das Christentum erlebt immer wieder Phasen des Niedergangs und sogar scheinbaren Sterbens. Aber nur das Christentum hat eine rational begründete Opposition gegen Reichtum und Reiche als besonders gefährlich, korrupt und moralisch fragwürdig: “This startling swiftness with which popular Systems turn oppressive is the third fact for which we shall ask our perfect theory of progress to allow […] In this matter I am entirely on the side of the revolutionists. They are really right to be always suspecting human institutions; […] Christianity spoke again and said: “I have always maintained that men were naturally backsliders; that human virtue tended of its own nature to rust or to rot” (109) “Only the Christian Church can offer any rational objection to a complete confidence in the rich […] She has maintained that … the most dangerous environment of all is the commodious environment […] that rich men are not very likely to be morally trustworthy […] The whole case for Christianity is that a man who is dependent upon the luxurious of this life is a corrupt man, spiritually corrupt, politically corrupt, financially corrupt.” (111)

Kapitel VIII. Die Romantik der Orthodoxie / The Romance Of Orthodoxy: Die selbstverständlichsten Gewissheiten und Tabus des weltlichen Zeitgeistes sind in der Regel das genaue Gegenteil der Fakten: “The things said most confidently by advanced persons to crowded audiences are generally those quite opposite to the fact; it is actually our truisms that are untrue. Here is a case. There is a phrase of facile liberality uttered again and again at ethical societies and parliaments of religion: ‘The religions of the earth differ in rites and forms, but they are the same in what they teach.’ It is false; it is the opposite of the fact. The religions of the earth do not greatly differ in rites and forms; they do greatly differ in what they teach.” (121)

Echte Liebe setzt frei, differenziert und erzeugt Hass bis zum Blutvergießen, Talmi-Liebe knebelt, kompromittiert und zersetzt. In der Perspektive der christlichen Theologie ist das Leben ein Spannungsroman mit offenem Ausgang: "All modern philosophies are chains which connect and fetter; Christianity is a sword which separates and sets free [...] The Son of God came not with peace but with a sundering sword [...] Any man who preaches real love is bound to beget hate [...] Sham love ends in compromise and common philosophy; but real love has always ended in bloodshed." (125126) "To a Christian existence is a story, which may end up in any way [...] And Christendom has excelled in the narrative romance exactly because it has insisted on the theological free will [...] Its main advantage is that it is the most adventurous and manly of all theologies." (129131)

Atheisten und nichtchristliche Weltanschauungen aller Couleur kämpfen fanatisch gegen Christentum und Kirche für Freiheit und Humanität bis zur Unterdrückung von Freiheit und Humanität in Terror, Diktatur und Selbstzerstörung. Im Kampf gegen die jenseitige Welt nehmen sie in Kauf, dass diese Welt in Flammen aufgeht: “There are men who will ruin themselves and ruin their civilization if they may ruin also this old fantastic tale [= Christianity]. This is the last and most astounding fact about this faith; that its enemies will use any weapon against it, the swords that cut their own fingers. And the firebrands that burn their own homes. Men who begin to fight the Church for the sake of freedom and humanity end by flinging away freedom and humanity if only they may fight the Church. This is no exaggeration […] We do not admire, we hardly excuse, the fanatic who wrecks this world for love of the other. But what are we to say of the fanatic who wrecks this World out of hatred of the other. He sacrifices the very existence of humanity to the non-existence of God.” (132)

Kapitel IX. Autorität und Abenteurer / Authority and the Adventurer: Die Orthodoxie ist der einzige sichere Wächter von Moral und Ordnung, und der einzige logische Wächter von Freiheit, Innovation und Fortschritt. Ausrottung eingewurzelter Grausamkeiten und Aufrichtung verlorener Völker gelingen mit der Formel 'Geist vor Materie' und misslingen mit der Formel 'Materie vor Geist': "Orthodoxy is not only (as is often urged) the only safe guardian of morality or order, but it is also the only logical guardian of liberty, innovation and advance [...] If we want to uproot inherent cruelties or lift up lost populations we cannot do it with the scientific theory that matter precedes mind; we can do it with the supernatural theory that mind precedes matter." (134)

Die Strömungen der Welt und der menschlichen Natur begünstigen stets den Reichen: Der Arme hat, wenn überhaupt, nur den Rückhalt von Autorität und Regeln: “Above all, if we wish to protect the poor we will be in favour of fixed rules and clear dogmas. The rules of a club are occasionally in favour of the poor member. The drift of a club is always in favour of the rich one.” (134).

Das Christentum ist der einzige soziale Rahmen, der das Vergnügen des Heidentums bewahrt hat: "Catholic doctrine and discipline may be walls; but they are the walls of a playground. Christianity is the only frame which has preserved the pleasure of Paganism.” (138).

Die sterotype Begriffsverknüpfung "Christentum" und "Dunkles Mittelalter" widerspricht diametral den Fakten. Vielmehr ist das Christentum mit den Mönchsorden der eine Pfad durch die dunkle Ära, der nicht dunkel war: eine hell leuchtende Brücke zwischen zwei hell leuchtenden Zivilisationen, auf der Recht und Ethik, Mathematik und Logik, Geschichte, Musik und Literatur, Agrikultur, Architektur und Industrie die Völkerwanderungsstürme durchquerten: “In history I found that Christianity, so far from belonging to the Dark Ages, was the one path across the Dark Ages that was not dark. It was a shining bridge connecting two shining civilizations. If any one says that the faith arose in ignorance and savagery the answer is simple; it didn’t. It arose in the Mediterranean civilization in the full summer of the Roman Empire. The world was swarming with skeptics, and pantheism was as plain as the sun, when Constantine nailed the cross to the mast […] Christian Church was the last life of the old society and was also the first life of the new.” (140)

Chestertons Fazit: Erst seitdem ich die Orthodoxie kenne, weiß ich, was Geistesfreiheit und Lebensfreude ist:It is only since I have known orthodoxy that I have known mental emancipation.” (152) “Christianity satisfies suddenly and perfectly man’s ancestral instinct for being the right way up; it satisfies it supremely in this; that by its creed joy becomes something gigantic and sadness something special and small.” (153)

Anmerkungen zu den Konfessionen des christlichen Israel 

Chestertons ursprüngliche Sozialisation erfolgte im Protestantismus anglikanischer Ausprägung. Sein Denkweg und seine Lebenserfahrung führten ihn durch intellektuelle und existentielle Grenzerfahrungen hindurch wie ersichtlich zu einer neuen Evaluation des Christentums als Schrittmacher und Lebensraum der Erlösung, Freiheit, Freude etc.

Aber genauso ist er überzeugt: Das authentische, ernst zu nehmende, Erlösung transportierende Christentum ist nicht der Protestantismus seiner Sozialisation, sondern die Kirche der Tradition, also die globale resp. katholische Weltkirche alias die westliche wie östliche Orthodoxie (Rechtgläubigkeit).

Urkirche = Frühkirche = Weltkirche

Der Religionsphilosoph, der wie vielleicht kein zweiter in der Moderne der Frage der christlichen Konfessionen theologisch nachgegangen ist, ist Chestertons Landsmann und der einflussreichste anglikanische Theologe des 19. Jahrhunderts, John Henry Newman (18011890). Nach dem Versuch eines Mittelweges zwischen Protestantismus und Katholischer Kirche in der von ihm geformten Oxfordbewegung, der bedeutendsten religiösen Bewegung des Protestantismus im 19. Jh., erfolgte 1845 sein Übertritt zur Römischen Kirche. Ein Schritt, der eine auch zahlenmäßig bedeutsame Übertrittsbewegung Tausender anglikanischer Theologen und englischer Intellektueller in die katholische Kirche auslöste. Für unseren Zusammenhang ist nun folgende Erklärung Newmans zu diesem Schritt einschlägig: Gerade die historisch‑philologische Verifizierung der vollen Identität "in Verfassung, in Grundsätzen, in den äußeren Beziehungen [...] selbst bis in die leisesten Tönungen" zwischen der Römischen Kirche des 19. Jahrhunderts einerseits und der Urkirche sowie Frühkirche andererseits ist "das große, offenkundige geschichtliche Phänomen ..., das mich konvertieren ließ" (Newman: Certain Difficulties felt by Anglicans, Vol. 1, London 1918 [1850], 368). Seine Autobiographie Apologia pro vita sua kulminiert sachlich und literarisch in diesem theologischen Damaskuserlebnis.

J. H. NewmanReligionsphilosophisch aufschlussreich sind hier ferner die „sieben Kriterien“ Newmans [Zeichnung links], „um gesunde Entwicklungen einer Weltanschauung oder Theorie [Idee] von ihrem Zustand des Verfalls und Niedergangs zu unterscheiden: Es liegt kein Verfall (Fehlentwicklung) vor, wenn sie (1) einen und denselben Typus beibehält, und (2) die selben Prinzipien, (3) die gleiche Organisation; wenn (4) ihre Anfänge ihre folgenden Phasen begründen und vorhersehen lassen, und (5) ihre späteren Erscheinungsbilder ihre frühere Erscheinung deckt und ihr dienlich ist; wenn sie (6) Assimilationskraft und die (7) Fähigkeit zum Wiederaufleben besitzt, und eine kraftvolle Tätigkeit von Anfang bis zum Schluß zeigt.“ (Newman, J. H.: An Essay on the Development of Christian Doctrine, Notre Dame, Indiana 61989, 171; Übersetzung von mir) Der Essay on the Development of Christian Doctrine von 1845 [2. Aufl. 1878] ist die systematische Anwendung dieser Prüfliste auf die katholische Orthodoxie alias die globale oder Weltkirche mit dem Ergebnis, dass dieselbe alle sieben Kriterien nachweisbar erfüllt. Damit sind aber die protestantischen Ausstellungen und Einwände hinfällig. 

In diesem Zusammenhang erinnere ich ein Gespräch von besonderer Symbolkraft, das ich 1985 nach einer gemeinsamen Besichtigung der Burg Hohenzollern, des Stammsitzes der späteren lutherischen Vormacht Brandenburg-Preußen, mit einem der profiliertesten protestantischen Professoren Deutschlands führte. Als offizieller Sprecher der liberalismuskritischen lutherischen Orthodoxie verkörperte er wie kein anderer das Erbe Martin Luthers im Ursprungsland der Reformation. Auf der anderen Seite wurde ich als Leitfigur des modernismuskritischen Katholizismus der Tradition in Deutschland wahrgenommen. Wir unterhielten uns insbesondere auch über den Ökumenismus oder die ökumenische Bewegung zur Wiedervereinigung der Christen. Mein Gesprächspartner machte dazu die freimütige Aussage: „Es ist theologisch klar, dass Ökumene für die protestantischen Bekenntnisse im Wesentlichen nur bedeuten kann, zur römisch-katholischen Kirche zurückzukehren.“

Dieselbe Überzeugung formuliert und vertritt Gottfried Wilhelm Leibniz (16461716), der bedeutendste Universalgelehrte der Neuzeit, welcher der Wiedervereinigung der Konfessionen einen großen Teil seiner Denkarbeit und praktischen Tätigkeit widmete. Das dokumentiert durchgängig die Leibniz-Edition Reihe IV: Politische Schriften, 9 Bde., Berlin 19832019: "Der Begriff des Politischen wird in Reihe IV weit gefasst, sodass er nicht nur Leibniz' Tätigkeit für die ... Politik Hannovers, für Kaiser und Reich und in der europäischen Mächtepolitik umschließt", sondern auch "kirchenpolitische Interventionen im ökumenischen Geist" (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Herausgeber).

SRI: Der zivilisatorische Standard der Welt

Das opus magnum des Vaters der Sozialgeschichte

Der Historiker und Theologe, der wie vielleicht kein zweiter in der Moderne der Frage der christlichen Konfessionen sozialgeschichtlich, kulturwissenschaftlich und politisch nachgegangen ist, ist der Frankfurter Historiker Johannes Janssen: Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Freiburg/Straßburg/München/St. Louis, 8 Bde. 18781894. Wer sich aus erster Hand zu diesem Thema orientieren will, findet hier die bis heute umfassendste Materialsammlung und -aufbereitung. An Einfluss und Verbreitung ist das 6000-seitige Monumentalwerk unerreicht: Allein bis 1905 erschienen von jedem der drei ersten Bände 18 Auflagen, von den fünf folgenden wurden 16 Auflagen ausgegeben und wegen der gewaltigen Nachfrage erschien der vierte Band sofort in Höhe von 12 Auflagen. Dazu englische und französische Übersetzungen sowie Rufe des Autors auf Lehrstühle in Washington und Rom. Alleinstellungsmerkmale des Werkes sind die sorgfältige Auswertung eines riesigen Quellenmaterials (darunter auch zahlreiche ungedruckte Akten), die vollständige Heranziehung und Diskussion der Sekundärliteratur, klare Darstellung, dazu die Einbettung in die Kulturgeschichte, wodurch Janssen zugleich der anerkannte Begründer der modernen Sozialgeschichte wurde. Die Fachwelt urteilte: „Janssen ist der erste jetzt lebende Historiker“. So Georg Waitz (18131886), der Nestor der deutschen Verfassungsgeschichte, Mitbegründer der im 19. Jh. weltweit führenden Göttinger Historischen Schule sowie Präsident der Monumenta Germaniae Historica (MGH). Auch auf protestantisch-theologischer Seite war man der Meinung: "Die landläufige populär protestantische Geschichtsschreibung über das Reformationszeitalter ist jedenfalls von jetzt ab unmöglich geworden“ (L. Freytag im Berliner Central-Organ für die Interessen des Realschulwesens 1885, 39). Dies sollte ebenso paradoxe wie weitreichende Folgen haben, insofern die Lutheraner der USA ihren führenden, aus Zellerfeld / Harz stammenden Publizisten Hugo Klapproth (18481919) mit der Arbeit an einer großangelegten Widerlegungsschrift beauftragten, die diesen aber von Janssens faktenbasierter Korrektheit und Schlüssigkeit überzeugte, so dass er katholisch und Schriftleiter von Der Wanderer wurde, der ersten und bedeutendsten Wochenzeitung der Römisch-Katholischen Kirche der USA. Als Nestor der katholischen Publizistik Amerikas bahnte er seinem Glauben den Weg zur weltanschaulich und auch demographisch dominanten gesellschaftlichen Kraft der USA in der ersten Hälfte des 20. Jh., bis diese Entwicklung mit dem II. Vatikanischen Konzil abrupt abbrach, worauf Klapproths Nachfahren und -folger mit dem Philosophen Dietrich von Hildebrand 1967 The Remnant gründeten, das publizistische Flaggschiff der katholischen Traditionsbewegung der USA.

Den Anstoß zu diesem Werk aus orthodox-katholischer Perspektive gab übrigens Janssens Freund, der Stadtarchivar und Bibliothekar der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main Johann Friedrich Böhmer (17951863), nachdem Janssen neben mehreren Monographien das erstrangige Quellenwerk Frankfurts Reichskorrespondenz (13761486; 2 Bde., 1863/1872) herausgegeben hatte. Janssen schrieb später auch Böhmers (von Leopold von Ranke hochgelobte) Biographie: Johann Friedrich Böhmer’s Leben, Briefe und kleinere Schriften (3 Bde, Freiburg 1868). Ranke war ansonsten der große protestantische Gegenpart Janssens mit Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (18391847), welche freilich nicht annähernd so viele Auflagen erzielen oder dasselbe Interesse wecken konnte wie Janssens opus magnum. Dessen 8. Band ist im Übrigen immer noch eine der ausführlichsten Quellenerschließungen und Darstellung der Behandlung von Okkultismus, Schwarzer Magie und Hexerei im 16. Jahrhundert.

Janssens bis heute emotionalen Aufruhr verursachende Bilanz ist diese: Durch die anarchischen Wirkungen der Reformation einschließlich fortgesetzter Bürgerkriege und Hochverrats wurde nicht nur die politische Einheit und Vormachtstellung des Hl. Römischen Reiches und damit Deutschlands gebrochen, sondern auch der wirtschaftliche, nicht zuletzt auf Heilsbronn Münster Epitaph Schwanenritter Georg Sack Andreas Praefcke CC BY 3.0Hochtechnologien gründende Wohlstand des Landes, ein höchstentwickeltes Bildungssystem, die kirchliche, bürgerliche und bäuerliche Freiheit und ein durch vorhandene Misstände nicht wesentlich beeinträchtigter hoher ethischer und spiritueller Standard. (Zusätzliche Ursachen für diese Entwicklung erkennt Janssen im Frühkapitalismus und der Ersetzung der bisher in Harmonie mit dem Kanonischen Recht geltenden germanischen Rechtssammlungen durch das profane Römische Recht.) Die Reformation ist wissenschaftsphilosophisch, ethisch, theologisch, politisch und kulturgeschichtlich nicht zu rechtfertigen, sondern disqualifiziert sich selbst nach zeitgenössischen wie modernen Maßstäben als in der Konsequenz amoralisch und zerstörerisch. [Foto links: Epitaph des Ritters Georg Sack (+ 1483) in der Zistenzienserabtei Heilsbronn, der architektonisch exklusiven Hauskirche und Grablege der Hohenzollern. Er war Mitglied des von Kurfürst Friedrich II. von Hohenzollern 1440 in Abstimmung mit dem Römischen Oberhirten Nikolaus V. gegründeten geistlich-weltlichen Schwanenordens alias der Gesellschaft Unserer Lieben Frauen mit Sitz in Brandenburg und Ansbach. Die Gesellschaft verkörperte im 15. Jh. die moralische und spirituelle Elite des Adels Deutschlands und benachbarter Nationen mit dem Ziel "Gottesfurcht und redlichen Sinn zu verbreiten [...] durch tätige Übung des christlichen Glaubens, durch Werke der Liebe und Barmherzigkeit und ein dem heiligen Ernste und der wahren Ehre zugewandtes Leben"]

Dies ist, so Janssen, nicht nur das Urteil neutraler Beobachter oder Gegner. Sondern auch und besonders die Vertreter und Anhänger der Reformation selbst, angefangen mit den ersten Autoritäten Luther, Melanchthon etc. kommen völlig desillusioniert in zahlreichen Zusammenhängen und bei vielen Anlässen zu demselben Urteil. Janssen bringt dazu eine erdrückende Fülle von Originalzitaten: "Die, so da sollten rechte Christen sein, weil sie das [neue] Evangelium gehöret, die sind viel ärger und unbarmherziger als zuvor" [Luther: Werke 14, 389; zit. Janssen a.a.O. II, 302]. Besonders erschütternd sind die zahlreichen Belege für die besonders von Luther oft angesprochene Verachtung der Reformatoren und Gemeindevorsteher selbst und besonders abgrundtief ihrer Frauen und Kinder seitens der eigenen protestantischen Gemeinden und Fürsten sowie deren Minister und Beamten. Janssen (VII, 594595; VIII, 320—325): „Schon im Jahre 1523 hatte Luther seine Umgebung mit Sodom und Gomorrha verglichen“, was seitdem sein und anderer Reformatoren stehendes Stereotyp für das sittliche Profil der reformierten Gemeinden wurde. „‚Wir sind‘, äußerte er zwei Jahre später, ‚zum Spott und zur Schande aller anderen Land geworden, die uns halten für schändliche, unflätige Säu [ohne ...] Vernunft noch Weisheit‘ [...] Für die Folgezeit lassen sich immer ernstere und bitterere Klagen Luthers von Jahr zu Jahr nachweisen [...]: Alle Verhältnisse seien jetzt umgekehrt [...,] ‚daß fast alle Laster ... itzt zur Tugend worden [...] Ich habe wegen Deutschlands beinahe alle Hoffnung aufgegeben‘“ (ebd. 362, 366, 370). Luther: "Hätte ich diese Ärgernisse vorhergesehen, so hätte ich nimmermehr angefangen" (VIII, 366)

In Folge eine Skizze und Diskussion der zentralen Thesen des Werkes. Dessen erster Band bietet eine umfassende Sozial- und Kulturgeschichte des orthodox-katholischen Deutschland im 15./16. Jh. bis zur Reformation. Janssen geht korrekt davon aus, dass die deutsche politische und soziale Geschichte nur im Rahmen des Heiligen Römischen Reiches / Sacrum Romanum Imperium (SRI) und damit geschichtstheologisch zu fassen ist.

Theologische Geopolitik

Das Heilige Römische Reich als politische Tradition Deutschlands ist das Resultat einer dreifachen Transformation bzw. Translation des Römischen Reiches: Die christliche Transformation unter Kaiser Konstantin den Großen (ab 313) Die Erste Lactantius Mosaik 4.Jh gemeinfreiÜbertragung (translatio imperii) des Christlichen Römischen Reiches auf das Reich der Franken und das Kaisertum Karls des Großen (800) Die Zweite Übertragung (translatio imperii) auf das Ostfrankenreich, d.h. Deutschland und das Kaisertum Ottos des Großen und seiner Nachfolger (962). Für alle Menschen Deutschlands und Europas im Berichtszeitraum ist dies das zentrale Selbstverständnis des Landes und seiner Geschichte von Anfang an. Die hier ins Relief tretende verfassungsrechtliche Situation ist kein künstlicher Überbau, sondern Anerkennung einer sehr realen Basis. [Bild links: Zeitgenössisches Mosaik des 4. Jh. des Rhetorikers und Theologen Lactantius (250320 n. C.), des verfassungsrechtlichen Beraters Kaiser Konstantin des Großen und Erzieher seines Sohnes Crispus in Trier. Er ist der Vordenker und Gestalter der christlichen Transformation des Römischen Reiches]

Die realpolitische Basis ist einmal, dass sich Eliten und Bevölkerungsmehrheit des Römischen Reiches seit dem 4. Jh. zur katholischen Orthodoxie bekannten; ab 380 bekennt sich auch der Römische Staat offiziell zur Katholischen Religion. Zum anderen, dass die Germanen als der große geopolitische Gegner Roms in der Spätantike nach und nach organisch zum Träger des Römischen Reiches wurden: Die Rheinarmee mit der Hauptmasse des römischen Heeres war ab 357 n. C. bis in die höchsten Ämter der Militärhierarchie germanisch. Dasselbe gilt für die Ende des 4. Jh. weithin aus Goten bestehende Orientarmee. Aber bereits in den Bürgerkriegen des Vierkaiserjahres 69/70 n. C. sind starke germanische Truppenverbände im Römischen Heer allgegenwärtig, wie Tacitus' Historien zeigen. Ein amüsantes, aber sprechendes Detail ist, dass der Oberbefehlshaber der Rheinarmee und spätere Generalstabschef unter Kaiser Vitellius, Aulus Caecina Alienus, nach germanischer Mode sich in Hosen und Mantelumhang mit Schottenmuster kleidete. Als er auch bei offiziellen Anlässen und Besprechungen den togagewandeten Senatoren so entgegentrat, löste dies 69 n.C.noch einen gesellschaftlichen Eklat aus (Tacitus: Historien II, 20). Spätestens seit 303 unter Diokletian handelt es sich dann um ein vertrautes Erscheinungsbild, da sich sich die römischen Truppen und Offiziere zunehmend aus Germanen rekrutieren.

Seit 438 sind praktisch alle militärischen Oberbefehlshaber (magister militum) Germanen. Seit dem ersten germanischen Kaiser Johannes Primicerius 423 haben Germanen immer öfter und schließlich exklusiv die politischen Führungspositionen (patricius Romanorum) inne wie der Wandale Stilicho, der Westgote Theoderich, der Heruler Odoaker und der Ostgote Theoderich der Große, welche faktisch Kaiser des Westreichs sind. Sie alle verstehen sich als Repräsentanten, Fortsetzer und Erneuerer des Römischen Reiches, welches für sie das definitive Weltreich und der Inbegriff der Zivilisation ist. Sie alle identifizieren sich mit Vergils Kernaussage im römischen Nationalepos Aeneis: "Du aber Römer gedenke zum Reiche zu fügen die Völker. Darin sei Meister: die Sitte des Friedens zu pflanzen, die Unterworfenen zu schonen, doch zu brechen den Trotz der Empörer."  Vgl. das gründliche und umfassende Werk von Alfred von Halban: Das Römische Recht in den Germanischen Volksstaaten, 3 Bde., Breslau 1899 [repr. 2018].

Das wird heute in der Geschichtsforschung allgemein so gesehen: "Die germanische Welt" ist, so das Leitmotiv des prominenten amerikanischen Mediävisten Patrick Geary: Die Merowinger, München 1996, 7, "vielleicht die großartigste und dauerhafteste Schöpfung des militärischen und politischen Genies der Römer." Gearys internationales Erfolgsbuch bilanziert diese sich immer mehr vertiefende Symbiose und Verschmelzung von Römern und Germanen, aber auch Kelten. Im Zentrum stehen dabei die Franken der Frühzeit (Merowinger), welche später Träger par excellence dieser Symbiose im Heiligen Römischen Reich sein werden (siehe in Folge).

Der Mutterschoß der Völker

In der Völkerwanderung 400—650 n. C. wird die Germanisierung des Römischen Reiches endgültig: Aus der Verbindung der Goten, Alemannen, Franken, Sachsen etc. mit den keltischen und romanischen sowie später auch slawischen Vorbevölkerungen in Italien, Spanien, Germanien, Gallien, Britannien, Osteuropa entstehen die europäischen Nationen. Auch die germanische Völkerwanderung ist aus völkerkundlicher und weltgeschichtlicher Warte keine irrationale, unorganische Expansion. Sie wiederholt exakt die keltische Völkerwanderung und Expansion 400—150 v. C. — mit demselben Herkunftsraum und denselben Zielregionen. Der Herkunftsraum ist beide Male der "unerschöpfliche Mutterschoß der Völker", wie ein geflügeltes Wort der Römer über Germanien lautete: Bei den Kelten ist das Stammland Süddeutschland, bei den Germanen ist es Mitteldeutschland. (Das heutige Sachsen-Anhalt, Thüringen und südliche Niedersachsen ist nach der jüngsten Forschung überhaupt die Urheimat aller Germanen einschließlich Skandinaviens, siehe etwa Euler / Bardenheuer: Sprache und Herkunft der Germanen, London / Hamburg 2009.) Die Zielregionen sind bei beiden Expansionen ebenfalls praktisch dieselben, namentlich Gallien, Britannien, Italien, Spanien, Balkan.

Die schwedischen Wikinger oder Waräger, eine Nachhut der Völkerwanderung, begründen und organisieren ab 862 n. C. den russischen Staat mit der Hauptstadt Kiew: Die Bezeichnung 'Russen' ist ein finnischer Name für 'Schweden'. Sie christianisieren ab 950 Russland durch deutsche Missionare und griechische Mönche in Kooperation mit Kaiser Otto dem Großen und dem oströmischen Kaiser und stellen bis in die Neuzeit den Adel und das Herrscherhaus. Zugleich stellen sie die Elitetruppe und damit Schwert und Schild der Ostkirche und des oströmischen Reiches, dessen Existenz sie in zahllosen Siegen für Jahrhunderte sichern. In einem nicht nur bildlichen, sondern buchstäblichen Sinn ist Germanien mithin das genetische und kulturelle Mutterland der Völker Europas — und mittelbar auch der europäisch geprägten Nationen Nord- und Südamerikas sowie Australiens.

Diese beeindruckende Wirkungsgeschichte verdankt sich nicht nur der weit überdurchschnittlichen militärischen Leistungsfähigkeit und kulturell-technischen Überlegenheit, welche bereits die 3600 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra aus dem Entstehungszentrum und Kernraum Germaniens spiegelt, "die weltweit älteste bisher bekannte konkrete Darstellung des Kosmos [... welche] jahrzehntelange präzise Himmelsbeobachtungen und einen hohen Abstraktionsgrad voraussetzt" (Dokumentationszentrum Arche Nebra). Sie verdankt sich auch moralischer Kraft: Von Anfang an sprechen Zeitbeobachter und Geschichtsschreiber der germanischen Welt überdurchschnittliche Ehrenhaftigkeit und sittliche Lauterkeit zu 

Das klassische Zeugnis hierfür kurz nach der Zeitenwende ist Tacitus' Germania, selbst wenn man eine gewisse Idealisierung in Rechnung stellt. Später, am Ausgang der Antike, bildete sich Gregor der Große ein ähnliches Urteil: Es motivierte sein Engagement für die Missionierung der Angeln und Sachsen Englands und mittelbar Norddeutschlands. In Folge werden wir sehen, dass sich diese Wahrnehmung ungebrochen bis in das 15. Jahrhundert und weiter bis heute durchhält. Sie ist inzwischen auch forschungsstatistisch bestätigt. Siehe Simon Gächter / Jonathan F. Schulz: Intrinsic honesty and the prevalence of rule violations across societies. In: Nature 531 (2016, 24.03), 496—499. Die groß angelegte Studie zeigt: Deutschland ist mit fast  90 % "fully honest people" globaler Spitzenreiter hinsichtlich moralischer Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit. Und ebenso hinsichtlich zivilisatorischer Leistungsfähigkeit sowie sozialer Gerechtigkeit. Beides bedingt sich wechselseitig. Denn einmal "both the quality of institutions, as well as culture ... are highly significantly (and likely causally) correlated with PRV [Prevalence of Rule Violations]." Und zum anderen "our results suggest that institutions and cultural values influence PRV" und "impact on people's intrinsic honesty". Ähnlich positive Resultate zeigen alle germanisch geprägten Nationen insbesondere Mitteleuropas. Es ist mithin nicht zufällig, sondern folgt aus der Logik der Dinge, dass dieses Land und dieses Volk in der Mitte Europas das Kernland der messianischen Zivilisation wird, als Verwalter und Gestalter des globalen Rechtsraumes des seit 380 n. C. christlichen oder Heiligen Römischen Reiches. Seit der Spätantike fusionieren hier — und parallel im oströmischen, byzantinischen Reich — griechische Wissenschaft, römisches Recht und prophetische Offenbarungsreligion zu einer Zivilisation der Exzellenz. Sie ist die einzige wirkliche globale Leitkultur.

Die aus dem heutigen Nordrhein-Westphalen stammenden Franken sind dabei die mächtigste und ursprünglich einzige orthodox-katholische Führungsnation, welche seit dem 4. Jh. durch Vertrag und Eroberung die römische Verwaltung in Germanien und Gallien und im 5./6. Jh. auch die römischen Legionen im Westen geschlossen übernimmt. Ihre im 7./.8. Jh. unter Karl Martell, Pippin und Karl dem Großen um Italien erweiterte nahtlose Fortsetzung des Römischen Westreiches macht die Krönung Karls als Römischer Kaiser 800 transparent. Der entscheidende Vordenker und diplomatische Wegbereiter dieses fränkischen, näherhin karolingischen Imperiums des Westens war der Apostel Deutschlands Winfried Bonifatius. Auch diese Entwicklung wurde seit der Zeitenwende angebahnt, als sich das militärisch-politische Machtzentrum des Römischen Weltreiches zu den gewaltigen Legionslagern in Rhein-Main und am Niederrhein verlagerte, den größten Militärbasen der Welt. Schon bevor im 3./4. Jh. Trier auch zum offiziellen Regierungssitz des Römischen Reiches und damit der einzigen Supermacht des Planeten wurde, waren nicht selten in Mainz und Köln, den Hauptstädten von Ober- und Niedergermanien, die politischen Weichen für den römischen Staat und Senat gestellt worden.

Idealtypisch lässt sich diese Kontinuität an dem Weltkulturerbe Regensburg (Castra Regina) ablesen, das von Kaiser Mark Aurel 165/175 als Hauptquartier der III. Italischen Legion gegründet wurde. Die Amtsgebäude des Oberbefehlshabers (Prätorium und Principia) in der monumentalen Festung waren zugleich neben Augsburg Regierungssitz Raetiens (Bayern mit Tirol und Ostschweiz). In der Spätantike bildete Raetien zusammen mit Nordtialien sogar eine gemeinsame Verwaltungseinheit (Diözese, Präfektur), so dass hier die römisch-germanische Verschmelzung auch geographisch und politisch (wie übrigens auch städtebaulich) ins Relief tritt. Nach dem Abzug der Truppen blieb die Stadt unverändert Hauptstadt der um germanische Markomannen und Alemannen vermehrten keltisch-römischen Bevölkerung Bayerns: "Metropolis der Bajuwaren" (Arbeo von Freising); der Amtssitz (Prätoriumspalast) des Römischen Statthalters blieb der Amtssitz, die Herzogspfalz der bayerischen Herzöge der Agilolfinger; die 8 Meter hohe und 2 Kilometer lange Festungsmauer mit 30 Türmen war schon in spätrömischer Zeit zugleich Stadtmauer für die Zivilstadt: "Auf, an und um die kyklopischen Festungsmauern der Castra Regina hat sich die Konsolidierung eines bayrischen Staatsgebildes vollzogen." (Gauer) Im 9./10. Jh. machten die karolingischen und ottonischen Könige und Kaiser Ludwig der Deutsche, Arnulf von Kärnten und Heinrich II. diese größte rechtsrheinische Stadt zur ersten Hauptstadt Deutschlands und das Prätorium zum bedeutendsten Königspalast (Pfalz) Süddeutschlands. Ab dem 14. Jh. wurden Prag und Wien deren Mutterstadt Regensburg in wichtigen Hinsichten ist deutscher Regierungssitz, während dieses selbst Ort häufiger Reichstage und ab 1663 bis 1806 Sitz des ersten deutschen Parlamentes blieb (Immerwährender Reichstag).

Die Römischen Tempel wurden zu den ersten Kirchen der Stadt wie St. Kassian und besonders die den Römischen Junotempel ablösende Stiftskirche U.L. Frau zur Alten Kapelle, die Mutterkirche Bayerns im Regierungsviertel bzw. der Herzogspfalz. Die maßgeblichen karolingischen und ottonischen Kaiser Karl der Große, Ludwig der Deutsche und Heinrich II. bauten sie zu einem Zentralheiligtum des SRI aus mit einem seit 1002 bis heute bestehenden kaiserlichen Kollegiatstift. Hier empfing der erste Bayernherzog Theodo im 6. Jh. die Taufe. Dazu traten bereits in merowingischer Zeit, seit dem 8. Jh., vier große, die europäische Zivilisation von Osteuropa bis Großbritannien prägende Reichsabteien, unter angesehenen Äbten und Äbtissinen aus den ersten Familien Deutschlands (Niederstift Oberstift St. Emmeram und später Prüfening): Von hier wurde Bayern sowie Österreich, Böhmen, Slowenien und Ungarn christianisiert. Das kunstgeschichtlich weltberühmte Schottenkloster St. Jakob in Regensburg wurde Mutterkirche zahlreicher irischer Klöster in Deutschland und später ein theologisches und wissenschaftliches Zentrum der irischen und schottischen Kirche.

Von Elly Heuss, Gattin des ersten Bundespräsidenten, ist das Wort überliefert, sie erfahre Miltenberg am Main mit dem bekannten historischen Marktplatz als Herz Deutschlands. Nun, ich bin praktisch in Miltenberg aufgewachsen, habe aber den Alten Kornmarkt als römisches, bayrisches und königliches Zentrum Regensburgs in den 1970/1980er Jahren oft als Parkplatz genutzt und gefunden, dass die wie Prag sich im Goldton präsentierende Regensburger Innenstadt dieses Prädikat verdient wegen eines so dichten Fluidums, das ich ähnlich nur in Frankfurt, Paris und Florenz gespürt habe. Der Kornmarkt ist das Forum des römischen und Turnierplatz des königlichen Regensburg, umgeben von Prätorium / Herzogshof / Königspfalz, Alter Kapelle, Niedermünster und im weiteren auch Dom.

Bei der Teilung des Frankenreiches geht das Römische Kaisertum im 10. Jh. auf das mächtigere Ostfrankenreich resp. Deutschland über, das sich seit Friedrich Barbarossa als 'Heiliges Römisches Reich' definiert. Wir haben bereits gesehen, dass diese Entwicklung die tatsächlichen Kräfteverhältnisse spiegelt, insofern das keltische resp. germanische Mitteleuropa das genetische und kulturelle Mutterland der meisten anderen Nationen Europas ist und damit unserer Zivilisation überhaupt. Die von germanischer Seite gegenüber dem bürokratischen und zentralistischen Römischen Reich der Spätantike eingebrachte spezifische Differenz ist dabei der freiheitliche und föderative Charakter des SRI als eines um eine Führungsnation gruppierten Staatenbundes. 

"Liebling seines Gottes" (Holzhauser)

Die öffentliche Meinung wie die Eliten teilten die theologisch-politische Grundüberzeugung, dass das der Heiligen Römischen Kirche / Sancta Romana Ecclesia (SRE) in der politischen Sphäre korrespondierende und partnerschaftlich zugeordnete SRI das universell orientierte Weltreich des neutestamentlichen Israel ist, das die nationalen Königswürden durch eine koordinierende und höherrichterliche Funktion ergänzt. Erkenntnis- und handlungsleitend sind hierfür nicht zuletzt die geschichtstheologischen Visionen des Buches Daniel (Kap. 2 und 7) zum Römischen Reich als dem letzten, definitiven und prototypischen Weltreich, das in einem säkularen Ringen gegen den Messias kämpft, von ihm besiegt wird und sich in den Dienst des messianischen Reiches, d.h. des christlichen Israel, stellt: "O Gott, du hast das römische Kaisertum gegründet, damit das Evangelium des ewigen Königs verkündet werde." (Messe für den Römischen Kaiser, Schlussgebet) Das SRI unterliegt somit denselben theologischen, d.h. transzendenten, übernatürlichen Prinzipien politischen Handelns wie das alttestamentliche Israel: Erfolg / Segen und Scheitern / Fluch hängen entsprechend Deuteronomium 28 von der Treue oder Untreue zu diesen Prinzipien ab. Ein Leitmotiv der sehr berühmten Trauerrede St. Ambrosius' auf den Freund und Christlichen Römischen Kaiser Theodosius den Großen ist: "Der Glaube des Kaisers ist der Sieg des Heeres". Die von den Propheten Hosea, Micha, Jesaja, Jeremia, Ezechiel etc. formulierte Metatheorie über Bedingungen, Sinn und Ziel von Geschichte und Politik ist a fortiori normativ für das christliche Israel

Ein erstrangiger Beleg für dieses Weltbild ist die sehr berühmte Bußrede an Deutschland des prophetischen Presbyters, Reformators und Ordensgründers Bartholomäus Holzhauser (16131658). Er war der spirituelle Mentor Johann Philipp von Schönborns des Weisen von Mainz (1605—1673), Vorsitzender des nach Rom größten Metropolitanverbandes der Weltkirche. In Verbindung mit der Leitung und Moderation des Kurfürstenkollegiums und Reichstages des Heiligen Römischen Reiches ist Johann Philipp die nach dem Apostolischen Stuhl bedeutendste und ranghöchste Autorität der messianischen Ära der Epoche. Holzhauser ist damit Berater und Vordenker im Zentrum der Religion und Weltpolitik und nicht unbeteiligt daran, dass Zeitgenossen und Nachwelt Johann Philipp von Schönborn die Ehrentitel 'deutscher Salomon' und 'Vater des Vaterlandes' zuerkennen. Siehe dazu auch in Folge.

Die genannte Bußrede Holzhausers von 1644 richtet sich an den "König [Kaiser] von Österreich und Feldherrn des Bundes [im Dreißigjährigen Krieg], an die Kurfürsten und Fürsten von Deutschland". Sie entfaltet diese Prämissen: (1) In der messianischen Ära des Neuen Bundes hat Deutschland dieselbe Stellung wie Israel in der alttestamentlichen Ära, nämlich das in besonderer Weise auserwählte und geliebte Volk Gottes zu sein. (2) Deswegen fordert Gott von Deutschland ein überdurchschnittliches moralisches Profil und einen besonders starken und konsequenten Glauben bzw. Vertrauen auf ihn allein, privat wie innen- und außenpolitisch. (3) Unter der Prämisse (2) garantiert Gott einen unverbrüchlichen und besonderen Schutz und Segen. (4) Glaubensabfall und moralische Verderbnis wiegen daher hier besonders schwer und bedeuten eine besonders tiefe Zerrüttung: corruptio optimi pessima. (5) Die theologische Evaluation von Politik und Geschichte Israels und der Völker des Alten Orient durch die Propheten Micha, Jesaja, Jeremia und Ezechiel gilt eins zu eins und a fortiori für die Geschichte Deutschlands und der modernen Welt in der von den Propheten angesagten christlichen Ära. Hier einige Kernsätze der Rede:

"So spricht der Herr, der getreu und wahrhaftig ist [...]: Wach auf, o wache auf, mein geliebtes Deutschland! Reinigt euch vom Sauerteig der Sünde, seid einträchtig, stärkt eure Hände, ruft die Gemeinde zusammen, heiligt die Priester, reinigt die Mauern der Gotteshäuser, beseitigt Unzucht und Ehebruch und Raub, Unreinheit und den MIßbrauch des Heiligen [...] Verbannt ... die falsche Weltklugheit, die Mutter aller Übel, die ihr von Fremden gelernt habt! [...] Zeigt Brudersinn, wirkt das Gute, dann werde ich dir zum Vater, zum Gott, zur Mauer, zum Bollwerk, zur Tapferkeit, zur Tüchtigkeit, zur Kraft, und deinen Feinden zur Schwäche werden".

"Die brüderliche Gesinnung eurer Väter habt ihr aufgegeben, eure Herzen gegen ihre Natur zwiespältig gemacht [...] Eure Kinder erzieht ihr in der Heuchelei eines fremden Volkes [...] in allem, was mir verhaßt ist, bist du fremden Nationen ähnlich geworden. Wider die Natur sind Wahrheit und Aufrichtigkeit von dir gewichen."

"So werdet ihr zu mir zurückkehren: ... Schließt ein neues Bündnis, legt mir ein Gelübde ab, daß ihr mir die sieben Tiere [= Vorherrschende Erscheinungsformen der sieben Hauptsünden] ... zur Sühne und zum Opfer und zur Weihe tötet! Dann will ich deinen Thron erheben, dir die Völker untertan machen, deine Feinde der Schande preisgeben [...] Heiligt mir den Krieg, tut es wegen meines Hauses und wegen der Ehre meines Namens! Verdreifacht die Heere, um das Vaterland und den Glauben ... eure Kinder und eure Gattinen in meinem Namen von euren Feinden zu befreien."

"Auch die Gotteslästerungen wirst du unterdrücken und keine Zauberer, keine Hurer, keine Räuber, keine viehischen Menschen und religiösen Heuchler in deiner Mitte dulden; denn an Gottlosen habe ich kein Wohlgefallen [...] Dann wird mein Volk heilig sein, eure Söhne heilig und eure Töchter unbefleckt [...] Und mein Haus wird herrlich und Deutschland eine Herrscherin, ein Schild des Glaubens und ein Liebling seines Gottes sein."

Die Zitate sind entnommen B. Holzhauser: "Deutschland wach auf!" Die berühmte prophetische Bußpredigt an Deutschland. Hrsg. und eingeleitet v. F. Ritter von Lama, Wiesbaden 1953, 31—56. Dieses Buch ist in doppeltem Sinn prophetisch, als es von dem Herausgeber Friedrich von Lama als Aktualisierung der Rede Holzhausers für die Moderne verstanden wurde, aber erst nach dem Tod von Lamas als sein Vermächtnis erschien. Als wahrscheinlich bekanntester und gründlichster Journalist und Publizist des orthodox-katholischen Deutschland, dessen Glaube und Wille der Welt der Habsburger bzw. dem Heiligen Römischen Reich galt, hatte von Lama in der nationalsozialistischen Ära ab 1937 Publikationsverbot, war 1938 im Konzentrationslager Dachau interniert, und starb 1944 im Gefängnis München-Stadelheim vermutlich an Misshandlungen.   

Zurück zu Janssen: Die Bände zwei bis fünf von dessen Geschichtswerk bringen die politische Geschichte des Jahrhunderts von der Reformation 1517 bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618. Die Bände sechs bis acht sind wiederum eine sehr umfassende Sozial- und Kulturgeschichte des (nach-)reformatorischen Deutschland. Beweisziel der Bände VI bis VIII ist der Aufweis der Gefährdung und Zersetzung eines nach den Quellen historisch einzigartigen zivilisatorischen Standards durch die Reformation.  

Deutschland: Moderator der neuen idealen Ära

Das Heilige Römische Reich definiert sich als Leitkultur der idealen menschlichen Gemeinschaft rechtschaffener Nationen, welche zum spirituellen Ziel hat, den Namen des Herrn anzurufen und ihm zu dienen. Es ist implizit und potentiell seit der Zeitenwende und explizit und aktuell seit der Konstantinischen Wende die Vormacht der Vereinten Nationen des christlichen Israel in der rechtlichen, politischen, militärischen und wirtschaftlichen Sphäre. Der christliche Römische Kaiser ist Sachwalter und Repräsentant des Messias, der „König der Könige“ (Apokalypse 19, 16) und „Herr der Zeiten und Epochen“ (Osternachtritus) ist. Wie der jeweilige Bischof von Rom der spirituelle Moderator des christlichen Israel ist, so ist der jeweilige König von Deutschland der politische Moderator des christlichen Israel. Beim Krönungsritus in Rom resp. Aachen und später in Frankfurt am Main wurde der König mit den priesterlichen Gewändern bekleidet, mit Chrisam gesalbt und erhielt aus der Hand der Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier während der Hl. Messe die Staatsinsignien Zepter und Schwert. 

Janssens Beweisziel in Band I ist, dass das SRI damit auch der zivilisatorische Standard der Welt ist, die unverzichtbare Nation und ein Licht für die Welt, wie der italienische Nationaldichter Dante ins Relief hebt. Vgl. das bereits oben zitierte Axiom: "Durch ihn [= Jesus Christus] wurde eine neue universale Kultur begründet, die christliche Kultur, unvergleichlich höher als jene, die der Mensch bis dahin mit Mühe und nur in einigen wenigen bevorzugten Nationen erreicht hatte [... Sie ist] die einzig wahre menschliche Zivilisation." (Pius XI: Divini Redemptoris, 19.03.1937) In der in Rede stehenden Epoche verkörpern diese Identität im Großen wie in jedem einzelnen politischen Vorgang namentlich die Kaiser Maximilian I. (14861519, vgl. Janssen a.a.O. I, 515563) und natürlich Karl V. (15161556) und sein Bruder Ferdinand I. (1531/15581564).

Zum österlichen Höhepunkt des Kirchenjahres des christlichen Israel gehören die feierlichen Kaiser Ferdinand IKarfreitagsfürbitten, deren vierte dem Römischen Reich und dem regierenden deutschen König und Römischen Kaiser gilt. Sie lautete (bis 1955): "Lasset uns beten für unseren allerchristlichsten Kaiser Maximilian I. [resp. Karl V. resp. Ferdinand I. etc.], damit unser Gott und Herr ihm alle unzivilisierten Nationen untertan mache zu unserem immerwährenden Frieden. Allmächtiger ewiger Gott, in dessen Hand alle Autoritäten und die Rechtsordnungen aller Reiche sind: schaue gnädig auf das Römische Reich; damit die Völker, welche auf ihre unzivilisierte Wildheit vertrauen, durch die Macht Deiner Rechten gebändigt werden. Durch unseren Herrn Jesus Christus, Deinen Sohn, der mit Dir lebt und herrscht in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen." [Bild rechts: Der deutsche König und spätere Kaiser Ferdinand I., Gemälde von Hans Bocksberger dem Älteren, ca. 1550] 

Namentlich unter dem deutschen Staatsoberhaupt und Habsburgerkaiser Karl V. ist das SRI als Schwert und Schild der globalen Zivilisation und des christlichen Israel zu greifen, so Janssen. Der langjährige päpstliche Gesandte bei der deutschen Regierung Castiglione nennt ihn trotz mancher auch von Karl V. zu verantwortender Spannungen mit Castigliones Auftraggeber "den besten Christen, den er unter Weltlichen und Geistlichen kenne" (J. Lortz: Die Reformation in Deutschland II, Freiburg 1982 [1. Aufl. 1939/40], 190). Nach Lortz, dem meistgelesenen Historiker der Reformation im 20. Jh., ist er "der eigentliche, der einzige wahre Gegenspieler des ... Reformators Luther" (a.a.O. 1982, 289): Karl V. ist "mit Bewußtsein Vogt und Schützer der Kirche und Führer der Christenheit gegen Häretiker und Ungläubige" (ebd. 68). Im Blick auf die Reformation heißt dies, so Lortz: "Das Bewußtsein seines Amtes und seiner Lebensaufgabe trägt ihn: weltlicher Herr der in Not geratenen Christenheit; verantwortlicher Mitleiter der Kirche aus dem Recht und der Pflicht des von der Kirche geweihten Kaisertums [...] Der geheiligten Würde entsprach die überragende Persönlichkeit. Dem Gewissensanspruch der protestantischen Fürsten setzt er 1530 wie sonst unerbittlich sein Gewissen und seine, wie er sagt, größere Verantwortung und sein Seelenheil entgegen: sein machtvolles Herrscherbewußtsein." (ebd. 290291)

Der persönlich und politisch überdurchschnittlich selbstlose, demütige und großmütige König war durch die Personalunion Deutschlands mit Spanien der mit Abstand mächtigste Mann der Welt. Er verfügt über die modernste und stärkste [= spanische] Armee der Welt, während die spanische Wissenschaft, Gesellschaft, Mode und Literatur Europa kulturell dominiert. Der spanische Hochschulstandort Salamanca war die innovativste Eliteuniversität der Welt. Lope de Vega, Calderon und Cervantes sind die ersten Autoren und Regisseure der Zeit, deren Inspiration auch Shakespeare teilt (nach aktuellem Forschungsstand Absolvent des von Spanien finanzierten englischen Exilkollegs von Douai und Organisator des katholischen Widerstands im elisabethianischen England): "Das 16. Jh. war geprägt vom Bewusstsein der absoluten Überlegenheit ... der spanischen Kultur", so der bekannte NS-Widerstandskämpfer und jahrzehntelange Lateinamerikaberater der Deutschen Bundesregierung Prof. Hermann M. Görgen (500 Jahre Lateinamerika, Münster / Hamburg 1992, 19). Die einschlägigen Daten und Taten:

  • Karl V. führt 1524/25 eine europaweit vorbildliche Sozialgesetzgebung für die gesamten Niederlande ein,
  • welche sein Sohn Philipp II. zu einer "Sozialgesetzgebung" für das gesamte spanische Weltreich erweitert, welche mit "Arbeiterkrankenhäusern [...] Gewinnbeteiligung der Arbeiterschaft sowie 8-Stundentag ... den sozialen Errungenschaften Europas um Jahrhunderte voraus" ist (Görgen a.a.O. 69);
  • er ächtet auf dem Reichstag zu Worms 1521 den von aufständischen Reichsrittern instrumentalisierten häretischen Ordenspriester und Theologieprofessor Martin Luther als Verfassungsfeind und Bedrohung der nationalen Sicherheit;
  • er besiegt das mit den Türken und den protestantischen Fürsten gegen das SRI verbündete Frankreich viermal souverän;
  • er lässt 1529 den 120.000 Mann starken türkischen Belagerungsring um die deutsche Regierungshauptstadt Wien unter Sultan Süleyman in einem Mythos gewordenen Abwehrkampf scheitern;
  • er wird zur europaweit gefeierten Legende, als er im Gegenzug 1535 in einer internationalen Marineexpedition die um 70 moderne Neubauten vergrößerte türkische Kriegsflotte unter dem osmanischen Großadmiral Khair ad-Din Barbarossa vernichtet
  • und Tunis erobert, das strategische Zentrum der islamischen Barbareskenstaaten Nordafrikas, die zwischen 1530 und 1780 durch Piraterie und Raubzüge an den Küsten Italiens, Spaniens und Portugals 1,25 Millionen Menschen versklaven [R. C. Davis: Christian Slaves, Muslim Masters. White Slavery in the Mediterranean, the Barbary Coast and Italy, 1500-1800, Palgrave Macmillan 2004];
  • er erlangt 1547 in Deutschland die full spectrum dominance gegen die aufständischen protestantischen Fürsten in der Schlacht von Mühlberg;
  • er autorisiert die 1. Weltumseglung durch Magalhaes 1519/21 unter der Flagge des Heiligen Römischen Reiches,
  • sowie die umfassendsten Entdeckungsfahrten der menschlichen Geschichte,
  • welche mit der Erforschung Amerikas und des Pazifiks 1/3 der Erde entschleiern;
  • leitet damit die Epoche einer einheitlichen Weltgeschichte mit weltweiter Vernetzung der respektierten Kulturen ein;
  • vergrößert sein Reich um Nord- und Südamerika sowie den Pazifikraum und somit mehr als jeder andere Herrscher der Geschichte;
  • erlangt zusammen mit Portugal die strategische Kontrolle über den Atlantik und Pazifik (Spanien) sowie den Indischen Ozean (Portugal) und damit die globale Seeherrschaft;
  • befreit Mittelamerika seit 1519 von der aztekischen Gewaltherrschaft, deren ritueller Menschenmord und Kannibalismus nach Dauer, Zahl und Grausamkeit eine „weltgeschichtlich einmalige Monstrosität“ darstellt [Der Spiegel 22/2003, 26.05.2003; Die statistischen Schätzungen aufgrund neuester archäologischer Funde bewegen sich zwischen mehreren Tausend und 50.000 Menschenopfern und mehr pro Jahr];
  • ist Mitursache für die größte Massenbekehrung der Geschichte, als 15321541 nachweislich neun Millionen Azteken um Taufe und Aufnahme in die Zivilisation des SRI bitten;
  • erntet so die Frucht seiner konsequenten Integrationspolitik, welche die amerikanischen Indianer von Kalifornien bis Chile als freie Staatsbürger "rechtlich den Spaniern in allen Lebensbereichen gleichstellt" (Görgen a.a.O. 40);
  • trifft gegen großen Widerstand mit den "Neuen Gesetzen" (leyes nuevas) von 1542/43 "beispiellose ... Maßnahmen ... für den Schutz und die Rechte der Indios" (a.a.O. 66), welche deren Versklavung, Enteignung, Einschränkung von Gewerbefreiheit und Freizügigkeit sowie Missachtung ihrer Gesetze und Bräuche mit Exkommunikation und Tod bestrafen [Görgen verbürgt sich im Übrigen dafür, dass die protestantische und angloamerikanische Hasspropaganda gegen Spanien ('schwarze Legende') ab dem 16. Jh. tatsächlich Verleumdung und psychologische Kriegführung ist. Und dass der bekannteste Kämpfer und Anwalt für die Rechte der Indios bei Karl V., Pater Motolinea, Recht hat, wenn er die Anklagen mit Zahlen indianischer Opfer bei Las Casas unwahre und realitätsfrende rhetorische Übertreibungen nennt, seitens eines inkompetenten prozess-süchtigen Geistlichen, der nie wie andere Missionare eine Indianersprache erlernt und Indianer unterrichtet habe. Indianer wie Spanier hatten anfänglich die gleiche hohe Sterblichkeitsrate aufgrund des "mikrobischen und viralen Schocks" durch wechselseitig neue unbekannte Krankheitserreger ohne Immunabwehr (a.a.O. 2931, 97102];
  • baut ab 1534 in kürzester Zeit in Amerika ein voll entwickeltes gemeinsames Bildungssystem für Indianer und Europäer auf mit Volkschulen an allen Orten, höheren Schulen sowie ab 1539 Universitäten mit indianischen Universitätsabsolventen sowie Lehrstühlen für indianische Sprachen;
  • fördert persönlich wissenschaftliche Bibliotheken und Druckereien in Amerika mit Verlagssortimenten in den Indianersprachen (a.a.O. 127);
  • veranlasst die systematische Erfassung der Indianersprachen und -kulturen durch Wörterbücher, Grammatiken, Lehrbücher und zweisprachige völkerkundliche Dokumentationen (a.a.O. 88, 115);
  • nutzt sein Patronatsrecht über die Kirche Amerikas für die Errichtung eines dichteren Seelsorgenetzes (mit Verpflichtung der Seelsorger zur Erlernung der Indianersprachen) als in Europa: durch 5000 Missionare allein im 16. Jh. und jährlich hunderte indianische Neuordinierte (a.a.O. 80-81, 115);
  • legt die Grundlage für indianische Autonomiegebiete (Reduktionen) und die späteren Jesuitenstaaten, welche als "Synthese von Stammestraditionen und europäischem Fortschritt", als "Triumph der Menschlichkeit" (Voltaire) und "Verwirklichung des Ideals der platonischen Republik" (Montesquieu) gelten (a.a.O. 93): "Keine andere Kolonialmacht [hat] sich so beharrlich und tatkräftig bemüht, den einheimischen Völkern ... eine gerechte Behandlung zuteil werden zu lassen wie Spanien" (a.a.O. 69);
  • anerkennt die indianischen Herrscherfamilien der Azteken, Mayas, Inkas etc. als ebenbürtig und räumt ihnen in Räten, Kanzleien und Kommunen der Krone den Vorsitz und in den Kirchen den Platz des Kaisers ein (a.a.O. 67);
  • garantiert durch diese Politik die Erhaltung der indianischen Sprachen, Stämme und Bevölkerungsgrößen (bis 90 % reine/teilweise indianische Abstammung gegenüber nur 1 % in den protestantischen USA) (a.a.O. 39, 7476);
  • und er ist last but not least der Anreger und Vater des Reformkonzils von Trient (15471563), der wichtigsten Kirchenversammlung des 2. christlichen Jahrtausends.

Dass Karl V. dennoch das Gefühl hatte, in zentralen Feldern gescheitert zu sein, hängt eher von höherer Gewalt und unvorstellbarem Verrat ab und sollte nicht überbewertet Karl V Isabella Rubenswerden. Kaum ein Herrscher der Geschichte hatte ein höheres Ethos und größeren Erfolg, eingeschlossen Alexander der Große, Julius Cäsar und Karl der Große: "Niemals ist die Menschheit dem Ideal der Welteinheit näher gekommen." (Görgen a.a.O. 73) [Bild links, v. Rubens nach Tizian: Karl V. mit der Gattin Isabella von Portugal, das Traumpaar der Epoche]

Eine zentrale These in Janssens Band I ist, dass die spirituelle und politische Ausnahmestellung der neuen idealen Ära des SRI sich auch auf allen Ebenen der realen Lebenswelt: wissenschaftlich, sozial und wirtschaftlich bewähren sollte, wie sich besonders gut, so Janssen, an der vorreformatorischen Epoche zeige. In diese Perspektive rückt er interessanterweise auch die Zukunftstechnologie des Buchdrucks, die die große technische Revolution der Epoche darstellt, welche von Mainz und Deutschland ausgehend durch deutsche Unternehmer und Fachleute nach ganz Europa exportiert wird, zusammen mit den neuen expandierenden Geschäftsfeldern des Verlagswesens und Buchhandels (I, 920). Ein Großteil der Buchproduktion ist theologischer und religiöser Natur, wobei die Katechismen, Bibelausgaben, Gebetbücher und Leben-Jesu-Darstellungen nicht selten "den besten Arbeiten deutscher Prosa beigezählt werden" (I, 49). In vielen Rücksichten sind sie darüber hinaus, so weiter Janssen, didaktisch besser als moderne Entsprechungen und liefern den "Beweis ..., daß für die religiöse Volksbildung damals besser als zu irgendeiner früheren oder späteren Zeit gesorgt wurde" (I, 49). 

Das 15. Jh. zeigt ferner in Deutschland, so Janssen, bis zur Reformation eine so starke, vielfältige und ästhetisch anspruchsvolle Bautätigkeit wie nie wieder: "In keiner Periode der Geschichte [... wurden] so viele gottesdienstlichen Zwecken gewidmete kunstschöne Bauwerke errichtet" (I, 143). In vielen Städten wie Frankfurt, Stuttgart, Zürich, Görlitz und Danzig stammen die Kirchen mehrheitlich aus dieser Phase. Die berühmtesten Einzelbeispiele sind der Münchener Frauendom, der Dom zu Regensburg, das Ulmer Münster und die Hauptkirche Nürnbergs St. Lorenz [Bild rechts mit dem St Lorenz Nuernberg Veit Stoß Engelsgruß gemeinfreiweltberühmten Englischen Gruß von Veit Stoß aus dem Reformationsjahr 1517] (I, 143152). Dasselbe gilt für den Städtebau und die öffentlichen Bauten wie Rathäuser, Patrizier- und Bürgerhäuser, Wehrbauten, Schlösser, wobei deutsche Architekten und Bauhütten international an der Spitze standen (I, 151). Pierre de Froissard beschreibt und bewundert 1497 die "Blüte der Städte", die "Pracht der öffentlichen Gebäude und der Privathäuser" und die gepflegten Gärten und Landschaften (I, 372373). Auch die Künste befanden sich quantitativ und qualitativ in einem historischen Zenith, so Schnitz- und Gußhandwerk, Textilindustrie, Glasmalerei, Glockenguss, Instrumentenbau. Janssen bringt das Beispiel der kleinen niederrheinischen Stadtt Kalkar, welche 1500 n. C. 16 Bildschnitzbetriebe, 13 Kunstmalerwerkstätten, zwei Glasmalereiateliers, acht Seidenstickerbetriebe zählte (I, 158159). Nürnberg wies allein 50 Goldschmiedeateliers auf und die großen Reichsstädte Nürnberg, Augsburg, Ulm, Köln, Lübeck waren überhaupt die erstrangigen Industrie- und Handelszentren Europas für künstlerische und technische Produkte inkl. Schiffbau und Wehrtechnik. Köln deklassierte jede andere Stadt Europas; Augsburg war die reichste Stadt der Welt (I, 374) und Flandern / Brabant war der technologisch, kulturell, finanzwirtschaftlich und nach Wirtschaftskraft und Steueraufkommen mit weitem Abstand führende städtische Ballungsraum Europas neben den ebenfalls zum SRI gehörenden Regionen Lombardei / Toskana (Reichsitalien). Gent [frz. Gand], die Hauptstadt Flanderns und die Heimatstadt Karls V., war größer und prächtiger als Paris, was Karl V. zu dem bekannten Bonmot veranlasste: "Je mettrai Paris dans mon gant."

Die Bauern waren wo nicht völlig frei, dann grundhörig, aber persönlich frei: Das Grundeigentum war gebunden, aber faktischer und vererbbarer Besitz der immer wohlhabenderen Grundhörigen. Knechtische Leibeigenschaft war unbekannt (I, 277). Landwirtschaftliche Angestellte (Knechte und Mägde) und gewerbliche Lohnarbeiter (Gesellen) wurden so hoch entlohnt und waren materiell so gut gestellt wie nie zuvor und danach bis zum 19. Jh. Die anerkannte und gesicherte soziale Stellung im hierarchisch gegliederten, ethisch, nachhaltig und qualitätsbewusst wirtschaftenden Organismus der sich selbst autonom verwaltenden Produktivgenossenschaften (Zünfte) erzeugte Lebensqualität und Stolz auf die eigene Leistung und Position (I, 352). Deutschland war zudem die führende Bergbaunation und exportierte diese Technologie resp. baute entsprechende Industrien in England, Schottland und Frankreich auf (I, 354). Wegen des einzigartigen Reichtums an Silber, Gold, Kupfer und Eisen hatte das Land praktisch ein europäisches Privileg auf Metalle, Münzherstellung und Währungsemissionen. So stammt die englische Währung Pfund 'Sterling' von 'Easterling', dem englischen Namen für Hansekaufmann, da im englischen Finanzwesen das hanseatische Geld galt (I, 358).

Mit der Hanse besaß das Land die größte Handelsflotte und Marine der westlichen Welt, über die der internationale Handel Mittel-, West-, Nord- und Osteuropas abgewickelt wurde, wobei die Hanse mittelbar über Venedig und Lissabon auch in Südeuropa und Indien aktiv war (I, 363364, 371372). Frankfurt am Main war "Brennpunkt des Welthandels", "Weltmarkt" und "berühmteste Handelsstadt der Welt" (König Franz I. von Frankreich) (I, 370); Antwerpen war Seehandels- und Weltfinanzplatz Nr. 1. Die Quellen sprechen dabei regelmäßig von der außerordentlichen Rechtschaffenheit und dem in der Frömmigkeit wurzelnden sittlichen Verantwortungsbewusstsein der Unternehmer und Kaufleute des Reiches. Der vollständig mit 120 Grabplatten Lübecker Bürgermeister, Ratsherren, Reeder, Kapitänen und Kaufleuten bedeckte Fußboden der ältesten und bedeutendsten Franziskanerkirche des Nordens St. Katharinen (ab 1225, Weltkulturerbe) gibt einen Hinweis: Bestattet sind hier die mächtigsten und wohlhabendsten Persönlichkeiten Nordeuropas, die im Leben in religiösen Bruderschaften organisiert waren und sich beim Apostolischen Stuhl in Rom selbst das Recht auf diese Grablege unter dem Schutz des hl. Franziskus erkämpft hatten. 

Der russische Metropolit Isidor geriet mit seinem mehr als 100 Personen zählenden Gefolge 1438 in "blinde Bewunderung" angesichts Schönheit, Größe, Reichtum und gelassener Würde der deutschen Städte (I, 373). Und der Italiener Aeneas Sylvius 1458: "Deutschland ist niemals reicher, niemals glänzender gewesen als heutzutage. Die deutsche Nation steht an Größe und Macht allen anderen voran und man kann in Wahrheit sagen, dass es kein Volk gibt, dem Gott so viele Gunst als dem deutschen Volke erwiesen" (I, 373). Und: "Bei den Deutschen ... ist Alles heiter und fröhlich [...] Kein Land in Europa hat bessere und freundlichere Städte als Deutschland" und "nirgends unter allen Völkern findet man soviel Freiheit als in den deutschen Städten", welchen gegenüber z.B. die italienischen Stadtrepubliken ausgesprochen repressiv und unfrei sind (I, 375).

Nicolas Granvelle Tizian BDer Heidelberger Nestor der deutschen Geschichtswissenschaft und Pädagogik Jakob Wympheling bestätigt um 1508: "Deutschland war niemals so reich und glänzend als in unseren Tagen [...] Auch die Bauern wurden reich." (I, 375) Insbesondere die Kirchen, öffentlichen Gebäude, Krankenhäuser und Armeneinrichtungen stellen, so Wimpheling, alles Gewesene in den Schatten. Zugleich notiert er als zentrale Gefährdung gerade die Verführungskraft des Reichtums und Geldes in Gier, Luxus, Materialismus, Libertinismus, Ausbeutung durch großkapitalistische Monopole, Verschuldung und Wucher: Auch Bürger/innen und Bauern trugen teure Textilien wie Feinleinen, Seide, Brokat, Pelzwerk sowie zahllosen Gold- und Silberschmuck; Pferdegebisse des Adels waren aus Gold (I, 375, 388—389, 395405). Die zweite große Gefährdung ist notorisch: Egoismus und Illoyalität der Fürsten gegenüber der Zentralmacht des Königstums resp. des Kaiserhauses (I, 504593). [Bild rechts, von Tizian: Der visionäre Kraft und nüchternen Wirklichkeitssinn verbindende Nicolas de Granvelle, 15301550 Kanzler Kaiser Karls V.]

Sintflutartiger Niedergang 15171618

Die Reformation lässt die Situation in ihr Gegenteil kippen, wie Janssen minutiös anhand der Quellen in den Bänden II bis V chronologisch und in den Bänden VI bis VIII thematisch nachzeichnet: „‚Wir sind‘, so der schon zitierte Text Luthers, ‚zum Spott und zur Schande aller anderen Land geworden [...] Alle Verhältnisse seien jetzt umgekehrt [...,] ‚daß fast alle Laster ... itzt zur Tugend worden [...] Ich habe wegen Deutschlands beinahe alle Hoffnung aufgegeben‘“ (VIII, 362, 366, 370). Die von Luther durchaus und durchgängig erinnerte und anerkannte Bildung, Anstand, Gerechtigkeit, Beherrschung, Liebe und Wohltätigkeit der katholischen Vorzeit (VII, 411428; VIII, 312332) ist binnen weniger Jahre, so weiter Luther, in eine historisch beispiellose Verwilderung des gesellschaftlichen Lebens gekippt, in offene und schamlose Asozialität, Grausamkeit gegen Kranke und Seuchenopfer, Bildungsfeindlichkeit, hemmungslose Promiskuität, Gottlosigkeit und Kriminalität mit sprunghaftem Anstieg der Morde, Totschläge und Vergewaltigungen (VIII, 443493, v.a. 454464). Parallel dazu war eine ausufernde Folterpraxis in der Justiz zu beobachten (VIII, 465493). Ferner ein explosionsartiger Anstieg der von den Reformatoren besonders genährten Irrationalität im Umgang mit Magie, Okkultismus und Satanismus in allen protestantischen und konfessionell gespaltenen Ländern (VIII, 494694) trotz Verurteilungen der faktischen sogenannten Hexenprozesse und Foltern seitens der Römischen Inquisition als ethisch ungerecht und verfahrensmäßig nicht legal, als meist direkte Justizirrtümer und -morde (VIII, 626628). Und trotz gleichsinniger Verurteilungen seitens der bedeutendsten Jesuitentheologen Paul Laymann und Adam Tanner (VIII, 655660) wie auch einsichtiger protestantischer Männer wie Johann Matthäus Meyfart (VIII, 687694). Bekanntlich waren die Menschen in ganz Europa vor Hexenverfolgungen nur in Ländern mit Inquisition sicher: Insbesondere die spanische Inquisition lehnte jeden Hexenprozess kategorisch ab (J. Dumont: L'Eglise au risque de l'histoire, Paris 1984, 343413, v.a. 403407).

Kultur- und rechtsgeschichtlich sind allerdings Satanismus, Hexerei und Okkultismus ein weitest verbreitetes Phänomen mit enormer krimineller Energie, dem gegenüber unabweisbarer juristischer Handlungsbedarf besteht. Auch die apostatische Gesellschaft der Gegenwart zeigt sowohl im Establishment, wie in revolutionären Subkulturen ein starkes, ja zentrales Interesse an okkulten und satanistischen Ritualen und Bildwelten, wie immer wieder — auch wegen regelmäßigem massivem Zeugensterben — Aufsehen erregende Gerichtsverfahren dokumentieren. Sie scheinen oft, ja in der Regel verbunden zu sein mit Kindesmissbrauch und -mord oft großen Stils — wie im alttestamentlichen Kanaan und im karthagischen Imperium. Insofern ist z.B. Petrus Canisius' Mahnung berechtigt, diese Fakten nicht zu ignorieren und pauschal abzutun.

Janssen hat Dutzende und Hunderte Urteile auch und gerade protestantischer Zeitgenosssen, Staatsmänner, Beamter, Lehrer, Dozenten und Autoren zusammengestellt, welche alle in der Ursachenanalyse übereinkommen: Die sintflutartige Amoral, Ignoranz und Anarchie resultiere aus Luthers Zentraldogma, dass (i) die Ethik, die Bildung, das moralische Leben und die guten Werke an sich nutzlos und sogar schädlich sind und im Verdacht der papistischen Abgötterei stehen, und (ii) der Glaube allein zählt und rechtfertigt (VII, 9 u.ö.). Dabei kann Janssen durch Auswertung der theologischen Produktion und der religiösen Volksliteratur der vorreformatorischen Epoche zeigen, dass hier durchaus und unmissverständlich die Rechtfertigung aus dem Glauben im Sinne des Römerbriefes gelehrt und eingeschärft wird, Luther also insoweit offene Türen einrennt (I, 3654). 

Auch Lortz, der Luther maximales Verständnis entgegenbringt und seine orthodox-katholischen Elemente würdigt, räumt ein, dass zwei Dinge in Luthers Denken und Leben zentral sind. Einmal der Irrationalismus: Realer Widerspruch, logische Inkonsistenz, Paradoxie, Absurdität sind Strukturmerkmale der Welt. Sie ist nirgends göttlich geordneter und/oder erlöster Kosmos, sondern dämonisches Chaos. Auch der sündige menschliche Geist hat kein Potential für Vernunft und Weisheit, sondern ist inkohärentes, agnostisches mentales Chaos: "Harter Widerspruch im Sinne des ... Unmöglichen" ist Merkmal theologischer Wahrheit (Die Reformation in Deutschland I, 1982, 149153). Zum anderen ist zentral ein wie Lortz es nennt "subjektiver [biblischer] Dogmatismus", der aber eigengesetzlich zum liberalistischen Subjektivismus gravitiert: "Er hat den Menschen auf sich selbst gestellt ... allein [ ...] Diese fundamentale Tatsache ... war das Neue, sie wurde als das Entscheidende ins Bewußtein aufgenommen, durch die Generationen weitergericht [...] Sie mußte ... das Feste zerstören [...] mußte in letzter Konsequenz jeden zu seiner eigenen Ansicht führen [...] Die innerprotestantische Aufspaltung mußte immer weiter fortschreiten" (ebd. II, 304305).

Inzwischen kann als gesicherter Hintergrund des je nach Standpunkt Häresiarchen / Reformators gelten, dass der Student der Rechtswissenschaft M. Luther kurz nach gemeinsam bestandenem Examen zum Magister artium um Ostern 1505 seinen Erfurter Studienkollegen Hieronymus Buntz im verbotenen Duell tötete. Um der Strafverfolgung und Zwangsexmatrikulation zu entgehen, suchte er gezwungenermaßen und ohne geistliche Berufung am 17.07.1505 erfolgreich Schutz in der Immunität des Erfurter Klosters der Augustinereremiten. Diesen Zusammenhang sprach er einmal offener, einmal verklausulierter öfter selbst an. Seine erste Abhandlung (von 1517) in der Weimarer Werkausgabe (WA) ist eine Analyse der juristischen Aspekte des Asyls in einer Kirche oder Kloster aufgrund eines Deliktes. Seitdem wurde er von traumatischen Schrecken und Depressionen befallen, die Melanchthon mehrfach miterlebte und mit dem Tod von Buntz in Verbindung brachte. Ein Konzentrat der einschlägigen Forschung bietet die dichte quellengestützte Analyse des Psychologieprofessors, Forensischen Psychologen und Theologen Albert Mock (Abschied von Luther, Köln 1985, 3848, 6298, 113).

Der Groll und Neid wegen des ihm aufgezwungenen Schicksals mit der zerstörten Karriereplanung und dem freiwillig-unfreiwilligen Verbanntsein im Kloster mit moralischer Angst wegen des Nichtüberwindens von "Wollust, Zorn, Haß und Neid" schlägt in Hass und Groll gegen Gott um: "Gott ist grausam [...] Ich hasste ihn" (a.a.O. 1985, 68, 93). Dabei versteift er sich gegen seine  spirituellen Mentoren auf die undifferenzierte Kriminalisierung jeder naturhaften aggressiven oder erotischen Triebregung (ebd. 92). Sein bekanntes und eigentlich gegen Gott gerichtetes zwanghaftes blasphemisches Hassen und Fluchen wird, so Mock, im Rahmen des Abwehrmechanismus der Verschiebung auf die Vertreter Gottes verlagert, v.a. auf das Hassen, Verfluchen und Vernichten von Papst, Ordenssstand und Hl. Messe. Psychiatrisch handele es sich dabei, so Mock, um eine durch überstrenge Eltern mitbedingte manisch-depressive Erkrankung, welche im Wechsel euphorische Hyperaktivität mit Größenwahn und Erschöpfungsdepressionen erzeugte. Zusammen mit der regelwidrigen Überforderung des hochbegabten und -geschätzten jungen Mannes seitens seiner Oberen mit vorzeitigen Lehr- und Führungsaufgaben resultiert frühzeitige nervöse und sexuelle Überreiztheit und Ausbrennen. Dazu tritt die für die Krankheit typische und oft ungeheuer suggestive Ideenflucht mit Einseitigkeit, Oberflächlichkeit, Voreiligkeit und antithetischer Widersprüchlichkeit des Denkens und Urteilens. Ferner die Unfähigkeit zur Akkomodation an die Wirklichkeit und zur Synthese (a.a.O. 1985, 5859, 7576, 90).

Das neue Evangelium von der Rechtfertigung durch den Glauben allein (sola fides) mit der Aufforderung, Sünden, Laster und Verbrechen gegen alle 10 Gebote zu bejahen und nicht zu bekämpfen ist manischer Trotz und "Abwehrwaffe gegen seine Verzweiflung" und Depressivität, was aber extreme Selbstzweifel, Ängste und Suizidgedanken nicht neutralisieren kann: "Luthers ... Theologie ... ist im Kern der ... Versuch einer Selbstheilung ... und darum ... Metapsychologie" (a.a.O. 1985, 75, 85, 9093). Man kann cum grano salis sagen, dass die Reformation die Rationalisierung des Grolls, des Trotzes und der Verzweiflung eines Straffälligen über die seelischen, beruflichen und sozialen Folgen seines Totschlags sind. Die Ablehnung jeder objektiven historischen Begründung und auch Sicherung des Glaubens in apostolischer Sukzession als "dämonisch" beschränkt diesen exklusiv auf ein inneres subjektives Fühlen ohne Liebe und ohne intersubjektive Mitteilbarkeit, unbeeinflussbar durch Erfahrung, Logik und Umwelt. Mit dem gleichzeitigem Anspruch alleiniger absoluter Unfehlbarkeit seit Bestehen des Christentums und Verteufelung aller sich nicht bedingungslos Unterwerfenden als böse, todeswürdig und verdammt" enthält dieses Weltbild alle wesentlichen Kennzeichen manisch-depressiver Wahnvorstellungen" (73, 81; vgl. die von Mock angezogene Spezialuntersuchung des bekannten Indologen und Religionswissenschaftlers Paul Hacker: Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz/Wien/Köln 1966 [2. Aufl. 2002]). Am Ende holt ihn die Realität ein: Trotz der politischen Erfolge der protestantischen Sache im Schmalkaldener Bund bleibt er nur auf Bitten seines Landesfürsten in Wittenberg, der in seinen Augen zum unregierbaren Sodoma gewordenen Hauptstadt der Reformation, und flüchtet immer wieder nach Zeitz, Merseburg und Leipzig. In der Heimatstadt Eisleben stirbt er 1546 unerwartet und plötzlich an Herzangstneurose (67, 91-92). Im Schatten und in den Lavafeldern des erloschenen Vulkans der lutherischen Persönlichkeit errichtet Melanchthon ab 1546 eine praktikable und alltagstaugliche religiöse Organisation: Gestalt und Gehalt der bestehenden evangelischen Konfession sind weitgehend sein Werk (82).      

Janssen (VIII, 359441) zitiert zahllose gleichlautende protestantische Quellen für den sintflutartigen Niedergang aufgrund der lutherischen Prinzipien: „‘Alte und erfahrene Männer‘, sagte Caspar Hofmann, Professor zu Frankfurt an der Oder, im Jahre 1578, ‚... können sich kaum der Thränen enthalten, wenn sie an die frühere Rechtschaffenheit, Religiosität, Ordnung und sittliche Zucht denken, und dagegen jetzt Alles voll von Lastern, Parteiungen und trauriger Verwirrung sehen. Sie erkennen ... diese zügellose Anarchie in allen Ständen [...] daß kaum eine Zeit aller Religiosität, Rechtschaffenheit, Zucht, Bescheidenheit und Ehrbarkeit so feind gewesen ist, wie die unsrige [... Die zumeist ungebildeten und unzüchtigen] Theologen und Prediger selbst ... sind die Brandfackeln des Hasses und der Verwirrung; sie selbst zerfleischen die Kirche [... ] So entsteht ... Haß gegen die Religion ... und der Atheismus steht bereits vor der Thüre.“ (VIII, 416417) „Der Meißener Superintendent Gregor Strigenicius“ gab den katholischen Einwänden Recht: „Man lebt in Zorn, Neid, Haß und Widerwillen, Hurerei, Unzucht, Ehebruch, Rauben, Stehlen, Wuchern, Lügen und Trügen, Fressen und Saufen Tag und Nacht [...] Die Früchte sind nicht gut, wie sollte dann die Religion recht sein?“ (VIII, 419420) Und Melanchthon: "Diese aufs Äußerste deprimierende Verwirrung der Kirche verursacht mir solchen Schmerz, dass ich gerne mein Leben beenden würde. Die Fürsten verwunden durch unvorstellbare Skandale die Kirchen [...] Die Anarchie gibt der Frechheit der Bösen Rückhalt und die Vernachlässigung der Wissenschaften ... bedroht uns mit neuer Barbarei. Die offene Verachtung der Religion wächst. Die Ära unserer Vorfahren hatte nicht dieses hässliche Profil." (VIII, 373; vgl. III, Titelmotto [orig. lat.]). Luther (und mit ihm viele Prediger, Stadträte, Schulrektoren, Minister etc.) verzweifelte zuletzt an der Entwicklung, erwartete eine allgemeine politisch-militärische Katastrophe resp. ein Strafgericht und hoffte inständig auf den Weltuntergang, den er als unmittelbar bevorstehend vorhersagte (VII, 216217; VIII, 312, 369370).

Subversion und Hochverrat

Dasselbe Bild zeigt das gesamte Jahrhundert bis zum Dreißigjährigen Krieg (16151645), dem "großen Bürgerkrieg, welcher alle Macht und Größe und allen Wohlstand Deutschlands vernichten sollte" (V, 305306). Dazu nur folgendes Schlaglicht auf die abwechselnd lutherische und kalvinistische Kurpfalz, welche ab den 1580er Jahren zur Vorreiterin des deutschen Protestantismus wurde. Janssen (Bd. V, 1. Buch, Freiburg/Straßburg/München/St. Louis 1886, 1–307), dokumentiert diese Entwicklung anhand der Quellen Jahr für Jahr. Namentlich der kalvinistische Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz stilisierte sich als „Haupt und Direktor“ von Religion, Freiheit und Moral in Deutschland. Die Fakten sprechen anders: Selbst seine Sekretäre und Räte in Heidelberg „‘beklagen sich ... über dessen unerträgliche Sitten; in einzelnen Augenblicken bricht er in scheußliche Blasphemien aus [...] Seine edelgesinnte Gemahlin behandelte er mit einer empörenden Roheit und Tyrannei. Als die Pest im Jahre 1596 die Pfalz verheerte, ließ er sich nicht ein einziges Mal über die Zahl der Opfer und das Unglück der Untertanen Bericht erstatten‘ [so der kurpfälzische Sekretär Kolbinger 1594] Das Land war ‚erarmt, von Schatzungen und Steuern ... ausgesogen [...] Gleichwohl spielte und würfelte der Kurfürst als wäre er ... der reichste Herr und gab ... unendlich Geld aus für seine Pracht und seine Belustiger‘ [so der kurfürstliche Rat Leonhard Schug]“ (Janssen a.a.O. 129). Dazu das fast tägliche Komatrinken mit regelmäßigen Todesopfern, für das deutsche Fürsten seit der Reformationszeit berüchtigt waren (VIII, 149166). Der protestantische Fürst Christian von Anhalt schrieb an seine Gemahlin über Friedrich IV. und die Mitglieder der sich formierenden protestantischen Union: „Die Häupter der Unserigen führen nicht allein ein ungeordnetes Leben, sondern das abscheulichste Leben von der Welt“ mit exzessiver Trunksucht, Verschwendung und Lastern (ebd. 146). Nicht anders die religiöse Situation: „Welch eine schreckliche Unwissenheit in Sachen des Glaubens bei Prädikanten und Volk Platz gegriffen, erfuhr man bei einer Kirchenvisitation [der Kurpfalz] im Jahre 1596 [...] Nur sehr wenige Personen ... konnten das Vater Unser [...] Der größte Teil des Volkes ... wußte selbst auf die Frage: wer Christus sei, Nichts oder nur höchst verkehrt zu antworten. Die meisten Prädikanten besaßen keine Bibel ... und brachten fast den ganzen Tag in den Wirtshäusern zu [...] Der Kirchenbesuch hatte beinahe ganz aufgehört.“ (ebd. 133134)

Dazu kam die systematische Unterminierung der deutschen Verfassung, Gesetzgebung, Justiz und Außen- und Verteidigungspolitik bei gleichzeitiger hochverräterischer  Konspiration mit dem Ausland: In innenpolitischer Hinsicht „schrieb Friedrich Wilhelm von Sachsen am 25.September 1601 an den Kurfürsten von der Pfalz“, durch seine Politik werde „die ganze Justiz ... im Reich ... aufgehoben“ und Ursache „zu unabwendlichem Unheil im Vaterlande“ gegeben, insofern „des Kaisers Hoheit und Ansehen gänzlich zerfalle“ (ebd. 160). In außenpolitischer Hinsicht riefen Friedrich IV. und seine protestantischen Fürstenkollegen zur Steuerverweigerung gegen den deutschen König im existentiellen Abwehrkampf gegen die Türken auf: Die Steuersummen wurden stattdessen an das mit den Türken gegen den deutschen König verbündete Frankreich für Unterstützung illegaler Umsturzpläne gezahlt. Der Kommentar des französischen kalvinistischen (!) Vorkämpfers Duplessis-Mornay und Chefberaters des französischen Königs Henri IV. zu diesem Vorgang: „Wir werden Deutschland in Feuer setzen und uns befähigen, die Früchte seines Todes ... zu pflücken“ (ebd. 114). 

Historisch singuläre Hasspropaganda

Kompensiert wurde das totale Scheitern der Reformation im Blick auf die Früchte durch man kann es schlecht anders sagen systematische Volksverhetzung, die die römisch-katholische Kirche in einem 100-jährigen rhetorischen und literarischen Krieg „von einer Bitterkeit und Gehässigkeit ohne Gleichen in der Geschichte irgend eines Volkes“ (V, 306) als das absolut und singulär Böse zu ächten suchte. Der Konvertit Sebastian Flasch, Prediger in Mansfeld, veröffentlichte 1576 22 Beweggründe, weshalb er als Greis noch den katholischen Glauben angenommen hatte: „Als erste Ursache gab er an, er sei durch längeres Forschen zur Erkenntnis gekommen, daß die Protestanten die katholische Lehre mit zahllosen offenbaren Lügen entstellten, um sie gehässig und verächtlich zu machen.“ (V, 378379). Dazu kam bewusste illegale Unterdrückung und systematische Gewalt gegen katholische Bistümer, Ordensniederlasssungen, Domkapitel, Pfarreien und Vertragsrechte (geistlicher Vorbehalt u.a.) wie z.B. prototypisch in den protestantischen Reichsstädten.  

Schmähung und Verleumdung steigerten sich noch einmal angesichts des Auftrittes der Jesuiten in Deutschland seit 1550. Den Vätern der neugegründeten Gesellschaft Jesu gegenüber fühlten sich die Protestanten wie ein wilder Eingeborenenstamm im Kontakt mit einer intellektuell, ethisch und technologisch weit überlegenen Zivilisation Außerirdischer, gegen welche er chancenlos ist. Noch der bekannte Kantforscher Friedrich Paulsen vergleicht den Jesuitenorden mit „der Wirkungsweise der Naturkräfte ... ohne Leidenschaft und Kriegslärm, ohne Aufregung und Überstürzung, dringt er Schritt für Schritt vor [...] Sicherheit und Überlegenheit charakterisieren jede seiner Bewegungen“ (Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, Leipzig 1885, 282). Gegenüber deren absoluter wissenschaftlicher Überlegenheit und heroischem ethischem Profil in Seelsorge und Krankenpflege in einer „vollkommen einheitlichen Organisation“ steht, so der Breslauer A. Dudith 1581, „erbärmlicher Hader [...] Streit, Zank, Haß, Neid, Feindschaften Francisco de Borja Netz[...] ohnmächtiger Dünkel“ unter unseren protestantischen Predigern, Lehrern und Dozenten. Deren „Wissenschaftlichkeit hält ... mit der gelehrten Bildung der Jesuiten einen Vergleich“ nicht aus. Und sie zeigen „um ein weites nicht den zehnten Teil“ des Einsatzes der Jesuiten für die Jugend, deren pädagogisch optimalen, unentgeltlichen und 500 bis 1000 Schüler zählenden Eliteschulen in allen großen Städten auch evangelische Eltern adeligen und bürgerlichen Standes ihre Kinder anvertrauten, weil sie die Jesuiten "bewundern" und "ihre Arbeit rühmen" (V, 186187). Die von den Jesuitenschulen aufgeführten Schauspiele waren Gesamtkunstwerke unter Beteiligung der weltbesten Künstler und Komponisten wie Torquato Tasso und gesellschaftliche Ereignisse ersten Ranges für alle Schichten und Konfessionen (VII, 122134). [Bild links: Herzog Franz von Borja, 15391543 im Dienst seines Freundes Karl V. der beliebteste und erfolgreichste Ministerpräsident von Katalonien, 1547 Entscheidung für die aszetische Lebensform, 15651572 charismatischer Generaloberer des Jesuitenordens, dessen Kräfte er fast vollständig auf Deutschland fokussierte, Titelheld des zur Weltliteraratur zählenden Schauspiels El gran duque de Gandia von Calderón]

Wie bekannt ist Luther der Urheber der in Rede stehenden Pöbelsprache und Hetzrede (V, 369), wonach die Römische Kirche „des Teufels Braut“ sei (V, 367) von einer singulären Unmoral, die Päpste „höllische Drachen“ und „Antichristen“ (V, 319320), „niederträchtige Höllenhunde“, Mörder, Zauberer, vom Teufel erschaffen und besessen; die Priester, Mönche, Nonnen sodomitische Huren- und Teufelskinder und Götzendiener: „teuflisches Gesinde, Mordbrenner, Hurenbälge und Sodomiter“ (V, 325). Der Theologe, Leibarzt und Hofrat des Markgrafen Jacob III. von Baden-Hochberg, Johann Pistorius, wurde 1588 katholisch: „Nachdem er dreimal ... alle Werke Luthers durchstudiert habe, sei es ihm klar geworden, daß derselbe nichts weniger gewesen, als ein wirklicher Reformator der christlichen Kirche, vielmehr ein falscher Prophet und ein Zerstörer des wahren einheitlichen Glaubens“ (V, 381) „über die Maßen unrein, lästerlich, frevel, unwahrhaftig, aufgeblasen, zweifelhaftig und unflätig“ (390). Insbesondere vergibt er Luther nicht die vulgärste Schmähung der religiösen und staatlichen Autoritäten, des deutschen Staatsoberhauptes resp. der kaiserlichen Majestät und der deutschen Fürsten und politischen Amtsträger als „Säue, Mörder, unverschämte wahnsinnige Narren, Teufelsanbeter“ etc. (V, 390, 394395). 

Der Professor der Theologie und Superintendent Georg Miller in Jena hielt 1599 berühmte Papstpredigten, wo er Papst Silvester II. (9991002), dem größten interdisziplinären Gelehrten seiner Zeit, und allen 22 nachfolgenden Päpsten schwarze Magie unterstellte und allein für 15501580 den Päpsten 900.000 Morde vorwarf, u.a. an 39 Fürsten, 148 Grafen und 144.515 Adligen (V, 326). Das Christentum in seiner gesamten Geschichte vor Luther sei, so Miller wie übrigens auch die maßgebliche protestantische Kirchengeschichte der Mageburger Centurien (1559-1574), schlimmer als alle Greuel des Heidentums in der gesamten Weltgeschichte, abscheulicher als Sodom und Gomorrha (V, 332). Das Christentum sei unmittelbar nach dem Tod der Apostel um 100 n. Chr. bereits katholisch, papistisch verfälscht worden mit „Verfinsterung der wichtigsten Glaubensartikel“ (316). Auch für Philipp von Marnix/Jesuwalt Pickhart im sog. Bienenkorb (1579), der zweiten Bibel der Kalvinisten, sind Katholiken der „Unflat und Abschaum der Menschheit [...] schlimmer als Heiden und Türken“ (V, 339). Dass eine Religion, die nach einer Generation zum absolut und singulär Bösen mutiert und während 95 % ihres Bestehens der schlimmste und perverseste Greuel und Abscheu der Erde ist, von vorne herein nicht die wahre Religion und keine akzeptable Moral sein kann, entging den Predigern und Autoren. Nicht aber dem Volk, das nach dem Zeugnis der Quellen diese Konsequenz durchaus massenhaft zog und Christentum und Religion überhaupt verachtete und ablehnte.  

Die Hetzreden überschlugen sich bei Ereignissen wie der Kalenderreform Papst Gregor XIII. 1582, welche auch die führenden protestantischen Astronomen Johannes Kepler und Tycho Brahe als „die beste“ sachliche Lösung für ein jahrhundertelanges Desiderat der Astronomie beurteilten, welche zudem politisch von Papst und Kaiser optimal vorbereitet und eingeführt worden sei (V, 345). Den lutherischen Theologen und Gelehrten war der heutige Gregorianische Kalender dagegen eine „unselige Mißgeburt“ (Osiander), eine „Lästerung Gottes“ (Michael Mästlin, Prof. der Mathematik in Heidelberg, 352), das Produkt einer gegen Hl. Schrift und Luther gerichteten Pseudowissenschaft, die von Kopernikus und den „jesuitischen Vernünftlern“ ausgehe (V, 351, 353354). Der Papst und die Gesellschaft Jesu seien überhaupt der „vermeinten Wissenschaft“ und der „Vernunft“ verpflichtet, der „Buhlerin des Teufels“ (Luther) (V, 353354). Der Papst als Antichrist und Hure Babylon, das teuflische Böse in Absolutheit, Seelenmörder und Feind Gottes, verleugne dadurch, dass das Ende der Welt bevorstehe und eine Reform daher sinnlos sei: „Jacob Herbrand, Professor der Theologie zu Tübingen [erklärte mit der gesamten Universität Tübingen]: hinter dem Kalender stecke der Satan, der römische Antichrist habe ihn zur Förderung des Götzendienstes gemacht“ (V, 348). Die Kalenderreform sei die „letzte Satzung“ des Antichrists (V, 350), seine Annahme bedeute Glaubensabfall und Provozierung endzeitlicher kosmischer Katastrophen (V, 348).

Nach so vielen und so heftigen Anklagen sollte auch die andere Seite gehört werden. Papst Pius IX. hat deren Selbstverständnis im Umgang mit Phänomen wie Luther und der Reformation in der Einleitung des sehr bekannten Rundschreibens Quanta cura vom 08.12.1864 programmatisch formuliert: "Mit welcher Sorge und Hirtenwachsamkeit die Römischen Päpste, Unsere Vorgänger, der ihnen von Christus, dem Herrn selbst, in der Person des seligsten Apostelfürsten, des hochheiligen Petrus, anvertrauten Aufgabe und Amtspflicht, die Lämmer und Schafe zu weiden, nachgekommen sind, und es niemals unterlassen haben, die gesamte Herde des Herrn sorgfältig mit den Aussagen des Glaubens zu nähren, sie mit der heilsamen, unverletzten Lehre zu tränken und vertraut zu machen, und sie von vergifteten Weiden fernzuhalten, ist allen ... wohlbekannt und offenkundig. In der Tat, Unsere Vorgänger, die Vertreter und Verteidiger der erhabenen katholischen Religion, der Wahrheit und der Gerechtigkeit, kannten in ihrer großen Fürsorge um das Heil der Seelen kein wichtigeres Anliegen, als mit ihren höchst weisen Hirtenbriefen und Konstitutionen alle Irrlehren und Irrtümer aufzudecken und zu verurteilen, die im Widerspruch zu unserem Göttlichen Glauben, zur Lehre der katholischen Kirche, zur Ehrbarkeit der Sitten und zum ewigen Seelenheil der Menschen stehen, die häufig schwere Gefahren hervorgerufen und in beklagenswerter Weise die Kirche und die staatliche Gemeinschaft verheert haben.

Darum haben Unsere Vorgänger mit apostolischem Starkmut den ruchlosen Umtrieben gottloser Menschen stets Widerstand geleistet. Den Fluten der tobenden See gleich, schäumen diese ihre eigene Verwirrung und Ordnungslosigkeit aus und versprechen die Freiheit, während sie selbst Sklaven der Verderbnis sind. Mit ihren trügerischen Meinungen und höchst verderblichen Schriften waren sie bemüht, die Grundlagen der katholischen Religion und der bürgerlichen Gesellschaft zu erschüttern, jede Tugend und Gerechtigkeit aus der menschlichen Gemeinschaft auszurotten, die Seele und den Geist zu verderben, die Unvorsichtigen und die unerfahrene Jugend von den rechten Grundsätzen der Sitten abzubringen, sie zugrundezurichten, in die Fallstricke des Irrtums zu führen und sie schließlich vom Schoß der katholischen Kirche gewaltsam zu entfernen."

Absturz des Bildungswesens      

Besonders krass war der Absturz im Bildungswesen ab 1525 greifbar. Luther formulierte schon 1524, 1529, 1530, 1538 und öfter dringende Appelle, dass man "jetzt in deutschen Landen durch und durch ... allenthalben die Schulen zergehen läßt" (VII, 11, vgl. 218). Genauso Melanchthon 1536: „Die Schulen sind in Deutschland verödet [... und] verhaßt“ (VII, 214). Der Straßburger Professor Gerbel sprach 1525 von einem historisch beispiellosen Niedergang der Wissenschaften (VII, 217). Die Schülerzahlen fielen von 300 bis 1500 Schülern auf 10 bis 100 und sogar 3 bis 5 Schüler. In Basel sind 1529 fast alle Schulen verwaist. König Ferdinand I. informiert in einer offiziellen Denkschrift 1562, dass heute auf alle Gymnasien Deutschlands so viele Schüler kommen wie früher auf ein einziges Gymnasium (VII, 1718, 65). Protestantischerseits erfolgt nach kurzem Aufblühen des Schulwesens zwischen 1530 und 1550 ein neuer Niedergang (VII, 62, 80). Erst die pädagogisch modernen, persönlichkeitsorientierten Jesuitenschulen führen ab 1550 zu einem nachhaltigen Aufschwung des deutschen und europäischen Bildungswesens (VII, 80105). Ähnlich war der Absturz der Universitäten: Im Jahre 1519 hatte die Universität Wien 661 Neueinschreibungen, welche im Gefolge der Reformation auf 20 Einschreibungen 1527 und 12 im Jahre 1532  fielen. Dies ist umso dramatischer als die von Kaiser Maximilian nachhaltig geförderte Universität Wien am Vorabend der Reformation die führende und namentlich in den mathematischen Disziplinen alle anderen deklassierende Hochschule Europas war, noch vor Paris, Bologna und Oxford (I, 132134). Die auch die skandinavischen Eliten ausbildende Universität Rostock hatte 1521 123 Neueinschreibungen und 1526 nur noch 5 (VIII, 172). Erst ab 1550 stiegen die Zahlen wieder, wobei die Abschaffung der akademischen Studiengemeinschaften alias Kollegien (Colleges) die früheren intellektuellen und v.a. ethischen Standards verhinderte (VII, 184211). 

Die angesehendsten Experten kommen darin überein, dass Luthers Vernunftfeindlichkeit und Hass und Ächtung der etablierten Wissenschaft und Bildung sowie der bestehenden staatlichen und kirchlichen Führungsschicht Hauptursache des plötzlichen und radikalen Niederganges waren. Erasmus jubelte ein Jahr vor der Reformation, 1516, „ein goldenes Zeitalter stehe vor der Thüre; gute Sitten und Frömmigkeit und die schönen Wissenschaften würden sich immer glänzender entfalten.“ Zwölf Jahre später beglückwünschte er den verstorbenen Jacob Wimpheling, „daß er einer Zeit entrückt sei, welche über jede Vorstellung verderbt geworden. ‚Wo immer das Luthertum herrscht‘, sagte er, ‚da sind die Wissenschaften zu Grunde gegangen‘“, denn für Luther sei die „ganze Aristotelische Philosophie ... ein Erzeugnis des Satans“ und „alle speculative [= rationale] Wissenschaft ... Sünde und Irrthum“ (VII, 215).

Das Gesagte gilt selbst für den literarischen und theologischen Umgang mit der allein als Mega-Autorität akzeptierten Bibel. Die stehende Berufung Luthers auf die Bibel gegen die Kirche und die Tradition ist eine Farce, da keinem anderen Zeitgenossen vor ihm der Originaltext der Bibel so egal war wie ihm und keiner die Bibel und ihre Autorität mit soviel Chuzpe als variable Vorlage für die eigene theologische Ideologie und antikatholische Propaganda zu manipulieren wagte (vgl. VII, 559560). Das Urteil des führenden europäischen Rechtsgelehrten und genialen Literaturwissenschaftlers Ulrich Zasius (14611535), den Erasmus den charakterlich hochstehendsten Mann der Epoche nennt, ist dieses: „Luther dreht und verdreht die Hl. Schrift so, daß er allen Zusammenhang zerstört [...] Mit frecher Schamlosigkeit deutet er die ganze Hl. Schrift [...] zu lauter Drohungen und Verwünschungen gegen die Päpste, Bischöfe und Priester um“ (VII, 557558). Luthers Bibelübersetzung (1522 Neues Testament; 1534 Altes Testament) ist literarisch genial, aber sachlich schlicht inakzeptabel. Kerntexte der Bibel wie die Bücher Moses von Genesis bis Deuteronomium (der „Juden Sachsenspiegel“) werden als irrelevant erklärt oder wie das Buch Kohelet, der Brief an die Hebräer und der Jakobusbrief als unhaltbar, nicht wahr, schädlich und nicht kanonisch (VII, 558). Dazu bewusste Einfügungen und Fälschungen, z.B. in Paulusbriefen passim die bekannte Hinzufügung von „allein“ zu den Stellen, die besagen, dass wir "aus Glauben gerechtfertigt sind“.

Der Erfurter Lehrer Luthers und Dresdener Sekretär und Kaplan Herzog Georgs von Sachsen Hieronymus Emser analysierte Luthers Übersetzung des Neuen Testamentes. Fazit: 1400 Stellen des Textes, der Vorworte und Anmerkungen (Glossen) „bedürfen der Verbesserung“ (VII, 559). Luther arbeitete immerhin einige Kritiken Emsers ein. Georg Wizel, bis 1532 Luthers Freund und Anhänger, unterzog die Übersetzung des AT und NT einer vergleichenden Analyse mit dem hebräischen und griechischen Urtext. Fazit: Entgegen dem öffentlichen Vorurteil ist „an ... viel hundert Orten der Hl. Schrift die neue deutsche Dolmetschung der hebräischen und griechischen Wahrheit ... entgegen“ (VII, 560). Luthers produktiv-tendenziöse Interpretation der Bibel machte tausendfach Schule. Am folgenreichsten darin, dass die Kalvinisten die Hl. Schrift gegen die Lutheraner in Stellung brachten, um sie als Häretiker und Schriftfeinde zu bekämpfen, so besonders prominent Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg 1613 bei seinem Religionswechsel von lutherisch nach kalvinistisch (VII, 568569). Der protestantische Satiriker Fischart kommentiert: „Die Heilige Schrift sei nur noch ein ‚Gauckelsack‘, Damit sie treiben Affenspiel, Ein Jeder legts aus, wie er will“ (VII, 571) 

Absturz des Sozialwesens

Anthon Granvella Moro 1549 NetzParallel zum Absturz des Bildungswesens geht der Zusammenbruch des Sozialwesens, welches Janssen dokumentiert (VIII, 283-358). Die habsburgischen Niederlande (= heutige Beneluxstaaten) zeigen idealtypisch die Verhältnisse vor der Reformation, insofern sie seit dem 14. Jahrhundert über ein absolut vorbildliches Sozialwesen verfügten in teils bürgerlicher (Stadtrat) teils kirchlicher (Pfarrei) Trägerschaft und Verantwortung. Dazu zählten Spitäler, Stiftungen und sonstige Einrichtungen sowie häusliche Pflege für alle Arten von Kranken, Behinderten, Geisteskranken, aber auch Mittellosen, Erwerbsunfähigen, Alten und Waisen. Ähnlich war das Sozialwesen im gesamten Reich organisiert: In jeder größeren Stadt existierten ein Dutzend und mehr Spitäler und Armenhäuser und beteiligten sich Hunderte Freiwillige, z.T. organisiert in Genossenschaften und Bruderschaften, an der Armen- und Krankenpflege aus der Überzeugung, dass nach dem Neuen Testament die Werke der Barmherzigkeit die Eintrittsbedingungen in den Himmel sind (VIII, 291, 293, 315). Der deutsche König Karl V. führte auf dieser Basis 1524/25 eine mustergültige Sozialgesetzgebung für die gesamten Niederlande ein (VIII, 287). Das Thema stand aber auch schon auf der Agenda der Reichstage von 1497, 1498 und 1500 und die großen Reichsstädte Augsburg, Nürnberg, Straßburg etc. reorganisierten noch in den 1520er Jahren ihre karitativen Einrichtungen (VIII, 303). [Bild oben, v. A. Mor: Antoine de Granvelle, Staatssekretär und seit 1550 Kanzler Karls V. und 15591564 Minister für die Niederlande] Dasselbe Bild zeigen die Städte Reichsitaliens und des Kirchenstaates:

„Die allgemeinen Hospitäler glichen in vielen italienischen Renaissance-Zentren eher luxuriösen Kurhotels als Siechenanstalten [...] Die Patienten tranken Wein aus Privatkellern, aßen Speisen mit Zutaten aus Krankenhausgärten und konnten sich inmitten von Kunst und gepflegtem Ambiente erquicken. ‚Das überkommene Bild von den vormodernen Hospitälern als Höllenlöchern, in die die Leute zum Sterben gebracht wurden, ist überholt‘, erklärt John Henderson, Historiker an der University of London. Reiche Renaissance-Metropolen wie Florenz oder Siena hätten den Hilfesuchenden ‚kostenlose Behandlung, geheizte Räume und spezialisierte Pflege‘ geboten. Vor allem Kranke aus den ärmeren Schichten müssen sich in meist von Wohltätigkeitsorganisationen erbauten und unterhaltenen Häusern wie im Paradies gefühlt haben. Gestorben wurde in den Krankentempeln auch, aber viel seltener als von den meisten Historikern bisher angenommen: Die Mortalitätsrate betrug laut Henderson nur fünf bis zehn Prozent.“ (Luxus für Renaissance-Kranke. In: Der Spiegel, Nr 18, 30.04.2007, S. 148)

Dieses wohlorganisierte Sozialsystem wird innerhalb weniger Jahre in der Reformation zerstört. Die Stiftungen, Stipendien und Armengüter werden rechts- und sittenwidrig zum Eigennutz von Fürsten und Verwaltern missbraucht, zweckentfremdet, gestohlen und meist verschleudert und niemand engagierte sich mehr in der Armen- und Krankenpflege (VIII, 306, 320333). Die in katholischer Zeit besonders vorbildliche und umfassende Sozialpflege Hamburgs erlebte einen völligen Zusammenbruch (VIII, 309312). Ähnlich war der Zusammenbruch in der Altmark, im Harz, in Anhalt, Mecklenburg u.a. Der Generalsuperintendent für die Altmark Andreas Musculus 1576: „Die alten Frauen müssen in baufälligen Hospitälern erfrieren und verhungern; ihre Kammern sind wahre Hundelöcher, Ratten und Mäuse nisten in ihren Strohsäcken. Niemand kümmert sich“ (VIII, 315). Janssen listet wehmütige Erinnerungen protestantischer Prediger an die paradiesischen Verhältnisse der katholischen Zeit auf, wo das Beste und Nobelste für die Notleidenden mit Liebe gegeben und geleistet wurde (316317). Der Kronzeuge für den Zusammenbruch des Sozialwesens ist wiederum Luther selbst: „Im Papstthum war Jeder barmherzig und mild, da gab man mit beiden Händen fröhlich und mit großer Andacht“ (VIII, 312), so dass „Gott ihnen auch dafür gute Zeit, Frieden und Ruhe gegeben hat“ (VIII, 314) Dagegen das Erscheinungsbild reformierter Gegenden, so Luther: „Unter den Evangelischen gibt Niemand mehr, sondern ein Jeder schindet nur den Anderen“ (VIII, 312). Janssen dokumentiert als besondere Aspekte die Bauernunterdrückung (VIII, 93145), die Adelsentartung mit sehr rühmlichen Ausnahmen wie u.a. Sachsen unter Georg den Bärtigen bis 1539 und durchgängig Bayern von Anfang an, von Herzog Wilhelm IV (15081550) bis zu Herzog Maximilian I (1598—1651, VIII, 149232), den Egoismus und die sittliche Verwahrlosung der Bürger und Bauern (VIII, 233282). Die Quellen berichten ferner von vorher nicht gekannter Arbeitsscheu, Überschuldung für Luxusgüter und überhaupt einer Entfesselung des Wuchers in Wirtschaft und Bankenwelt, sowie ein enormes Zunehmen der Bettler und marodierender Banden von Landstreichern, Landsknechten und Zigeunern, welche bei bewaffneten Raubüberfällen ungehemmt morden und ganze Dörfer auslöschen (VIII, 347, 338339, 351358). 

Das Thema wurde besonders brisant da „seit den dreißiger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts ... die Chroniken fast von Jahr zu Jahr von dem Auftreten pestartiger Seuchen zu berichten“ wissen, was die Zeitgenossen erheblich beschäftigte und was als Fluch resp. Gericht gedeutet wurde (VII, 396) Es handelte sich um pestartige Krankheiten wie Aussatz und Bubonen- und Beulenpest, Syphilis, "Englischer Schweiß", "Kriebelkrankheit", Flecktyphus. Hierzu folgende Schlaglichter, wobei in den meisten Fällen die Epidemien landesweit auftraten: 1541 in Straßburg 3300 Tote; 1547/8 in Lübeck 16.227 Tote (150—200 pro Tag); 1562 in Nürnberg 9034 Tote bei 40.000 Einwohnern; 1563/64 in Basel 4000 Tote durch die Beulenpest; 1565 in Rostock und Umgebung 9000 Tote und in Frankfurt / Oder 6000 Tote; 1582 in Nürnberg 4703 Tote sowie in ganzen Regionen Thüringens und der Schweiz Tod von 2/3 der Bevölkerung; 1585 in Prag 10.000 und in Breslau 9000 Tote; 1596/97 tötet die Brandpest 1/3 der Bevölkerung Brandenburgs und Sachsens; 1602 sind es in Danzig 16.919 Tote; 1607/13 in Basel 3968 Seuchentote, in Zürich Stadt und Land 51.200 und im Kanton Thurgau 33.584 Opfer (VII, 392—411).

Über die Einstellung der protestantischen Bevölkerung dieser Herausforderung gegenüber war Luther aufs Höchste verwundert und empört, da sie eine solche „entsetzliche Furcht“ vor dem Tod hatte, dass die zu 40—70 % überlebenden Epidemieopfer von den Predigern und den nächsten Verwandten „feige verlassen und preisgegeben werden“. Er kam in zahlreichen Predigten auf dieses Versagen zurück, das ihn stark umtrieb (VII, 412—420). Selbst in den Zentren der Reformation: Wittenberg und Genf, war kein Prediger zur Seelsorge und Krankenpflege an Epidemieopfern bereit mit der einzigen rühmlichen Ausnahme Luthers, aber nicht Calvins. In Genf erklärten die Pastoren, dass „keiner unter ihnen den Mut habe, in ein Pesthospital zu gehen, obwohl es ihr Amt fordere“ (VII, 422—423). Das Phänomen war umso sprechender, als Römische Geistliche und sogar Bischöfe wie Karl Borromäus von Mailand und Julius Echter von Würzburg dieser Pflicht ganz selbstverständlich mit großem Einsatz nachkamen, wobei viele im Dienst starben. Julius Echter gründete zur Seuchenbekämpfung und Krankenpflege dazu die modernsten, zahlreichsten und größten neuen Kliniken Europas. Die Jesuiten schlossen bei ansteckenden Epidemien ihre Schulen und widmeten sich ganz der Krankenpflege, was von 1550 bis 1615 in Deutschland 121 Väter mit dem Tod bezahlten. Sie erstrebten diesen Dienst als besonders wünschenswert, da ihr Ehrenkodex verlange, niemals jemanden im Stich zu lassen (VII, 424—428).  

An dieser Stelle sollte der Hinweis nicht unterlassen werden, dass die Säkularisierung der Kirche in England unter Heinrich VIII. (1509—1547) und ihre unter Elisabeth I. (1558—1603) zum Abschluss gebrachte Protestantisierung gerade auf sozialem Gebiet ähnlich problematische bis verheerende Folgen wie in Deutschland hatte. Die hier stark kalvinistisch geprägte und durch die Enteignung von Kirchengut reich gewordene protestantische Oberschicht (Cromwells, Greshams, Cecils, Cavendishes etc.) bekannte sich zum Kapitalismus einschließlich Zins und Wucher, beseitigte den ausbalanzierten Sozialstaat, und erzeugte das für England charakteristische Land- und später Industrieproletariat, das Dickens' Romane und Marxens Kapital bevölkert. Der einschlägige Bestseller Hilaire Bellocs sagt dazu: Um 1660 war der König "a salaried puppet" in der Hand der Magnaten, und mehr als die Hälfte der englischen Bevölkerung war "dispossessed of capital and land. Not one man in two ... inhabited a house of which he was the secure possessor" (The Servile State, Indianapolis 1977, 96; vgl. auch B. Tuchman: Bible and Sword, New York 1956).

Transzendentes Gericht und Neuanfang

Herzog Georg der Bärtige von Sachsen

Dass die Vorgänge des 16./17. Jh. in geschichtstheologischer Perspektive allerdings auch als Gericht über Versagen und Ungerechtigkeit im christlichen Israel alias der globalen Weltkiche zu deuten sind, wird in Folge in verschiedenen Zusammenhängen zur Sprache kommen. Gerade der größte Gegner Luthers und das katholische Urgestein in der politischen Führungsschicht Deutschlands, Herzog Georg der Bärtige von Sachsen (albertinisch), wurde nicht müde, seinen Fürstenkollegen zu sagen, dass sie für die Entwicklung durch ihre schweren Sünden namentlich bei der Besetzung der Bischofs- und Abt/Äbtissinensitze mit ihren — oft ungeeigneten und unwürdigen — adligen Söhnen und Töchtern verantwortlich seien. Die Quellen berichten immer wieder von deren theologischer Unbildung, Kraftlosigkeit und pflichtvergessener Trägheit. Die von Führungspersönlichkeiten zu fordernde charakterliche (Hirten) und intellektuelle (Lehrer) Souveränität steht weithin im Schatten von Politik, Festen, Jagden und Frauen. Auf die existentielle Bedrohung durch die Reformation reagieren sie mit "Schwung- und Mutlosigkeit" und nicht selten mit "kampf- und interesseloser" Kapitulation (Lortz a.a.O. 1982 I, 348).

Professor Johannes Eck

Luthers theologischer Hauptgegner, der Ingolstädter Professor Johannes Eck, zum Thema: "Die Lutherische Häresie entstand wegen der Mißbräuche der Römischen Kurie, und wegen des verkommenen Lebens des Klerus nahm sie ihren Fortgang" (zit. Lortz a.a.O. 1982 I, 119). Ecks Rede von Missbräuchen der Kurie muss freilich in den geschichtlichen Zusammenhang gestellt werden, wenn sie nicht als unverstandenes Vorurteil irrlichtern soll. Dieser Zusammenhang ist — Gedankengänge des Experten Hubert Jedin: Geschichte des Konzils von Trient aufgreifend — folgender: (i) Der Apostolische Stuhl in Rom umfasste in Gestalt der Kurie das weltweit größte rechtliche, richterliche und notarielle Dienstleistungszentrum für alle Belange der Religion und annexer Materien. (ii) Dieses Zentrum gründete theologisch in der jahrtausendelangen Leitungsfunktion der Römischen Bischöfe für die Gesamtkirche und juristisch in dem ebenfalls während Jahrtausenden zu singulärer Leistungsfähigkeit entwickelten Römischen Rechtswesen. (iii) Diese weltweit einzigartige Sachkompetenz wurde ausgesprochen menschlich und großzügig gehandhabt. (iv) Kompetenz und Humanität der Kurie erzeugten ein Attraktivitätspotential und einen Leistungsvorsprung gegenüber nachgeordneten Instanzen auf Metropolitan- und Diözeseanebene: "Die Modernität des im Hochmittelalter entstandenen Instituts" des professionellen geistlichen Gerichtswesens war ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus — Seine Strukturen waren "Vorbilder für die moderne Staatlichkeit" (Ch. Schwab: Historisches Lexikon Bayern) (v) Die große Nachfrage von unten nach den Dienstleistungen der Kurie in Verbindung mit deren eigengesetzlicher institutioneller Expansion von oben engte den Handlungsspielraum der Ortsbischöfe erheblich ein: Der Anteil der Ordensniederlassungen, Kollegiatstifte, Sodalitäten usw., die sich auf Dauer direkt Rom unterstellt hatten (Exemptionen) bzw. auf deren personelle Besetzung Rom — und noch stärker Fürsten, Stadtrepubliken und Stifterfamilien — einen Rechtsanspruch hatten, erreichte oft weit über 50 %. Viele Bischöfe waren gar nicht mehr vor Ort persönlich präsent und aktiv. (vi) Zentraler Reformpunkt des Konzils von Trient war die Korrektur dieser Entwicklung durch die Wiederermächtigung und -verpflichtung der Bischöfe und Diözesansynoden sowie Metropoliten und Metropolitansynoden als Hauptakteure des Hirtenamtes. (vii) Spitzenkompetenz und Leistungsbreite des Rechts- und Verwaltungszentrums Rom waren zwangsläufig kostspielig. Da die europäischen Regierungen den Vorschlag der Finanzierung der Dienstleistungen durch eine angemessene Pauschalabgabe ablehnten, mussten die Kosten auf die einzelnen Nutzer bzw. Dienstleistungen umgelegt werden, wobei das rechte Maß natürlich verfehlt werden konnte und auch wurde. 

Willibald und Charitas Pirckheimer

Die bekannteste Darstellung des intellektuellen und moralischen Versagens nach Art und Umfang bietet Lortzens Die Reformation in Deutschland, Freiburg 1982, v.a. Band I, 3—19, 69—138 und Band II, 109—123. Sie betont aber auch immer wieder, dass eine realitätsdichte Darstellung das Neben- und Ineinander von Licht und Schatten zeigen muss. Es gab die Missstände, aber es gab auch das von Janssen herausgearbeitete blühende Glaubensleben, hohe ethische Standards und sehr zahlreiche vorbildliche Vertreter des Klerus (Lortz a.a.O. I, 90—119). Ein bekanntes Wort des Nürnberger Ratsherren, Universalgelehrten europäischen Ranges und deutschen Regierungsberaters Willibald Pirckheimer, der anfänglich an Luther Hoffnungen auf sittliche Reformen geknüpft hatte, geht dahin, dass die viel berufenen Missstände der Vorzeit nur "Kindereien" gewesen seien im Vergleich mit der kriminellen Energie und Amoralität der lutherischen Bewegung und ihres Urhebers, der "völlig in Wahnsinn verfallen oder vom bösen Feinde geleitet scheint" (Döllinger: Die Reformation, I, 21848, 586). Reichsadler Burkmair NetzDie Schwester (Charitas) des mit Dürer befreundeten und von Erasmus bewunderten Pirckheimer ist übrigens die berühmteste Heldin der Geschichte Nürnbergs. Aufgrund ihrer sittlichen Persönlichkeit, Bildung, Anmut und Esprits war die Äbtissin des Nürnberger Clarissenklosters gesuchte Gesprächspartnerin der spirituellen und intellektuellen Avantgarde Deutschlands. Später verteidigte sie während Jahren mit Mut und Intelligenz das Recht ihrer 60 Mitglieder zählenden Gemeinschaft auf die kontemplative Lebensform gegen unaufhörliche verbale und physische Gewalt, Bestechung und Erpressung sowie juristische Manipulation des lutherisch gewordenen Stadtrates. [Bild links: Holzschnitt von Hans Burgkmair: 'Das Heilige Römische Reich mit seinen Gliedern', Augsburg 1510. Es zeigt das meistverbreitete Staatssymbol Deutschlands und des SRI zur Zeit der Reformation: Der Quaternionen-Reichsadler mit jeweils vier Wappen deutscher Länder und Städte auf den Schwingen der Flügel (Quaternionen); die Wappen des Bischofs von Rom und der sieben Kurfürsten liegen oben. Die Doppelköpfigkeit bezieht sich auf die königliche und kaiserliche Gewalt.]

Morone, Pole, Borromäus, Bellarmin et al.

Auch und gerade die humanistisch gebildeten Kardinäle der Renaissance-Ära und die aus ihnen hervorgehenden Päpste des 16. Jh. treten als Persönlichkeiten solchen Formates auf die Bühne der Geschichte, dass Verfasser solche intellektuelle und lebensweltliche Überlegenheit sowie gelassene Würde bei den Nachfolgern des 19. und 20. Jh. nur mit Abstrichen zu finden vermag. Männer wie Giovanni Morone, Römischer Legat für Deutschland und späterer Präsident des Trienter Konzils; Reginald Pole, der einer Martyrerfamilie des Hochadels entstammende Ehrenmann, Wissenschaftler und schließlich Erzbischof von Canterbury, Moderator der englischen Angelegenheiten in schwierigster Zeit; Karl Borromäus, der Prototyp und Motor der Trienter Reform; A. M. Ghislieri / St. Pius V, in Italien der restlose Neutralisierer der vier klassischen Feinde der Kirche und Beendiger der Islamisierung Europas mit einer kombinierten spirituell-militärischen Gegenoffensive; Ugo Boncompagni / Gregor XIII, Vater des modernen Kalenders; Robert Bellarmin, intellektueller Übervater Europas usf. Es sind Riesen, die die Neuzeit auf Jahrhunderte definieren und auf deren Schultern wir alle stehen. Allerdings übten die Ideen und Verhaltensmuster der als modern geltenden Reformation eine große Sogwirkung, in hundertfachen Abstufungen und Formen, auf die Hierarchie und Bevölkerung in Nord- und Westeuropa aus — mit denselben bildungsfeindlichen und amoralischen Folgen. Ein Prozess, der erst durch das Trienter Konzil und die jetzt überall wie Pilze aus dem Boden schießenden hochaszetischen neuen Orden und ganz besonders durch die jetzt als moderne Avantgarde geltende Gesellschaft Jesu umgekehrt werden konnte. Sie machten die Maxime Goethes wahr: "Was du ererbt von deinen Vätern, Erwirb es, um es zu besitzen!" (Faust I)

Leopold I., Karl VI. und Prinz Eugen

Nach dem Dreißigjährigen Krieg führten Kaiser Leopold I. (reg. 1658—1705) und Kaiser Karl VI. (reg. 1711—1740) in Verbindung mit dem Haus Schönborn und Prinz Eugen (1663—1736) auch das SRI zu neuer Blüte, die kulturell bis zum Beginn des 19. Jh. reichte (siehe den letzten Abschnitt des Menus 'Messianische Ära'). Wer möchte, kann diesen Sachverhalt wie in einem Brennspiegel an der Residenz des Fürstbistums Würzburg betrachten. Seit Karl dem Großen im 8. Jh. ist das Bistum als Rechtsnachfolger des Stammesherzogtums Franken ein Kernraum und eine Hauptstütze des SRI. Der Saal für kaiserliche Besuche und Repräsentationszwecke ist der größte Raum und der architektonische Höhepunkt der Residenz, die 1981 von der UNESCO als Welterbe anerkannt wurde — als „das einheitlichste und außergewöhnlichste aller Barockschlösser [... eine Residenz] einzigartig durch ihre Originalität, ihr ehrgeiziges Bauprogramm und die internationale Zusammensetzung des Baubüros [... und] das Zusammenwirken von Künstlern aus den kulturell wichtigsten Ländern Europas": Eine "Synthese des europäischen Barock“ in einer Linie mit den größten und bedeutendsten Schlossanlagen der Welt Schönbrunn und Versailles (UNESCO-Welterbestätten Deutschland e.V.).

Nach dem Selbstverständnis und Plan der Bauherren sollte die Residenz allerdings alle sonstigen imperialen Bauten in Wien, Paris, Rom und Konstantinopel noch übertreffen, da sie die herausragende Zielsetzung und Bedeutung des SRI repräsentiert. Die architektonische Konzeption und das Bildprogramm der Residenz ist die europa- und weltweit anspruchsvollste und monumentalste Verkörperung und Visualisierung der Reichsidee, welche existiert. Kompetente Besucher bestätigen dies: "Der englische Philosoph David Hume bemerkte 1748 bei seinem Würzburgbesuch, daß die dortige Residenz ... in ihrer baulichen Qualität und Schönheit einzigartig sei und selbst ... Versailles übertreffe." (Stephan: "Im Glanz der Majestät des Reiches" — Tiepolo und die Würzburger Residenz, Weißenhorn 2003, 12; s.u.) Der Bau wurde von einem Konsortium der international angesehendsten Architekten errichtet: Maximilian von Welsch aus Mainz, Johann Lucas von Hildebrandt aus Wien, Robert de Cotte und Germain Boffrand aus Paris, seit 1720 unter der Gesamtleitung des genialen Architekten Balthasar Neumann. Namentlich der Kaisersaal ist ein Gesamtkunstwerk, dessen Raumeinheit als einmalig gilt. Die weltbesten Künstler, namentlich der erste Freskomaler der Epoche, Giovanni Battista Tiepolo, verwirklichten die Innenausstattung bis 1781, dem Erscheinungsjahr von Kants Kritik der reinen Vernunft, die wie noch mehr die Kritik der praktischen Vernunft an der Universität Würzburg im persönlichen Kontakt mit Kant eine besonders frühe und langdauernde Rezeption und ideengeschichtliche Einordnung erfuhr.

Das Haus Schönborn

Auftraggeber des in Rede stehenden Leuchtturmprojektes war der Fürstbischof von Würzburg, Johann Philipp Franz von Schönborn (1719—1724), Bruder des deutschen Reichskanzlers und Erzbischofs von Mainz Lothar Franz. Die Grafen von Schönborn aus dem Taunus und Rheingau stellten im 17. und 18. Jh. in enger Zusammenarbeit mit Kaiser Karl VI. und Prinz Eugen die intellektuelle Avantgarde des SRI. Sie waren eine auch realpolitisch sehr einflussreiche Dynastie, "eine der ersten und angesehendsten in Deutschland" (Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth). Das bewusste Leistungsethos und die interdisziplinäre Bildung ihres familiären und gesellschaftlichen Netzwerkes führte sie als geistliche und weltliche Landesfürsten in Spitzenstellungen. Mehrfach waren sie Kanzler und Vizekanzler Deutschlands. Als Vorsitzende des Kurfürstenkollegiums wählen und krönen sie den deutschen König und römischen Kaiser und sind nach ihm die ranghöchsten Reichsfürsten. Sie moderieren als Präsidenten das deutsche Parlament (Reichstag). Als Kabinettschefs des SRI und der Habsburger Kaiser koordinieren sie in der Regierungshauptstadt Wien die internationale Diplomatie und Politik der seit den epochalen Türkenkriegen führenden Weltmacht der Epoche. Sie steuern in Schlüsselphasen das internationale politische Geschehen. Sie formulieren die Friedensschlüsse des Dreißigjährigen Krieges: Westfälischer Friede, und des Spanischen Erbfolgekrieges, des ersten Weltkrieges der Geschichte: Rastatter bzw. Badener Friede. Die Schönborn errichten als eigene Reichsbehörde die Reichskanzlei an der Wiener Hofburg und ihre Finanzpolitik saniert den Staatshaushalt Österreichs. Sie verbinden Prinzipientreue mit visionärem Denken und Tatkraft.

Bereits der große alte Mann der Schönborn, der ethisch, geistig und politisch herausragende Johann Philipp von Schönborn der Weise (1605—1673), etablierte eine Kommission und Denkfabrik unter Leitung des Universalgelehrten G. W. Leibniz für die fundamentale Herausforderung der verfassungJohann Philipp von Schönborn mit B. Holzhauser und Karl IIsrechtlichen Reform des SRI als moderner ständischer Bundesstaat. Auch später verfolgen die Schönborn dieses Projekt konsequent weiter, zusammen mit führenden Staatsrechtlern. Angesichts der traumatischen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges spricht Johann Philipp der Steigerung der Wehrkraft des SRI ebenfalls Priorität zu, baut Mainz zu einer modernen Megafestung aus und schafft die Voraussetzungen für den neuerlichen Aufstieg des SRI zur Weltmacht Nr. 1 unter Prinz Eugen. Er wird später zu Recht deutscher Salomon, Friedensfürst und Vater des Vaterlandes genannt. [Bild links, Diözesanmuseum Mainz: Johann Philipp von Schönborn (Mitte) mit seinem persönlichen Berater Bartholomäus Holzhauser (links) und dem englischen König Karl II (rechts), der als Gast Schönborns in Geisenheim 1655 um eine Unterredung mit dem prominenten prophetischen Presbyter Holzhauser nachgesucht hatte, welche ihn persönlich und weltanschaulich nachhaltig beeindruckte]

Seit Johann Philipp von Schönborn dem Weisen sind Vertreter des Geschlechtes mehrfach Erzbischöfe von Mainz und als solche Vorsitzende des nach Rom größten Metropolitanverbandes der Weltkirche. In Verbindung mit der Leitung und Moderation des Kurfürstenkollegiums und Reichstages sind sie die nach dem Apostolischen Stuhl bedeutendsten und ranghöchsten Autoritäten der messianischen Ära der Epoche. Johann Philipp von Schönborn und seine Nachfolger reformieren den Metroplitanverband Mainz im Sinne des Trienter Konzils, unter anderem durch Pflege des öffentlichen Chorgebetes und des Gregorianschen Chorals. Sie berufen als Organisatoren der Presbyterausbildung und Seelsorge den charismatischen Ordensgründer Bartholomäus Holzhauser und seine hochgesinnte Gemeinschaft. Johann Philipp von Schönborn ist auch der erste Landeschef, der mit dem Jesuiten Friedrich von Spee, dem Vorkämpfer gegen die gängige Praxis der Strafverfolgung von Okkultismus und Ritualverbrechen (sog. Hexenprozesse), die entsprechende Problematik erörtert und dessen Forderungen in die Tat umsetzt.    

In bildungspolitischer Hinsicht bauen die Schönborn die Universität Würzburg zur Elitehochschule des SRI aus mit — wie man heute sagen würde — Exzellenzinitiativen zu den Schwerpunkten Rechtswissenschaft (Naturrecht / Staatsrecht resp. Reichsrecht / Kirchenrecht), Reichsgeschichte und Naturwissenschaft (Experimentelle Physik). Die Adelsfamilien der Hauptstadt Wien schickten hierhin ihre Söhne zum Studium. Fürstbischof Carl Philipp von Greiffenclau, zuvor 1739—1749 Rektor der Universität Mainz, veranlasst 1749 ein 14-bändiges Kompendium aller theologischen Fächer (Wirceburgenses), verfasst von einem Professsorenkollegium der Gesellschaft Jesu an den Universitäten Würzburg, Heidelberg, Mainz und Erfurt. Es erscheint 1766—71 und bleibt bis zur Schwelle des 20. Jh. ein internationales Standardwerk der Theologie mit Neuauflagen in Paris 1852 und 1879/80.

Visualisierung der Messianischen Weltordnung

Im Zentrum des Bildprogramms des Kaisersaals der Residenz steht die politische Theologie des SRI. Veranschaulicht wird diese an der Geschichte des Bistums Würzburg innerhalb des Reiches zur Zeit der Stauferkaiser: Einmal anhand der offiziellen Bestätigung der Bischöfe von Würzburg als Landesherren — Herzöge — Ostfrankens auf dem Reichstag 1168 in Würzburg durch Kaiser Friedrich I Barbarossa. Bischof Herold von Würzburg hatte darum nachgesucht, weil Würzburg als erstes geistliches Territorium Deutschlands zugleich Prototyp des die messianische Zivilisation verkörpernden heiligen Deutschland (Germania sacra) war.

Das zweite Thema ist die Vermählung desselben mächtigsten Herrschers Europas mit der sehr jungen, sehr gebildeten und sehr schönen Beatrix von Burgund durch Bischof Gebhard im Jahre 1156 in ERL Giovanni Battista Tiepolo 1751 52Würzburg. Hierher gehört auch das Deckenfresko von 1751/52 mit der Brautfahrt Beatrix‘ auf dem Sonnenwagen Apolls zum in ewiger Jugend sich erneuernden Genius des Reiches [Bild rechts].

Das Bildprogramm wird abgerundet durch Gemälde über den Türen (Supraporten) zu Kaiser Konstantin dem Großen (306—337 n. C.) als Sieger über das Heidentum und als Beschützer der Kirche; zu Kaiser Theodosius dem Großen (379—395 n. C.), dem Bischof Ambrosius nach dem Blutbad in Thessaloniki den Zugang zur Kirche verwehrt; sowie zu Kaiser Justinian den Großen (527—565 n. C.), dem äußeren und inneren Erneuerer des Römischen Reiches in der Spätantike, als Herausgeber des Corpus juris civilis, der epochalen, bis heute grundlegenden Kodifizierung des Römischen Rechtes.

Der Kaisersaal umspannt so in selbstverständlicher und lebendiger Kontinuität das Römische Reich und die griechisch-römische Zivilisation von Anfang an über ihre Christianisierung und Fortführung als SRI im Früh- und Hochmittelalter bis ins späte 18. Jh., wo ab 1749 Carl Philipp von Greiffenclau aus dem Schönbornkreis, des Heiligen Römischen Reichs Fürst und Bischof zu Würzburg, Herzog zu Ostfranken [offizieller Titel] die weltbesten Architekten und Künstler zum Einsatz brachte, um auch in der Innenausstattung Idee und Wirklichkeit des SRI zu veranschaulichen und auszuzeichnen.

Das Bildprogramm des Kaisersaales wird ergänzt durch das gleichfalls weltberühmte Deckenfresko Tiepolos im Treppenhaus der Residenz zur globalen, alle Erdteile moderierenden Funktion des SRI. Das Fresko ist ein ebenso monumentales wie farbensprühendes Bild der Welt und des Universums. Zentrum ist der strahlende Sonnengott Apoll, mythologische Metapher des christlichen Römischen Kaisers. Er ist der authentische Sonnenkönig und "die Residenz ist" nach einem frei zitierten Wort Balthassar Neumanns "ein Monument und Zeugnis für spätere Generationen, welches Glück und welche selbstbewusste Hochgesinntheit wir unter dieser Sonne in unserer Ära erleben durften". Alle Versuche, dieses Amt in Frage zu stellen oder zu usurpieren scheitern früher oder später. Wie der jüngst von Prinz Eugen und Ludwig Wilhelm von Baden spirituell und militärisch niedergeworfene Ludwig XIV. wiederholen sie die vermessene Anmaßung des Ikarus, der vom Firmament zur Erde stürzte, weil er die Rosse des Sonnenwagens nicht zu bändigen vermochte.

Auch der Bauplan selbst spricht im Großen wie im Einzelnen dieselbe Sprache: Auf allen Portalen, Eckpavillons und sonstigen markanten Punkten der Architektur ruht der Reichsadler und / oder die ottonische Reichskrone in Relief oder als Skulptur. Allegorien der Kardinaltugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Starkmut und Beherrschung und der sonstigen dianoetischen und ethischen Dispositionen eines idealen Staatsmannes und / oder Oberhirten bilden den Wandschmuck von Treppenhaus und Repräsentationsräumen. Namentlich im Rückblick ist die Residenz so eine prophetische Visualisierung der Messianischen Neuen Weltordnung für die beginnende Moderne. Das Fazit der derzeit maßgeblichen ideengeschichtlichen und kunstwissenschaftlichen Dokumentation zur Residenz seitens des Potsdamer Professors für Architekturtheorie Peter Stephan ist:

"Auf der allegorischen Sinnebene stellte der Venezianer [Tiepolo] das Reich in einen kosmisch-metaphysischen Zusammenhang. Zugleich verfolgte er in historischen Exkursen die geistigen Ursprünge der Reichsverfassung bis in Antike und Stauferzeit zurück. In der Rhetorik seiner Bilder erscheinen die Universalität des Reiches, die ständische Freiheit ... sowie die Rolle des Kaisers als gemeinsames politisches Oberhaupt ... überzeitlich und gottgewollt [...] Projekte wie die Würzburger und die Bamberger Residenz [und ...] die Reichskanzlei in Wien ... sollten vor allem die Gültigkeit der Reichsverfassung und die Bedeutung der Germania Sacra als Trägerin des Reichsgedankens zum Ausdruck bringen [und] knüpfen an Bauten anderer Mitglieder der Reichspartei wie die Paläste des Prinzen Eugen oder des Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden an." (P. Stephan: "Im Glanz der Majestät des Reiches" — Tiepolo und die Würzburger Residenz: Die Reichsidee der Schönborn und die politische Ikonologie des Barock, Weißenhorn 2003, abstract).

Die Residenz ist übrigens auf dem 50-Mark-Schein der letzten Serie von D-Mark-Banknoten neben dem Porträt des Baumeisters Balthasar Neumann zu sehen.

Zwei Weltanschauungen und Kulturen 

Es liegt aus allem Vorhergehenden auf der Hand, dass uns die Ideengeschichte des Begriffes Erlösung mit zwei Weltanschauungen und Lebenseinstellungen konfrontiert, welche zwei Kulturen oder Zivilisationen erzeugen, die sich unvereinbar gegenüberstehen und bekämpfen. Wenn man so will, ist dies die Ursituation eines Kampfes der Kulturen (clash of civilizations), wie er heute in anderen Zusammenhängen erörtert (bzw. bei näherem Besehen wohl vielmehr künstlich erzeugt) wird. Dieser Kampf der Kulturen oder genauer: Kampf zweier Leitkulturen in der Gesellschaft, ist kein Missverständnis und keine zeitbedingte Erscheinung, sondern ein unvermeidbarer, ethischer und metaphysischer Kampf und er ist das zentrale Thema der Sozialethik des alt- und neutestamentlichen Israel vom Buch Genesis an. In der Bibel des Alten wie des Neuen Testamentes dominiert diese sozialethische Tradition qualitativ wie quantitativ: In der Tora (Pentatech, 5 Bücher Moses) und dem Tanakh (Altes Testament) überhaupt haben ca. 75 % sowohl der Geschichtsbücher wie der Propheten diese Geschichtsphilosophie, Sozialethik und Staatstheorie zum Gegenstand.

Im Untermenu ‚Tora‘ haben wir die — im Einzelnen zu begründende und fachübergreifend zu erörternde — These formuliert: Der Tanakh auf der Basis der Tora ist das global früheste zusammenhängende Geschichtswerk zur Frühgeschichte und zu den ersten Hochkulturen mit dem rationalsten Ansatz, dem größten Textumfang sowie dem längsten Berichtszeitraum und mit dem Fokus auf dem prophetischen Theismus als effektivem Schrittmacher von vernunftbasierter Aufklärung und Ethik sowie der längsten und umfassendsten Religions-, Kult- und Sozialkritik der Geschichte im Umfeld der jeweils modernsten urbanen Zivilisationen (Sumer, Ägypten, Phönikien, Babylonien, Persien, Hellenistische Globalisierung).

Der hervorgehobene Abschnitt der These fasst die Weltanschauung der Tora zusammen. Eine ausführlichere Darstellung dazu liegt in dieser Verknüpfung vor R3. Weltanschauung der Tora.pdf. Die Untersuchung ebendort folgt dieser Gliederung:

(1) Axiomatische theistische Grundüberzeugung: Das Universum wird hervorgebracht und seine Geschichte steht unter der Regierung eines sowohl weltranszendenten als auch weltimmanenten persönlichen göttlichen Absoluten

(2) Die Anerkennung der Realität des Theismus ist die Mutter aller Dinge: „Anfang der Weisheit ist Respekt und Achtung vor dem Spirituellen und Göttlichen“ (vgl. Sprichwörter 9, 10)

(3) Das göttliche Absolute ist Quelle der Ethik und des Heils (Weisheit, Erfolg und Glück) sowie Richter des Handelns von Menschen und Staaten

(4) Thema der Tora und des Tanakh überhaupt ist die Rekonstruktion und Verkörperung von (1) bis (3) in der globalen Dynamik einer nicht-theistischen und nicht-ethischen Zivilisation

(5) Das personale göttliche Absolute selbst inspiriert und motiviert die Erneuerung und Verkörperung des Theismus unter (4) durch die prophetische Berufung und Mission Abrahams aus der urbanen Weltmetropole Ur im nahöstlichen Ausgangs- und Brennpunkt wissenschaftlich-technischer Hochkulturen

(6) Das personale göttliche Absolute selbst beruft und formt aus den Nachkommen Abrahams eine sakrale und politische Elite ein priesterliches und königliches Volk (Exodus 19, 5—6) als Träger der Rekonstruktion des Theismus

(7) Die Formung der sakralen und politischen Elite resp.des Priestervolkes Israel vollzieht sich während eines Jahrtausends durch prophetische Sprecher, Schriftsteller und Akteure gegen die beherrschende Schwerkraft der nicht-theistischen und tendenziell nicht-ethischen Zivilisationen und erfasst effektiv nur einen „Rest Israels“ (Jesaja 10, 20)

(8) Die Rekonstruktion und Verkörperung des Theismus in (1) bis (7) zielt auf die messianische Ära mit der Neutralisierung der nicht-theistischen und ethisch gebrochenen Zivilisationen und deren Eingliederung in die sakrale und politische Elite des Priestervolkes und somit auf emanzipierte Mündigkeit und Inspiration aller Menschen durch das Göttliche: „Ich werde meinen Geist ausgießen über alles Fleisch“ (Joël 3, 1)

Methodische Leitlinie des Buches Genesis in der Wiedergabe der Vorgeschichte von Adam bis Noe (Sintflut) ist der Kampf der Kulturen zwischen den Weltmenschen: Kainiten und den Gottessöhnen: Sethiten. Weltmenschen sind dabei definiert durch Selbstherrlichkeit, Ichsucht und Egozentrik bis zur Verachtung Gottes sowie jeglicher Spiritualität und Ethik. Siehe hierzu das Papier R7. Die Vorgeschichte in der Tora.pdf.

Dieselbe methodische Leitlinie ist für die Frühgeschichte von Noe bis Abraham maßgeblich. Siehe hierzu das Papier R8. Frühgeschichte der Tora.pdf. Dasselbe gilt für die Bronze- und Eisenzeit von Abraham bis zum Untergang der Monarchie. Hier verkörpert das Haus Jakob resp. das altestamentliche Israel die spirituelle Kultur der Söhne Gottes, welche der Kultur der Weltmenschen resp. dem global gewordenen amoralischen Heidentum gegenübersteht, aber selbst schließlich an Synkretismus und Amoralität scheitert (Zerstörung Jerusalems und Babylonische Gefangenschaft). Vom Babylonischen Exil bis Johannes den Täufer und Jesus von Nazareth (Zeitenwende) wird die spirituelle Kultur verkörpert von einem hl. Rest des alttestamentlichen Israel in Erwartung des von Jesaja/Jeremia/Ezechiel angekündigten Neuen Bundes. Vgl. für weitere Information hierzu die Abhandlungen R9. Spätbronze_Frühe Eisenzeit in der Tora. Exodus_Landnahme.pdf und R10. Tora in Monarchie — Untergang — Wiederaufbau.pdf im Untermenu ‚Tora‘. Seit der Zeitenwende bis heute wird nun, wie bekannt und in Rede stehend, die spirituelle Kultur mit dem christlichen Israel resp. der katholischen Weltkirche als Träger des Neuen Bundes identifiziert, dessen Mission im weiteren Verlauf der Kulturgeschichte die ist, sukzessive und unumkehrbar die nicht-theistischen und ethisch gebrochenen Zivilisationen der Weltmenschen zu neutralisieren und einzugliedern.

Analysen zur Religionsgeschichte zeigen, dass Zivilisationen mit dem Eintritt in die neolithische Revolution und noch einmal verstärkt mit der Ausbildung materieller Hochkulturen regelmäßig ein Verblassen des Hochgottglaubens erkennen lassen und nichttheistische: animistische, polytheistische Kulte sich in den Vordergrund schieben. Thema der Tora und des Tanakh überhaupt ist die Rekonstruktion und Verkörperung der theistischen Grundüberzeugung mit dem Ziel der Anerkennung der Realität des Theismus als Quelle der Ethik und des Heils in der globalen Dynamik nicht-theistischer und tendenziell nicht-ethischer Zivilisationen. Eine weiterführende Diskussion zur Theologie der Tora im zeitgenössischen Umfeld finden Sie auf der folgenden Verknüpfung, R4. Theologie der Tora.pdf welche diese Punkte behandelt:

(1) Theistischer Hochgottglaube und Polytheismus in der Religionsgeschichte

(2) Der Gott der Sethiten, Semiten und Abrahams, Isaaks und Jakobs

(3) Reform-Theismus im Nahen Osten, Mittelasien und im Fernen Osten

(4) Mosaischer Reform-Theismus

(5) Theistisch-polytheistischer Synkretismus im Nahen Osten, Mittelasien und im Fernen Osten

(6) Theistisch-polytheistischer Synkretismus in Israel

(7) Überwindung des theistisch-polytheistischen Synkretismus in Israel und Theismus als zukünftige globale Leitkultur

Der Messiasbegriff im Kampf der Kulturen

Sache und Begriff des Messias stehen in einem engen Zusammenhang mit dem skizzierten Kampf der Kulturen. Das Messiaskonzept zieht sich wie ein roter Faden bereits durch die allgemeine Religionsgeschichte und Ethnologie, aber ganz besonders durch die gesamte Tora und die Propheten.

Der Messias im Gesetz des Mose (Tora)

Der Messias ist in der Bibel des Alten Testamentes der definitive Prophet, Priester und König der globalen theistischen Leitkultur der Zukunft und Erlöser von der dämonischen Gegenkultur von Lüge, Gewalt, Laster und Tod. Eine sehr berühmte und herausgehobene Stelle zum Messias ist der Segen Jakobs, des Enkels Abrahams (Genesis 49, 8—10), um 1700 v. C. auf dem Totenbett über seinen Sohn Juda (für die historisch-kritische Evaluation dieser wie der folgenden Stellen siehe die entsprechenden Analysen zur ‚Frühgeschichte in der Tora‘, zur ‚Eisenzeit: Exodus und Landnahme‘, und zu den ‚Propheten‘):

„Juda, dir jubeln die Brüder zu, deine Hand hast du am Genick deiner Feinde. Deines Vaters Söhne fallen vor dir nieder. Ein junger Löwe ist Juda. Vom Raub, mein Sohn, wurdest du groß. Er kauert, liegt da wie ein Löwe, wie eine Löwin. Wer wagt, sie zu scheuchen? Nie weicht von Juda das Zepter, der Herrscherstab von seinen Füßen, bis der kommt, dem er gehört, dem der Gehorsam der Völker gebührt.“

Eine ähnlich berühmte und herausgehobene Stelle ist diese öffentliche testamentarische Prophetie des Mose um 1200 v. C., ebenfalls an seinem Sterbetag (Deuteronomium 18, 15—18):

„Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte, unter deinen Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr hören. Der Herr wird ihn als Erfüllung von allem erstehen lassen, worum du am Horeb, am Tag der Versammlung, den Herrn, deinen Gott, gebeten hast, als du sagtest: Ich kann die donnernde Stimme des Herrn, meines Gottes, nicht noch einmal hören und dieses große Feuer nicht noch einmal sehen, ohne dass ich sterbe. Damals sagte der Herr zu mir: Was sie von dir verlangen, ist recht. Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen. Ich will ihm meine Worte in den Mund legen und er wird ihnen alles sagen, was ich ihm auftrage.“

Der Messias als Leidensknecht bei Jesaja

Eine dritte, sehr bekannte und herausgehobene Stelle für das Messiaskonzept sind die vier Gottesknechtlieder (740—701 v. C.) des Propheten Jesaja, welche vom christlichen Israel alias der globalen, katholischen Weltkirche (aber im Prinzip auch vom vorchristlichen Israel) erstrangig auf den Messias bezogen wurden (vgl. O. Cullmann: Die Christologie des Neuen Testaments, Tübingen 51975, 50—81). Auch das hier mit im Zentrum stehende stellvertretende Leiden des Gerechten [Messias] und die Wirkung seiner Fürbitte sind uralte und typische religionsgeschichtliche Vorstellungen im Zusammenhang der Messiasidee:

„Und er [= Gott] sagte: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker; damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht. So spricht der Herr, der Befreier Israels, sein Heiliger, zu dem tief verachteten Mann, dem Abscheu der Leute, dem Knecht der Tyrannen [...]: Zur Zeit der Gnade will ich dich erhören, am Tag der Rettung dir helfen. Ich habe dich geschaffen und dazu bestimmt, der Bund zu sein für das Volk, aufzuhelfen dem Land und das verödete Erbe neu zu verteilen.“ (Jesaja 49, 6—8 / 2. Lied vom Gottesknecht)

„Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück. Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen, und denen, die mir den Bart ausrissen, meine Wangen. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel. Doch Gott, der Herr, wird mir helfen; darum werde ich nicht in Schande enden. Deshalb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kiesel; ich weiß, dass ich nicht in Schande gerate. Er, der mich freispricht, ist nahe. Wer wagt es, mit mir zu streiten? Lasst uns zusammen vortreten! [...] Wer kann mich für schuldig erklären? Seht: Sie alle zerfallen wie ein Gewand, das die Motten zerfressen.“ (Jesaja 50, 5—9 / 3. Lied vom Gottesknecht)

„Seht, mein Knecht hat Erfolg, er wird groß sein und hoch erhaben. Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen. Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen, Könige müssen vor ihm verstummen [...] Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen. Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf. Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden Jesaja Reichskroneabgeschnitten und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen. Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war. Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht), er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen. Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich. Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein.“ (Jesaja 52, 13—15, 53, 3—12 / 4. Lied vom Gottesknecht) [Bild rechts: Der messianische Prophet Jesaja und König Ezechias (Hiskia); Bildplatte der Reichskrone (10. Jh.) des Sacrum Romanum Imperium, des angesehendsten und langdauerendsten Herrschaftssymbols der Geschichte und Inbegriffes des messianischen Reiches]

Die Messiasidee in der Religionsgeschichte

Wir sagten: Das Messiaskonzept ist nicht exklusives Eigengut der Tora, sondern thematisiert eine in der Religionsgeschichte häufige Perspektive und Erwartung. Die Messiaserwartung wurde und wird daher mit belastbaren Gründen zur gesamtmenschlichen Uroffenbarung gerechnet. Bekanntester Referenztext ist das sogenannte Protoevangelium Genesis 3, 15: "Feindschaft setze ich [= Gott] zwischen dich [= Satan] und die Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Er [= der Messias] zermalmt dir den Kopf und du triffst ihn an der Ferse." — Wir "sehen ..., daß gewisse Ideen der heidnischen Völker (Wiederkehr des goldenen Zeitalters, endgültige Überwindung des Bösen, Heilandserwartung) deutlich auf diese Verheißung zurückgehen oder sie wenigstens voraussetzen. Was die neuere religionsgeschichtliche Forschung hierüber zu Tage gefördert hat, bildet eine glänzende Bestätigung der ... Überlieferung, daß die Verheißung eines Erlösers ... aus der Uroffenbarung stammt [...] die ihren gemeinsamen Ursprung in einer alten gemeinsamen Quelle haben muß, weil sie sich in den Hauptzügen bei allen alten und ältesten Kulturvölkern findet. Bei ihnen ist die Erinnerung an die paradiesische Urzeit und den Fluch der Sünde geblieben; sie erwarten einen Retter, der die Segenszeit bringen soll. Sind auch die einzelnen Züge vielfach abgeblaßt, ins Mythische verzerrt, auf das Materielle und Politische übertragen, so sind sie doch nicht bis zur Unkenntlichkeit verwischt." (Schuster / Holzammer: Handbuch zur Biblischen Geschichte. I Das Alte Testament, Freiburg im Breisgau 81925, 123) Vgl. zur grundsätzlichen religionsphilosophischen Evaluation des Themas Uroffenbarung die Menus Vorgeschichte und Kosmologie der Tora sowie Vorgeschichte in der Tora.

 

Hierzu einige kurze Hinweise, so z.B. das dem chinesischen Philosophen und kaiserlichem Archivar Laotse (= Der Alte oder Alter Meister) aus dem 7. vorchristlichen Jahrhundert zugeschriebene Werk Tao te king (oder Dào Dé Jīng resp. Dàodéjīng): „Der Berufene ... umfasst das Eine und ist der Welt Vorbild. Er will nicht selber scheinen, darum wird er erleuchtet. Er will nichts selber sein, darum wird er herrlich. Er rühmt sich selber nicht, darum vollbringt er Werke. Er tut sich nicht selber hervor, darum wird er erhoben.“ (Nr. 22) Und: „Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt nichts ihm gleich. Es kann durch nichts verändert werden. Daß Schwaches das Starke besiegt und Weiches das Harte besiegt, weiß jedermann auf Erden, aber niemand vermag danach zu handeln. Also auch hat ein Berufener gesagt: ‚Wer den Schmutz des Reiches auf sich nimmt, der ist der Herr [...] Wer das Unglück des Reiches auf sich nimmt, der ist der König der Welt.‘ Wahre Worte sind wie umgekehrt [paradox].“ (Nr. 78)

 

In der indoarischen altpersischen Religion des Iran entspricht ihr die Erwartung des Erlösers und Priesterkönigs Sosiosch, welcher die heilsmäßige (soteriologische) Entsprechung zum Urmenschen ist und Besieger des durch eine Schlange symbolisierten Ahriman und seiner Daevas (Dämonen). Im Brahmanismus verbindet man bekanntlich mit Vischnu die Vorstellung, dass er als Messias in 10 Inkarnationen auftritt (sog. Avataras), wobei die 10. Inkarnation ein messianisches Reich herbeiführen soll. Bei den Griechen sind hierzu die sagenhaften Nachrichten (i) von der ersten sterblichen Frau Latona und ihrer und ihrer Götterkinder Artemis und Apoll Verfolgung durch den Drachen Pytho zu vergleichen in Verbindung mit dem Glauben, dass am Ende des eisernen Zeitalters Apoll als Erlöser wiederkehre und ein neues goldenes Zeitalter einleite; und (ii) vom moralischen Fall des ersten sterblichen Menschen Prometheus und dessen künftiger Erlösung durch einen inkarnierten Sohn des Zeus (Apollo oder Herakles). Auch der germanische Mythos kennt die messianische Idee, insofern (i) Baldur und v.a. Thor als die ersten Söhne der Stammeltern Ask (Esche) und Embla (Ulme) der Menschen von Midgard im Kampf gegen die überweltliche Midgard-Schlange stehen, wobei Thor am Ende, in der Götterdämmerung, Sieger bleibt. Und (ii) tritt auch Sigurd oder Siegfried als mythischer Messias, Besieger des Drachens, Eroberer des Hortes des Goldenen Zeitalters, Erlöser Brunhildes einschließlich seines schließlichen Märtyrertodes durch Hagen ins Bewusstsein.

 

Es scheint ferner, dass sich dieselbe Idee bei den Azteken findet, in ihrem Glauben von der Wiederkehr Quetzalcoatls mit Abschaffung der Menschenopfer und Wiederbringer des Glückes; sowie im Glauben der Inka an die Wiederkehr der pan-andinen Schöpfergottheit Virakocha, des Hervorbringers und Zivilisationsbringers der ersten Menschen, und Vollziehers des Gerichtes der Sintflut. Es ist ebenfalls oft erörtert worden, dass die Jahrhunderte der Antike vor und nach der Zeitenwende eine ausgesprochene Erlösungs- und Messiassehnsucht zeigen (zuweilen auch mit Erwartung eines messianischen Herrschers aus dem Orient), wovon Anklänge bei Tacitus (Historien 5, 13), Plutarch (Sulla 7,7.8), Vergil (4. Ekloge) Zeugnis geben. Unübersehbar ist diese Sehnsucht sodann greifbar in der außerordentlichen Verbreitung der quasimessianischen Mysterienkulte der Antike zur Zeitenwende, in welchen das Konzept der erlösenden Wiedergeburt in der Nachfolge eines sterbenden und auferstehenden Gottes im Mittelpunkt stand.

Die messianische Ära: Der Tag des Herrn

Es wurde gesagt: Die prophetischen BücherJesaja bis Maleachi stellen eine kommende messianische Ära vor mit der Neutralisierung der nicht-theistischen und ethisch gebrochenen Zivilisationen und deren Eingliederung in die sakrale und politische Elite des Priestervolkes (vgl. Jesaja 2, 1—5). Diese Ära wird als Höhepunkt der Geschichte mit der Vollendung der Tora des Sinaibundes in der Friedenstora eines durch den Messias vermittelten Neuen Bundes Gottes beschrieben. Klassischer Belegtext hierzu ist die Besprechung dieses neuen Bundes bei dem spirituellen Kritiker, Vordenker, Visionär und Berater in den letzten Jahren Jerusalems und Judas vor dem finalen Untergang 587 v. C., Jeremia. Er definiert diesen neuen Bund als einen solchen, der in die Herzen geschrieben sein wird, und in der Mitteilung des göttlichen Geistes an unterschiedslos alle besteht, welche dadurch zu mündigen, eigenverantwortlichen und gleichberechtigten Mitgliedern des Bundes werden:

„Seht, es werden Tage kommen — Spruch des Herrn —, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde, nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war – Spruch des Herrn. Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe — Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein. Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, Klein und Groß, werden mich erkennen – Spruch des Herrn.“ (Jeremia 31, 31—34)

Der Eintritt und die Verwirklichung dieser Zukunftsvision wird mit dem Begriff „Tag JHWHs“ beschrieben. Dieser Tag meint einen Tag des Gerichtes über alle gegen das Göttliche stehenden Mächte innerhalb und außerhalb Israels, der zugleich ein Tag des Heiles für die wahren Anbeter JHWHs ist und so eine Scheidung von Toren und Frevlern einerseits und Intelligenten und Gerechten andererseits einschließt. Mit der Perspektive dieses „Tages JHWHs“ in der Fassung des Propheten Maleachi endet die Schriftprophetie des Tanakh; es ist das letzte Wort des Ersten Testamentes:

„Ihr ermüdet den Herrn mit euren Reden und ihr fragt: Wodurch ermüden wir ihn? Dadurch, dass ihr sagt: Jeder, der Böses tut, ist gut in den Augen des Herrn, an solchen Leuten hat er Gefallen. Oder auch: Wo ist denn Gott, der Gericht hält?

Seht, ich sende meinen Boten; er soll den Weg für mich bahnen. Dann kommt plötzlich zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht, und der Bote des Bundes, den ihr herbeiwünscht. Seht, er kommt!, spricht der Herr der Heere. Doch wer erträgt den Tag, an dem er kommt? Wer kann bestehen, wenn er erscheint? Denn er ist wie das Feuer im Schmelzofen und wie die Lauge im Waschtrog. Er setzt sich, um das Silber zu schmelzen und zu reinigen: Er reinigt die Söhne Levis, er läutert sie wie Gold und Silber. Dann werden sie dem Herrn die richtigen Opfer darbringen [...]

[Am Tag des Herrn] werdet ihr wieder den Unterschied sehen zwischen dem Gerechten und dem, der Unrecht tut, zwischen dem, der Gott dient, und dem, der ihm nicht dient. Denn seht, der Tag kommt, er brennt wie ein Ofen: Da werden alle Überheblichen und Frevler zu Spreu und der Tag, der kommt, wird sie verbrennen, spricht der Herr der Heere. Weder Wurzel noch Zweig wird ihnen bleiben. Für euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen und ihre Flügel bringen Heilung [...] Bevor aber der Tag des Herrn kommt, der große und furchtbare Tag, seht, da sende ich zu euch den Propheten Elija. Er wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern, damit ich nicht kommen und das Land dem Untergang weihen muss.“ (Maleachi 2, 17—18; 3, 1—5, 14—15, 19—20, 23—24)

Die messianischen Schriften des christlichen Israel (Neues Testament) knüpfen nahtlos an diesen Schlusstext des Ersten Testamentes, Maleachi 3, an, machen ihn zum Anfangstext des Neuen Testamentes und führen ihn weiter durch die Darlegung und Promulgation der Friedenstora des Messias in den Evangelien. Maleachi sagt an dieser Stelle, wie gezeigt, den Tag des Herrn in der beschriebenen Bedeutung voraus und Elija als dessen Vorbereiter. Das Neue Testament oder die messianische Tora setzt ein mit Johannes dem Täufer als Vorbereiter im Geist des Elija und als wiedergekommener Elija (Matthäus 17,10—13, Markus 9, 11—13, Lukas 1, 17) und mit der Feststellung des Eintrittes des Tags des Herrn (Matthäus 3, 1—12, Markus 1, 1—8; Lukas 3, 1—18; Apostelgeschichte 2, 16—21), sowie mit der Feststellung der emanzipierten Mündigkeit und Inspiration aller Menschen durch das Göttliche: „Jetzt geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: ‚Ich werde meinen Geist ausgießen über alles Fleisch‘“ (Apostelgeschichte 2, 16—21, vgl. Joël 3, 1—5). Bei Maleachi „brennt“ der messianische „Tag des Herrn [...] wie ein Ofen“: Er ist also auch und ganz besonders „der große und furchtbare Tag“ des Gerichts, an dem „alle Überheblichen und Frevler zu Spreu werden [...] der Tag, der kommt, wird sie verbrennen“ (Mal. 3, 19, 23). Auch dies wird von Elija alias Johannes dem Täufer tel quel aufgegriffen:

„Johannes der Täufer [...] verkündete in der Wüste von Judäa: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe. Die Leute von Jerusalem und ganz Judäa und aus der ganzen Jordangegend zogen zu ihm hinaus; sie bekannten ihre Sünden und ließen sich im Jordan von ihm taufen. Als Johannes sah, dass viele Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe kamen, sagte er zu ihnen: Ihr Schlangenbrut, wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht entrinnen könnt? Bringt Frucht hervor, die eure Umkehr zeigt, und meint nicht, ihr könntet sagen: Wir haben ja Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen. Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen [...] Der nach mir kommt [scl. der Messias] ... wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen [...] Er wird die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.“

Der messianische „Tag des Herrn“ ist also nach der Tora ein Gerichtstag für Israel, der nach Art und Umfang in einer Linie steht mit dem seitens der Assyrer vollzogenen Gericht über das Nordreich Israel 722 v. C. (Auslöschung des Staates und Deportation der Bevölkerung) und dem seitens der Babylonier vollzogenen Gericht über das Südreich Juda 587 v. C. (Zerstörung und Niederbrennen Jerusalems, Auslöschung des Staates und Deportation der Bevölkerung). Maleachi und andere Propheten und das messianische Israel betonen dabei, dass der „große und furchtbare Tag“ des messianischen Gerichts diese historischen Entscheidungssituationen und Katastrophen noch einmal überbietet, insofern er eine definitive Entscheidungssituation und das ultimative Gericht ist. Wer zum ersten Mal die messianische Tora des christlichen Israel liest, wird daher durchgängig auf Seiten der Bekenner wie der Feinde Jesus Nazarenus‘ vielleicht mehr als alles andere die Atmosphäre unbedingten, tödlichen Ernstes wahrnehmen, die an eine Schiller'sche Tragödie erinnert. So in dieser bekannten prophetischen Gerichtsrede des das christliche Israel begründenden Messias Jesus Nazarenus (für eine historisch-philologische Diskussion siehe das E-Buch Neues Testament):

„Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! [...] Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz [...] Ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr dem Strafgericht der Hölle entrinnen? Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind [...] Darum wird euer Haus verlassen [...] Die gewaltigen Bauten des Tempels [...] Seht ihr das alles? Amen, das sage ich euch: Kein Stein wird hier auf dem andern bleiben; alles wird niedergerissen werden.“ (Matthäus 23, 15—42, 2)

„Es wird eine Zeit für dich kommen, in der deine Feinde rings um dich einen Wall aufwerfen, dich einschließen und von allen Seiten bedrängen. Sie werden dich und deine Kinder zerschmettern und keinen Stein auf dem andern lassen; denn du hast die Zeit der Gnade nicht erkannt [...] Das sind die Tage der Vergeltung, an denen alles in Erfüllung gehen soll, was in der Schrift steht [...] Der Zorn (Gottes) wird über dieses Volk kommen. Mit scharfem Schwert wird man sie erschlagen, als Gefangene wird man sie in alle Länder verschleppen und Jerusalem wird von den Heiden zertreten werden, bis die Zeiten der Heiden sich erfüllen.“ (Lukas 19, 41—44; 21, 21—24)

Unabhängig vom jeweiligen Glaubensstandpunkt ist Fakt, dass nach dem hier skizzierten messianischen Auftreten Jesus Nazarenus‘, und nach der Zurückweisung und Ächtung dieses messianischen Anspruchs durch die maßgeblichen Autoritäten ein von Seiten der Römer vollzogenes und alles bisherige in den Schatten stellendes Gericht über das alttestamentliche Israel im oben beschrieben Sinn im Jahre 70 n. C. erfolgte: Einschließung, Zerstörung und Niederbrennen Jerusalems und des Tempels, Auslöschung des Staates und Deportation / Versklavung der Bevölkerung. Nach dem jüdischen Historiker der Zeitenwende Flavius Josephus kamen 1 Million Menschen bei der Belagerung um, für welche auch militärisch außerordentliche Maßstäbe galten, insofern das Römische Weltreich hierfür einen Großteil seiner Eliteverbände in 13 um die Stadt errichteten Festungen konzentrieren musste. Die Zerstörung des Tempels erfolgte im Übrigen am selben Tag (9. Ab in der jüdischen Zählung; entspricht in unserem Gregorianischen Kalender wechselnden Daten des Juli / August: 2010 dem 20. Juli) wie der Untergang des ersten Tempels 587 v. C.

Die messianische Ära: Globale Leitkultur

Unabhängig vom jeweiligen Glaubensstandpunkt ist ebenfalls Fakt, dass durch das christliche Israel alias die Katholische Weltkirche die mosaische Tora und die messianische Tora [Evangelien] als deren Vollendung weltweit zur Leitkultur geworden ist. Es ist kaum zu bestreiten, dass das christliche Israel damit die Definition der messianischen Ära im Tanakh (Jesaja 42, 1—8, 49, 1—6 [Erstes und Zweites Gottesknechtlied]) erfüllt, wie es die messianische Tora auch beansprucht (Matthäus 12, 17—21):

„Das [= der Messias] ist mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem ich Gefallen gefunden habe. Ich werde meinen Geist auf ihn legen und er bringt den Völkern das Recht [...] Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus [...] bis er auf der Erde das Recht begründet hat. Auf sein Gesetz warten die Inseln [...] Ich, der Herr [...] habe dich [= den Messias] dazu bestimmt, der Bund für mein Volk und das Licht für die Völker zu sein [...] Ich bin Jahwe [= Ich bin der Seiende], das ist mein Name; ich überlasse die Ehre, die mir gebührt, keinem andern, meinen Ruhm nicht den Götzen.“ 

In unmittelbarer, religiöser Form gilt diese Herkunft aus und grundsätzliche Einbettung in die Weltanschauung von Tora, Tanakh und Neues Testament für 2,1 Mrd. Gläubige des christlichen Israel. Die meisten Kontinente: Europa, Nord- und Südamerika, Australien und inzwischen auch Schwarzafrika verkörpern insgesamt die Kultur und Tradition des christlichen Israel alias der christlichen Kirche. Es lässt sich zeigen, dass die alt- und neutestamentliche Tora resp. Evangelium in religiöser oder säkularisierter Form, bewusst oder unbewusst, für insgesamt 75 % der aktuellen Weltbevölkerung von 6,7 Mrd. Menschen (2008) nähere oder entferntere Grundlage ihres Denkens und Lebens ist. Dass die meisten Gemeinschaften des christlichen Israel andererseits seit 200 Jahren zwischen Liberalismus / Subjektivismus / Agnostizismus  einerseits und Autoritarismus / Traditionalismus / Fundamentalismus andererseits oszillieren und desorientiert und schwächlich erscheinen, ist ebenfalls Fakt und Gegenstand unserer religionsphilosophischen Analyse. Dies hat auch damit zu tun, dass in der Neuzeit und speziell seit 200 Jahren die prophetische Dimension der eigenen Weltanschauung im christlichen Israel weitgehendst verblasst erscheint.

Wir haben dazu herausgearbeitet: Die Sprecher des prophetischen Theismus (Propheten) der Religion treten tatsächlich als Träger einer nach Dauer und Konsequenz singulären Ideologie- und Kultkritik und eines ethisch motivierten Aufklärungs- und Freiheitsprozesses ins Relief. Hauptthema der prophetischen Kritik und des prophetischen Kampfs ist dabei die Vertauschung der Prioritäten zwischen der spirituellen, ethischen Dimension als dem Ziel und der institutionellen, kultischen Dimension als Mittel des Reiches Gottes. Das ist cum grano salis zu verstehen, denn auch die kultische Dimension ist idealerweise höchst ethisch und spirituell und Gotteserkenntnis und Gottesverehrung sind die erste und wichtigste Pflicht. Es geht nur um die Veräußerlichung des Kultes. Auch für die Ära und Verhältnisse des christlichen Israel gilt dabei: Die institutionellen Vertreter des Reiches Gottes in der kultischen Dimension und in der politischen Dimension handeln und handelten oft gegen die ethische, spirituelle Dimension, d.h. gegen Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit und mit Lüge und Gewalttätigkeit, in Heuchelei und Korruption. Die prophetische Kritik im alttestamentlichen und neutestamentlichen Israel macht regelmäßig diesen Sachverhalt für Niedergang, Verderbnis und Gericht über die jeweilige soziale Gruppe, Schicht oder Zivilisation verantwortlich.

Wer mit der Literatur des Christentums, des Israel Gottes, vertraut ist, wird in Quellentexten der Antike und des Mittelalters diese zugleich selbstbewusste und furchtlos selbstkritische prophetische Dimension passim vorfinden, später jedoch weniger und weniger. Man vergleiche nur das maßgebliche Geschichtswerk des christlichen Israel für die ersten drei Jahrhunderte der Verfolgungs- und Martyrerzeit, die Kirchengeschichte des Bischofs Eusebius von Cäsarea. Eusebius definiert die systematische und meist tödliche Verfolgung von Christen seiner Generation (ca. 250—300 n. C.) seitens des heidnischen Römischen Kaisers Diokletian in genuin prophetischer, d.h. theologischer und ethischer Interpretation der Geschichte als

„göttliches Strafgericht“, da „infolge zu großer Freiheit unser Sinn zu Stolz und Lässigkeit sich kehrte, indem der eine den anderen beneidete und beschimpfte und [...] unaussprechliche Heuchelei und Verstellung den höchsten Grad ihrer Bosheit erreichten [...] Blind wie wir waren, mühten wir uns nicht, wie wir die Gottheit freundlich und gnädig stimmen könnten [...] und häuften Sünde auf Sünde. Und die unsere Hirten schienen, schoben das Gesetz der Gottesfurcht beiseite [...] Streit und Drohung und Neid und gegenseitigen Groll und Hass zu mehren, war all ihr Tun. Leidenschaftlich verteidigten sie gleich Tyrannen ihre Machtgier. Da ‚umwölkte — wie Jeremias sagt [Klagelieder 2, 1f] der Herr in seinem Zorne die Tochter Sion und warf vom Himmel herab die Herrlichkeit Israels [...] Auch versenkte der Herr alle Anmut Israels und zerstörte alle seine Zäune‘. ‚Er vernichtete — nach dem, was vorausverkündet ist in den Psalmen [Psalm 88, 40—46] — den Bund seines Knechtes und entweihte — durch die Zerstörung der Kirchen — zur Erde sein Heiligtum und zerstörte alle seine Zäune und nahm seinen Festungswerken die Kraft. Die Haufen des Volkes, alle, die des Weges kamen, plünderten es, und überdies wurde es den Nachbarn zum Spott. Er erhob die Rechte seiner Feinde [...] und stürzte seinen Thron zur Erde und [...] goß zu all dem Schmach über ihn aus.‘ Das alles ist in unserer Zeit in Erfüllung gegangen. Denn mit eigenen Augen haben wir gesehen, wie die Bethäuser ... niedergerissen und ... die ... heiligen Schriften mitten auf den öffentlichen Plätzen verbrannt wurden, wie die Hirten der Kirchen ... schmählich gefangengenommen und von den Feinden verhöhnt wurden. Nach einem anderen Prophetenwort [Psalm 106, 40] ‚ward Verachtung über die Herrscher ausgegossen und ließ er sie irregehen in unwegsamer Öde ohne Pfad.‘“ (Eusebius von Cäsarea: Kirchengeschichte, München 21981, 361—363)

Geschichtstheologie der messianischen Ära

In der katholischen oder globalen Weltkirche des Christentums, dem Israel Gottes (Paulus), ist ansonsten die ausführlichste und einflussreichste Behandlung dieses Kampfes der Kulturen zwischen Weltstaat und Gottesstaat einmal Augustinus‘ Monumentalwerk Vom Gottesstaat, das in obigem Abschnitt ‚Antike Vorurteilsstruktur‘ vorgestellt wurde; zum anderen Otto von Freisings (1112—1158 n. C.) geschichtstheologisch reflektierte Weltchronik (entstanden 1143—1146), die als Höhepunkt mittelalterlicher Geschichtsschreibung gilt:

In der Weltchronik liegt das Denken eines Mannes aus den ersten und mächtigsten Familien des Heiligen Römischen Reiches und damit der westlichen Zivilisation vor: Sein Großvater ist der Salierkaiser Heinrich IV (1056—1105), sein Onkel der Salierkaiser Heinrich V. (1106—1125), der Stauferkönig Konrad III. (1138—1152) ist Ottos Halbbruder, Ottos Vater ist der hl. Markgraf Leopold III. von Österreich (1095—1136), sein Bruder Leopold IV. ist Herzog von Bayern, sein Bruder Heinrich II. ist Herzog von Österreich, sein Bruder Adalbert ist Schwager des Königs von Ungarn Belas II., seine Schwester Gertrud Herzogin von Böhmen, seine Schwester Agnes Herzogin Otto von Freising Heiligenkreuz 1295von Polen. Ein weiterer Bruder, Konrad II., ist Erzbischof von Salzburg. Neben dieser einzigartigen politischen Stellung und Erfahrung schöpft Ottos Denken aus dem Studium in Paris, dem intellektuellen Zentrum der Epoche, bei dem führenden, aus Sachsen stammenden, Gelehrten Hugo von St. Viktor (1097—1141). Dieses Denken schöpft auch religiös aus erster Hand, aus dem persönlichen Kontakt mit der spirituellen Leitfigur der Epoche, Bernhard von Clairvaux (1090—1153): Otto tritt 1133 in den vom hl. Bernhard geführten Zisterzenserorden ein. In Morimund, einem der Mutterklöster, hat er als Abt ab 1138 Führungsfunktionen inne. Dieses Denken schöpft schließlich aus der aktiven Mitgestaltung der Zeitgeschichte in führender Stellung: Als Bischof von Freising (ab 1145) übernimmt Otto diplomatische Missionen, so im Auftrag des deutschen Königs bei Papst Eugen III. in Rom 1147, oder begleitet internationale militärische Missionen, so zusammen mit seinem Bruder, König Konrad III. auf dem Kreuzzug in den Nahen Osten 1148. Und auch Ottos opus magnum selbst gewinnt weltpolitische Bedeutung, als er es in überarbeiteter Fassung seinem Neffen, dem jungen Kaiser Friedrich I Barbarossa 1157 als Grundsatzprogramm seiner Regierung überreicht. [Bild links: Otto von Freising, Glasmalerei ca. 1295, Zisterzienserstift Heiligenkreuz, Wienerwald]

An Quellen hat Otto direkt oder indirekt das gesamte verfügbare Material berücksichtigt und eingearbeitet. Neben Tora und Tanakh (Altes Testament) und Flavius Josephus' (37—100 n. C.) Jüdische Geschichte sind dies die maßgebliche Ägyptische Geschichte Manethos (250 v. C.) und die ebenfalls maßgebliche Babylonische Geschichte Berossus' (250 v. C.). Sodann die Standardwerke von Livius (59 v. C.—17 n. C.) und Dio Cassius (163—229 n. C.) zur Römischen Geschichte, von Eusebius von Cäsarea (260—340 n. C.) zur Weltchronik und zur Kirchengeschichte, des Paulus Orosius (385—418 n. C.) zur Weltgeschichte, des Cassiodor (485—580 n. C.) zur Weltchronik und Kirchengeschichte sowie zur Geschichte der Ostgoten, des Tiro Prosper (390—455) zur Weltchronik, des Isidor von Sevilla (560—636) zur Weltchronik und zur Geschichte der Westgoten, des Gregor von Tours (538—594) zur Geschichte der Franken, des Paulus Diaconus (Paul Warnefried) (725—799) zur Geschichte der Langobarden, des Beda Venerabilis (672—734) zur Geschichte der Angelsachsen, des Wittekind von Corvey (925—973) zur Geschichte der Sachsen. Last but not least stehen Pate die unmittelbaren Vorgängerwerke des Regino von Prüm (Trier) (840—915) und des Frutolf von Michaelsberg (Bamberg) (+ 1103) zur Weltgeschichte.

Ein Alleinstellungsmerkmal von Ottos Werk ist schließlich, dass er praktisch als einziger Historiker die Geschichtstheologie des Alten und Neuen Testaments und des Gottesstaates von Aurelius Augustinus (354—430) programmatisch fortsetzt und methodisch aktualisiert. Otto nennt selbst als die beiden maßgeblichen Quellen Augustinus' Gottesstaat für die Geschichte des Heils oder der Kirche, und Paulus Orosius' Weltgeschichte für die Geschichte.des Unheils oder des Weltstaates. Auch das Werk des spanischen Presbyters Orosius verdankt sich der Initiative Augustins, der dasselbe angeregt hatte; es wurde im westlichen, lateinischen Kulturraum für ein Jahrtausend das hauptsächliche Referenzwerk der Profangeschichte bis zur Spätantike. Die Zielsetzung der Chronik ist, so Otto, eine Bestandsaufnahme und ethische Bewertung der Geschichte durch Verdichtung und Verschmelzung beider Werke; eine Phänomenologie der Geschichte, welche dem Einzelnen wie dem Staat einen freien, realitätsdichten Ausblick.auf das Leben gestattet.

Ottos Beweisabsicht ist insbesondere, dass der Lauf der profanen Welt so sehr eine Serie von Unfähigkeit, Unheil und Unglück ist, dass es absurd wäre, darein den Lebenssinn und Weltzweck zu setzen. Auch die vom Gottesstaat beseelte und kultivierte Sphäre der Welt ist, wie Geschichte und Lebenserfahrung zeigen, immer wieder menschlichen Fehlern und Unzulänglichkeiten und damit dem rastlos drehenden Rad der Fortuna ausgesetzt, so dass nur der archetypische spirituelle Gottesstaat Halt und Heimat bietet und Heil und Sieg über den Weltstaat ermöglicht: Von der transzendent-immanenten Metaebene der Stadt Gottes her wird, so Otto, immer von neuem der Weltstaat neutralisiert und die Welt spiritualisiert  Otto ist ein sehr reflektierter Autor von intellektueller Wahrhaftigkeit, unparteischem Gerechtigkeitssinn, und moderner Sensibilität in Empfinden und Ausdruck, was sich erst bei der Kenntnisnahme des lateinischen Originals in vollem Umfang erschließt.

Die zentrale geschichtstheologische These des Werks ist dieselbe wie in der Tora (Pentateuch) und in den Geschichtsbüchern des Tanach (Altes Testament) oder bei Augustinus: Seit der Vor- und Frühgeschichte stehen sich zwei Kulturen oder Staaten gegenüber: der ethische Gottestaat und der amoralische Weltstaat. Augustinus identifizierte nun tendenziell den Gottestaat mit der Kirche und ordnete die politische Sphäre eher dem Weltstaat zu. Otto vertritt wie die Tora und die Propheten ganz selbstverständlich die offizielle Position der Römischen Kirche und der Ostkirchen seit der Väterzeit, dass in der christlichen Gesellschaft Staat und Kirche zwei koordinierte Ebenen im Gottesstaat bilden:

"Es ist so klar wie der Tag, dass Christus nicht nur im Himmel herrscht, sondern auch auf Erden allen Königen gebietet. Daher singt die Christenheit zu seinem Lob das schöne Prophetenwort am Fest der Erscheinung des Herrn (Heilige Drei Könige, Introitus der Festmesse): 'Seht gekommen ist als Herrscher der Herr, und in seiner Hand ist Königtum und Macht und Herrschaft' [Malachias 3, 1; 1 Chronik 29, 12 ...] Und zum Offertorium desselben Festes singen wir aus den Psalmenbuch: 'Und anbeten werden ihn alle Könige der Erde, alle Völker werden ihm dienen.' [Psalm 71, 10—11 ...] Es wird damit bekundet, dass ihm ... die Alleinherrschaft über die gesamte Welt gehört [...] Der Fürst und Stifter des Gottesstaates wurde Bürger des römischen Weltstaates, ..., um dadurch zu zeigen, dass er dazu gekommen war, um auf wunderbare, unsagbare Weise aus dem Staate der Welt seinen Staat zu machen." (Chronik III, 6) Zugleich greift Otto aber auch Augustinus' Reserve dergestalt auf, dass ihn vorrangig die immer und überall festzustellende Gefährdung dieser Symbiose und Synthese zwischen Staat und Religion im ethischem Gottesstaat beschäftigt. Ein ihn tief prägendes Schlüsselerlebnis ist dabei der weltgeschichtliche Konflikt zwischen seinem Großvater Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII.

Die zeitgeschichtliche Analyse führt Otto daher dazu, den stabilen Kernbereich des Gottestaates — theologisch korrekt — im spirituellen Bereich zu sehen, wobei er namentlich die aszetische Lebensform der Orden in den Raum stellt. Dies umso mehr als deren dynamische Erfolgsgeschichte das mit hervorstechendste Charakeristikum der Zeit ist: Der Zisterzienserorden Bernhards wächst noch zu dessen Lebzeiten von 1118 bis 1153 auf 350 Klöster an und bis 1300 n. Chr. auf 700 effizient organisierte Abteien, welche bekanntlich u.a. die heutigen deutschen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg und Sachsen wirtschaftlich, zivilisatorisch und kirchlich erschließen und entwickeln. Und der vom hl. Norbert von Xanten 1120 gegründete Prämonstratenserorden zählte 15 Jahre später bereits 100 Klöster und nach 100 Jahren 1000 Niederlassungen. Aber noch einmal: Die anzustrebende und verpflichtende Normalität ist die Symbiose und Synthese zwischen Staat und Religion im ethischem Gottesstaat, die Otto neuerdings in seinem Neffen Friedrich I. Barbarossa erstarken sieht. Der Wiedergewinn des Sollzustandes nimmt eine drückende Last von Ottos Gemüt, erhebt seinen Geist und schenkt ihm unerwartete Kraft und Freude. Das spiegelt das zweite große literarische Werk Ottos, die Biographie Friedrich Barbarossas — ein Klassiker historisch-philologischer Gründlichkeit, fachübergreifender Wertung und  literarisch anziehender Darstellung und unsere Hauptquelle für die Epoche.

Das spirituelle Axiom der messianischen Ära

Der Leidensknecht: Definitiver Aufklärer

Dass bei Otto von Freising die aszetische Lebensform immer stärker in den Mittelpunkt rückt, führt ohne weiteres zu der uns hier abschließend beschäftigenden Frage nach dem spirituellen Grundgesetz des messianischen Reiches. Auch die oben vorgestellte Definition des Messias als Leidensknecht bei Jesaja führt natürlich unmittelbar zur Frage, wie ein „tief verachteter Mann“ und „Abscheu der Leute“ die Bestimmung haben kann, „der Bund zu sein für das Volk, aufzuhelfen dem Land und das verödete Erbe neu zu verteilen“ (Jesaja 49). Wie ein „Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut, viele Völker in Staunen setzen kann, so dass Könige vor ihm verstummen müssen.“ (ebd.) Nun, wir haben die Antwort oben kennengelernt: „Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. [...] Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen [...] Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen. Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis.“ (Jesaja 52—53)

Aischylos' Einsicht

Der letzte Satz hebt besonders ins Relief, dass großes, ja extremes mentales, physisches und soziales Leid das Licht maximaler Aufklärung und Erkenntnis erzeugt, umfassendes und tiefes Wissen. In der Weisheitsliteratur des Alten Testamentes heißt es einmal: „Wer nicht gelitten hat, was kann der schon wissen?“ In vielen Sprachen gibt es Sprichwörter, die denselben Sachverhalt ausdrücken. Eine der bekanntesten Formulierungen ist Carlyles Sentenz "No pressure, no diamonds". Wirkliche Weisheit ist eine Funktion von Leiden. Und überlegene Weisheit korreliert mit maximalem Leidensdruck. Eine besonders prägnante Formel hat hierfür Aischylos, der große alte Mann der attischen Tragödie, geprägt: "Durch Leiden Lernen" (pathei-mathos). Man könnte auch übersetzen: "Leidens-Wissen" oder wörtlich sogar "Passions-Mathematik".

Die moderne Hermeneutik setzt — mit anderem Akzent und aus anderer Perspektive als die Leidensknechtlieder — diese Einsicht in das Zentrum der menschlichen lebensweltlichen Erfahrung und damit mittelbar auch der Erkenntnis- und Handlungstheorie: "Aischylos ... hat die Formel gefunden, oder besser in ihrer metaphysischen Bedeutung erkannt, die die innere Geschichtlichkeit der Erfahrung aussagt: 'Durch Leiden Lernen'" (Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, 362). Wieso dies so zentral ist, erläutert Gadamer wie folgt: "Die Wahrheit der Erfahrung [...] setzt notwendig mannigfache Enttäuschung von Erwartungen voraus und nur dadurch wird Erfahrung erworben. Daß Erfahrung vorzüglich die schmerzliche und unangenehme Erfahrung ist, bedeutet nicht etwa eine besondere Schwarzfärberei, sondern läßt sich aus ihrem Wesen unmittelbar einsehen. Nur durch negative Instanzen gelangt man, wie schon Bacon gewußt hat, zu neuer Erfahrung [...] Einsicht ist mehr als die Erkenntnis dieser oder jener Sachlage. Sie enthält stets ein Zurückkommen von etwas, worin man verblendeterweise befangen war. Insofern enthält Einsicht immer ein Moment der Selbsterkenntnis [...] Auch das ist am Ende eine Bestimmung des menschlichen Seins selbst, einsichtig und einsichtsvoll zu sein [...] Es ist am Ende eine religiöse Erkenntnis – diejenige Erkenntnis, aus der die Geburt der griechischen Tragödie erfolgt ist. Erfahrung ist also die Erfahrung der menschlichen Endlichkeit. Erfahren im eigentlichen Sinne ist ... wer weiß, daß er der Zeit und der Zukunft nicht Herr ist [...] Die Erfahrung lehrt, Wirkliches anzuerkennen." (a.a.O. Tübingen 1990, 361—363)

Theresa von Avila trifft Laotse

Dieselbe Formel bzw. dasselbe Axiom gilt zweitens auch für das Glück. Maximales Glück ist eine Funktion von Aszese und Leidensbereitschaft. Oder, wie Teresa von Avila einmal sagt: "Alles ist langweilig, außer kämpfen und leiden für Gott".

Dasselbe Axiom gilt drittens auch für Macht und Erfolg: Echte, ultimative Macht über den Planeten ist eine Funktion konsequenter Aszese und mehr noch körperlicher, seelischer, spiritueller, sozialer und ökonomischer Grenzbelastungen alias Leiden. Vgl. Laotses Beschreibung des Berufenen im Tao te king: „Wer den Schmutz des Reiches auf sich nimmt, der ist der Herr [...] Wer das Unglück des Reiches auf sich nimmt, der ist der König der Welt.‘ Wahre Worte sind wie umgekehrt [paradox].“ So ist es.

Meisterschüler des Leidensknechtes

Die meistgelesene systematische, wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Axiom bietet Johannes vom Kreuz (1542—1591). Er gilt als die klassische Autorität der Römischen Kirche für das Feld der spirituellen oder mystischen Theologie. Er verarbeitet die gesamte biblische und patristische Tradition hierzu in seinem Oeuvre. Die mystische Theologie und damit das hier in Rede stehende Thema ist nicht ein esoterisches Orchideenfach, sondern — theoretisch — das Kernfach und — moralisch — das Hochziel des prophetischen Theismus des Alten und Neuen Testamentes. Hierfür stehen besonders der biblische Theologe par excellence Johannes Evangelista und der patristische Theologe par excellence Gregor von Nazianz (+ 390). Deren in den orientalischen Kirchen diesbezüglich besonders lebendiges Fortleben dokumentiert Friedrich Heiler: Die Ostkirchen, München/Basel 1971, 95—151, 276—293. Weitere spirituelle Meister der Frühkirche sind im 2./3. Jh. die Direktoren der Theologischen Hochschule in dem globalen Bildungszentrum Alexandrien Clemens von Alexandrien und Origenes, sowie in der nächsten Generation Gregor von Nyssa und (Pseudo-)Dionysius Areopagita.

Eine komprimierte Übersicht und Diskussion hierzu finden Interessierte in den Abhandlungen Kritik der spirituellen Vernunft. Die negative Theologie und die Nacht der Sinne und des Geistes nach Joannes a cruce (1542—1591) sowie v.a. Kritik der spirituellen Vernunft (II) Spirituelle Wissenschaft und Gotteserfahrung nach Johannes vom Kreuz. Unser besonderer Akzent ist dabei, die hier einschlussweise vorliegende spirituelle Erkenntnistheorie und Ontologie herauszuarbeiten. Exkurse verorten besonders zentrale Themen der spirituellen Gotteserkenntnis in der interdisziplinären Diskussion der Gegenwart. Wir beschränken uns in vorliegendem Zusammenhang auf eine Wiedergabe der folgenden 10 Thesen Johannes vom Kreuz‘:

(1) Bedingung der spirituellen Gotteserfahrung ist Selbsterkenntnis und seelische Gesundung unter allseitigem Leidensdruck und Grenzbelastungen. (2) Die Grenzbelastungen sind (i) sozialer Druck, Versuchung und Angst — (ii) sinnliche Versuchungen und körperliche Krankheiten — (iii) seelische Qual, Verlassenheit, Versuchung und Finsternis. (3) Spirituelle Wissenschaft führt zu einem erweiterten kognitiven Modus: Erfahrung der noumenalen Welt der platonischen Ideen resp. der kantischen Dinge an sich (4) Spirituelle Wissenschaft ist Rückkehr nach Eden: Ultimative Würde, Schönheit und Wonne. (5) Spirituelle Gotteserfahrung hat Persönlichkeitsmaximierung zum Resultat. (6) Spirituelle Wissenschaft ist definitives Wissen. (7) Spirituelle Wissenschaft ist ultimative Macht. (8) Spirituelle Wissenschaft gibt maximale Anmut und Würde. (9) Spirituelle Wissenschaft ist Erkenntniszuwachs und Lustgewinn durch Leidensengagement. (10) Spirituelle Menschen sind Götter und Göttinen.

Mythenerzähler und Theaterwelten

Das Alte wie das Neue Testament definiert spirituelle Menschen als Götter und Göttinen (Psalm 82, 6; Johannes 10, 34—35), „beflügelt durch nie ermüdende überlegene Kraft“, während die Völker der Weltmenschen samt ihren Herrschern und Richtern „wie ein Nichts“ sind, wie „verdorrendes Gras“ und ein „Stäubchen auf der Waage“ (Jesaja 40, 7—8, 15.17.23.31). Ich glaube, jeder, der seine fünf Sinne beisammen hat, wird Leo XIII. nicht von vorne herein abtun, wenn er in derselben Linie materialistische postchristliche Gesellschaften als Talmistaaten mit Zombiepopulationen charakterisiert (siehe in Folge). Also verdorrendes Gras und ein Nichts. Ihr politisches, mediales, ökonomisches establishment, ihre Mächtigen erscheinen wie Puppen. Auch die Puppenspieler erscheinen wie Mythenerzähler, die in medialen Theaterwelten Pseudomacht und Selbstbestätigung suchen, indem sie — um noch einmal das Bild zu bemühen — die Puppen tanzen lassen und leichtgläubigen Zuschauern ideologische Fabelmärchen und inszenierten Angst und Schrecken präsentieren.

Leitmotiv von Psalter und Offizium (Stundengebet)

Außerhalb der virtuellen Welt des Theaters, in der realen Welt, interessiert das niemanden. Der Ewige „lacht und spottet“ über den Aufwand, über den Aufstand der Nichtse (Psalm 2). Die reale Welt ist eine andere. Sie folgt dem hier in Rede stehenden spirituellen Axiom: Nicht Geld, Lüge und Gewalt, sondern Aszese, Kreuzeswissenschaft und Leidensdruck schafft genuine Wissenschaft, definitives Glück und ultimative Macht über Dinge, Menschen und Völker. Das ist das Kernthema der Psalmen und damit des offiziellen Stundengebetes alias Göttlichen Officiums der Weltkirche des messianischen Israel. Insbesondere ist es das zentrale Thema der großen biographisch/messianischen Psalmen des Stundengebetes, die wir in Folge in der traditionellen Leseordnung der Römischen Kirche vorstellen (Zählung LXX/Vulgata): Psalm 117 (Prim Sonntag), Psalm 17 (Matutin Montag), Psalm 30 (Sext Dienstag), Psalm 34 (Matutin Mittwoch), Psalm 68 (Matutin Donnerstag), Psalm 21 (Prim Freitag) und Psalm 101 (Terz Samstag). Unser Axiom ist aber auch zentrales Thema der kompakteren Psalmen 29 (Matutin Montag), 114 (Vesper Montag), 37 (Matutin Dienstag), 38 (ebd.), 24 (Prim Dienstag), 39 (Terz Dienstag), 40 (Sext Dienstag), 41 (ebd.), 54 (Terz Mittwoch), 55 (Sext Mittwoch), 56 (ebd.), 58 (Non Mitwwoch), 83 (Laudes Freitag), 142 (Laudes II Freitag), 79 (Terz Freitag), 139 (Vesper Freitag), 108 (Non Samstag), 87 (Komplet Samstag), 102 (ebd.).

Diese Psalmen reflektieren und meditieren nicht nur individuelle Prüfungen, Dramen und Lebenswege inkl. — in prophetischer Perspektive — praktisch aller Stationen der Messiasbiographie. Sondern diese "Qualen der Unterwelt" und Verfolgungen sind in der Regel verschränkt mit einer geistesgeschichtlichen und geopolitischen Mission. Siehe besonders die Psalmen 17, 21, 34, 83 und 117. Das eigentliche Psalmenbuch beginnt — nach der später beigefügten Einleitung von Psalm 1 — mit dem Psalm 2 über die spirituelle und geopolitische Herrschaft des messianischen Gottkönigs: "Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt [...] Ich gebe dir die Völker zum Erbe und zum Eigentum die Enden der Erde. Du wirst sie zerschlagen mit eisernem Stab, wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern. Nun denn, ihr Könige, kommt zur Einsicht, lasst euch warnen, ihr Richter der Erde. Mit Furcht dient dem Herrn [...] damit er nicht zürnt und euer Weg sich nicht verliert". Und das Psalmenbuch endet mit dem Psalm 149 über die von der Kirche und Zivilisation des Messias verwirklichte spirituelle und geopolitische Gottesherrschaft (der Psalm 150 ist lediglich eine Schlussdoxologie): "Singt dem Herrn ein neues Lied; Sein Lob erschallt in der Kirche der Heiligen [...] Er wird die leidbewährten Sanftmütigen erhöhen und heilen. Der Jubel Gottes ist auf ihen Lippen und zweischneidige Schwerter in ihren Händen, um unter den Nationen Vergeltung zu üben, das Strafgericht über die Völker. Um ihre Könige mit Fesseln zu binden, ihre Fürsten mit eisernen Ketten, um über sie das [in Psalm 2] proklamierte Gericht zu vollziehen. Dies ist das Ehrenamt seiner Heiligen."

Zu diesem „messianischen und theokratischen ... Horizont“ des Psalmenbuches folgende Bilanz der aktuellen Forschung: „Von den Rahmenpsalmen 1–2 und 146–150 her ist offenkundig, dass der Psalter ein Lobpreis der universalen in Schöpfung und Tora grundgelegten Gottesherrschaft ... ist, die JHWH durch seinen auf dem Zion eingesetzten (messianischen) König (vgl. Ps. 2) und durch sein messianisches Volk (vgl. Ps 149) inmitten der Völkerwelt in einem eschatologischen Gericht durchsetzen will. Diese messianische Perspektive wird dadurch unterstrichen, dass an makrostrukturell wichtigen Stellen des Psalmenbuchs ‚Königspsalmen‘ und ‚Davidspsalmen‘ stehen, die einerseits auf einen messianischen König und andererseits auf ein messianisches Volk ... hin gelesen werden können [...] In der Gesamtarchitektur des ... Psalmenbuches markieren die Königspsalmen ... eine königstheologische bzw. eine messianische Perspektive“ (Zenger, E. / Fabry H.-J. / Braulik, G. et al.: Einführung in das Alte Testament. Mit einem Grundriss der Geschichte Israels von Christian Frevel, Stuttgart 72008, 357).

Eine sehr starke indirekte Bestätigung dieses Zusammenhanges ist die Theologie des christlichen, d.h. messianischen Israel. Denn die Messianische Tora der Evangelien handelt nur und genau von der in Rede stehenden „universalen ... Gottesherrschaft ..., die JHWH durch seinen auf dem Zion eingesetzten (messianischen) König (vgl. Ps. 2) und durch sein messianisches Volk (vgl. Ps 149) inmitten der Völkerwelt ... durchsetzen will“. Und deswegen ist „die neutestamentliche Christologie [= Lehre oder Theologie des Messias] ... weithin ‚Psalmen-Christologie‘. Gut ein Drittel aller neutestamentlichen Zitate im NT stammt aus dem Psalter. Mit keinem anderen Teil ihres Ersten Testamentes waren die Christen in gleicher Weise vertraut – die Adressaten der neutestamentlichen Schriften ebenso wie ihre Verfasser.“ (Zenger a.a.O. 2008, 369)

Leidensmathematik und Politische Theologie

Das in Rede stehende spirituelle Axiom erfährt schließlich eine dramatische Verdichtung in der Apokalypse, dem abschließenden prophetischen Buch des Neuen Testamentes zu den finalen Phasen der Erdgeschichte: Aufgeklärte (= gläubige) und spirituelle (= gerechte und heilige) Menschen sind „Könige und Priester“ (Apokalypse 1, 6) des durch den Messias begründeten spirituellen Israel resp. neuen Jerusalems, das „die Herrlichkeit Gottes erleuchtet“, in dessen „Licht die Völker einhergehen und wohin die Könige der Erde ihre Pracht bringen“ (ebd. 21, 23—24). Für die größte Religion der Erde und Milliarden ihrer Bekenner gilt das Wort des Ewigen und seines Messias „Jesus Christus, Herrscher über die Könige der Erde“ (1, 5): „Wer siegt ..., dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens“ und „Macht über die Völker“.

Die Apokalypse transportiert die Botschaft, dass unser spirituelles Axiom der Grundsatz der Geschichte der messianischen Ära sein wird, in der satanische Mächte und eine korrupte Welt phasenweise — besonders in der Anfangs- und Schlussphase — extremen Leidensdruck erzeugen werden, auch und gerade sozial und politisch. Dass aber der Leidensdruck und das Blut der Martyrer der Same neuen Wachstums und des finalen Triumphes ist  Und dass solche extremen Prüfungen natürlich auch bevorzugte Wege zur Weisheit und zum Glück der Einzelnen sind. Dazu abschließend noch einmal Johannes vom Kreuz: Erkenntniszuwachs und Lustgewinn sowie Attraktivität und Erfolg korrelieren mit „der Größe und Menge der Leiden und Trübsale ..., welche die Seele auf sich zu nehmen wünscht. Denn im Leiden findet sie ihre größte Wonne und ihren höchsten Gewinn, weil es ein Mittel ist, um tiefer in die Wonnen und Tiefen der Weisheit Gottes einzudringen. Das Leiden läutert und je mehr die dadurch hervorgerufene Reinheit zunimmt, desto tiefer und klarer wird auch die Erkenntnis und desto vollkommener und erhabener der Genuß, weil er aus einem tieferen Erkennen entspringt.“ (Johannes vom Kreuz: Geistlicher Gesang, München 1967, 276)

Die Einsicht ist absolut zentral, „daß die Tiefen der Weisheit und der unendlichen Reichtümer Gottes der Seele unzugänglich sind, wenn sie nicht die Leiden in ihrer ganzen Fülle auf sich nimmt, wenn sie sich nicht darnach sehnt und ihren Trost darin findet.“ Man muss „sich davon überzeugen, daß die Seele, die ein wahres Verlangen nach göttlicher Weisheit trägt, zuerst damit beginnen muß, in die Tiefen der Leiden des Kreuzes einzudringen.“ (a.a.O. 1967, 277) Dieses Gesetz hat uneingeschränkte Geltung: „Selbst eine beschränkte Erkenntnis dieser Geheimnisse kann man sich in diesem Leben nur erwerben durch viele Leiden, durch zahllose auf Geist und Sinne einwirkende Gnaden Gottes und durch bewährte Übung im geistlichen Leben.“ (a.a.O. 1967, 280—281)

Nachhall bei Goethe und Fontane

Goethes überdurchschnittlicher dichterischer Wahrnehmung der Tiefendimensionen der Realität standen diese Zusammenhänge klar vor Augen, auch wenn er sich in der Praxis vehement dagegen wehrte. Er hat dafür einmal, in halb heidnischer Einkleidung, das Wort geprägt: "Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz: Alle Freuden, die unendlichen, alle Leiden, die unendlichen, ganz." (Brief an Auguste zu Stolberg, 17.07.1777)

Mit anderem Akzent ist die uns beschäftigende Einsicht auch die Quintessenz von Theodor Fontanes Altersroman Der Stechlin (1898), der als weltliterarischer Höhepunkt des deutschen Romans des 19. Jh. gilt. Fontane lässt hier "seine mit besonderem Gewicht bedachten Gestalten sich nach zwei großen katholischen Vorbildern ausrichten ..., nämlich Woldemar Stechlin nach dem portugiesischen Johannes [Joāo de Deus, 1830—1896, Dichter und Pädagoge im Range des Nationaldichters Camões], den die Liebe des Volkes heilig sprach, und Armgard, seine spätere Gattin, nach der heiligen Elisabeth von Thüringen, die für die Hungernden und Kranken gelebt hat." (M. Rychner: Nachwort. In: Der Stechlin, Zürich: Manesse o. J., 609) Fontanes Credo, das er Woldemar und seinem Vater Dubslav in den Mund legt, ist: "Nur die Armen bringen die Mittel auf für das, was jenseits des Gewöhnlichen liegt; aus Begeisterung und Liebe fließt alles. Und es ist etwas sehr Schönes, daß es so ist in unserem Leben. Vielleicht das Schönste [...] Es muß dergleichen geben oder doch wieder geben [...] Das persönliche Sicheinsetzen und Fürwassterbenkönnen und -wollen [ist] doch das Höchste. Mehr kann der Mensch nicht." (ebd. 231, 238, 499) Das bedeutet u.U. auch, "in der Überzeugung des Richtigen fest und unbeirrt ein furchtbares Etwas tun, ... das aus seinem Zusammenhange gerissen, ... allem Gesetz und aller Ehre widerspricht. Das ... ist in meinen Augen der wirkliche, der wahre Mut. Schmach und Schimpf, oder doch der Vorwurf des Schimpflichen, haben sich von jeher an das Höchste geknüpft [...] Der Mut in der Masse (bei allem Respekt davor) ist nur ein Herdenmut." (ebd. 525) 

Die zwei Kulturen in der Moderne

Geschändete Erde

Ein Hauptthema der offiziellen Stellungnahmen der Römischen Kirche des christlichen Israel seit 200 Jahren ist ebenfalls der in Rede stehende Gegensatz und Kampf zweier Lebenseinstellungen, Weltanschauungen und Kulturen. Die meistverbreitete und repräsentativste Sammlung dieser Stellungnahmen stammt von E. Marmy (Hrsg.) von der Universität Freiburg/CH: Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau. Dokumente, Freiburg/Schweiz, 1945, aus der wir das Folgende entnehmen. Der leitende Gesichtspunkt ist dabei, dass seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. ein systematischer „schrecklicher und unerbittlicher Krieg“ gegen das christliche Israel und den Messias im Gange ist, eine „maßlose“ und „äußerst böswillige Verschwörung der Gottlosen“, von der gelte: „‚Jetzt ist die Stunde für die Mächte der Finsternis, um die Kinder der Auserwählung zu sieben wie den Weizen‘ (Lukas 22, 53). ‚Wahrlich, es trauerte die Erde, und sie zerfloß in Tränen ... geschändet von ihren Bewohnern, da sie die Gesetze überschritten, das Recht beugten, das ewige Bündnis zerbrachen.‘ (Jesaja 24, 5)“ (Gregor XVI.: Rundschreiben Mirari vos vom 15.08.1832. In: Marmy a.a.O. 1945, 16-—7, 41). Taktgeber und Hauptträger dieses Krieges gegen die christliche Gesellschaftsordnung sind, so die Texte, ethisch verwerfliche Geheimgesellschaften und Schattenregierungen freimaurerischer Couleur mit den Schlagworten Säkularisierung, Naturalismus und Rationalismus. Leo XIII. spricht in dem Rundschreiben Praeclara gratulationis vom 20.06.1894 diesbezüglich von einem „unheimlichen Druck“ und einem „unwürdigen Joch“ auf den Nationen (Marmy 1945, 933—935). Bekanntlich hatten sich z.Zt. der Französischen Revolution und des rationalistischen Josephinismus/Febronianismus in Deutschland mit der anschließenden Säkularisation und Infragestellung des Hl. Römischen Reiches die Dinge so weit entwickelt, dass ein erheblicher Prozentsatz der adligen Führungsschicht der christlichen Nationen und sogar zahlreiche Geistliche und selbst Bischöfe Mitglieder in den Logen waren. Zwischen 1738 und 1902 wurden daher siebzehn Enzykliken gegen Geheimgesellschaften und die Freimaurerei veröffentlicht, wovon die bekannteste Humanum genus Leo XIII. vom 20.04.1884 ist (Marmy a.a.O. 1945, 56—83).

Derselbe Leo XIII. knüpft in dem Rundschreiben Sapientiae christianae über Christen als Bürger vom 10.01.1890 direkt an die oben vorgestellte Geschichtstheologie und Sozialethik des Tanakh (Altes Testament) an: „Es sagt die Heilige Schrift folgendes Wort über die Juden: ‚Solange sie nicht sündigten vor dem Antlitz ihres Gottes, war das Glück mit ihnen. Denn ihr Gott hasst das Böse [...] Als sie aber von dem Wege abwichen, den ihnen Gott zu wandeln befohlen, wurden sie von vielen Völkern in der Schlacht vernichtet.‘ [Judith 5, 21—22] Das Judenvolk war aber das Vorbild des Christenvolkes und in den Geschicken Leo XIII.der Juden lag ... ein Bild künftiger Ereignisse [...] Die Kirche wird zu keiner Zeit und in keiner Weise von Gott verlassen; sie hat sich also nicht vor den Freveltaten der Menschen zu fürchten; den Völkern jedoch, die das Christentum verlassen, ist nicht die gleiche Zusicherung gegeben, denn: ‚Die Sünde macht die Völker elend‘ [Sprüche 14, 34]. — Wenn alle früheren Jahrhunderte die Macht und Wahrheit dieses Wortes erfahren haben, warum soll das unsrige nicht dieselbe Erfahrung machen? Vieles deutet ja schon darauf hin, dass die Strafe vor der Türe steht, und die Lage der Staaten bestätigt es; denn Wir sehen viele von ihnen durch innere Übel geschwächt, keinen sehen Wir im Zustande völliger Sicherheit. Wenn die Parteiungen der Gottlosen auf dem betretenen Wege ungehemmt weiterschreiten wenn sie an Mitteln und Macht ebenso zunehmen sollten, wie sie vorwärtsrasen in schlimmer Arglist und noch schlimmeren Absichten, dann ist es wahrlich zu befürchten, dass sie alle Staaten bis auf ihre natürlichen Grundlagen zertrümmern.“ (Marmy 1945, 627—628). [Bild oben: Von der Pariser Weltausstellung 1900 preisgekröntes Portrait Leo XIII. von Ph. A. de László, Ausschnitt]

Umgekehrt gelte für die Söhne der Katholischen Weltkirche, des Christlichen Israel als der „‚Säule und Grundfeste der Wahrheit‘ [1 Timotheus 3, 15]“ und des Gegenpartes der Parteiungen der Gottlosen, „dass sie sich leicht hüten werden vor den Lehrern ‚der Lüge, die ihnen Freiheit versprechen, wo sie doch selbst Sklaven der Verdorbenheit sind‘ [2 Petrus 2, 1, 19]; sie werden sogar, weil sie der sieghaften Kraft der messianischen Kultur teilhaftig sind, durch ihre Weisheit die Hinterlist des Feindes zu Nichte machen und durch ihren Starkmut dessen Gewalt überwinden.“ (ebd. 623).

Den Wirkungen dieses Kulturkampfes ist das Rundschreiben Ubi arcano Pius XI. über den Frieden Christi im Reiche Christi vom 23.12.1922 gewidmet. Es analysiert „die Gründe ..., weshalb wir den Frieden und damit die Heilung der vielen Schäden schmerzlich vermissen. Schon lange vor dem europäischen Kriege war die Hauptursache dieser großen Übel tätig und nahm an Stärke zu durch die Schuld der Einzelnen wie der Nationen. Hätte man die Zeichen der Zeit zu deuten gewusst, so wäre gerade das furchtbarste Unglück zum wirksamsten Heilmittel geworden. Wer kennt nicht das Wort der Schrift: ‚Die den Herrn verlassen, sind des Todes‘ [Jesaja 1, 28], und das furchtbar ernste Mahnwort Jesu, des Erlösers und Lehrers der Menschheit: ‚Ohne mich könnt ihr nichts tun‘ [Johannes 15, 5] sowie: ‚Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut‘ [Lukas 11, 23]. Diese Gottesworte haben sich zu allen Zeiten bewahrheitet, aber heute liegt ihre Erfüllung besonders klar vor Augen. Weil die Menschen aus Torheit von Gott und Jesus Christus abgefallen sind, deshalb sind sie von der Höhe ihres Wohlstandes in den Abgrund des Unglücks gestürzt; deshalb sind alle Versuche, die Übel zu heilen und die Trümmer der zahllosen Ruinen zu retten, mit völliger Unfruchtbarkeit geschlagen. Hat man Gott und Jesus Christus aus der Gesetzgebung und der Politik hinausgewiesen und leitet man die Autorität nicht mehr von Gott her, sondern von den Menschen, dann fehlt den Gesetzen ihre wahre und wirksame Sanktion, dann fehlen ihnen die höchsten Kriterien des Rechten — und das haben schon heidnische Philosophen wie Cicero begriffen, dass Menschengesetze nur im ewigen Gesetz Gottes verankert sein können — mehr noch, selbst die Grundlage der Autorität ist zerstört in dem Augenblick, da man die Quelle verschüttet, aus der den einen das Recht zufließt zu befehlen, den anderen die Pflicht zu gehorchen. So musste mit unerbittlicher Notwendigkeit das ganze Gesellschaftsleben erschüttert werden; es war eben jeder festen Stütze und jedes Schutzes beraubt und wurde ein Tummelplatz für die Parteien; diesen aber ist es nur zu tun um den Besitz der Macht, nicht um das Wohl des Vaterlandes.“ (Marmy 1945, 721—722)

Pius XI. Rundschreiben Quas primas über das Königtum Christi vom 11.12.1925 thematisiert die Rolle des Messias im Kampf der Kulturen: Diese „Flut von Übeln hat die Erde überschwemmt [...] weil die meisten Menschen Jesus Christus und sein heiligstes Gesetz aus ihrem persönlichen Leben und Wandel als auch aus der häuslichen Gemeinschaft und dem öffentlichen Leben verbannt haben.“ (791) Die aufeinander folgenden Stufen dieses Säkularisationsprozesses sind nach Quas primas:

(1) Der Messias wird nicht als Herr der Nationen anerkannt.

(2) Dem messianischen Reich alias christlichem Israel wird die Leitung der Völker abgesprochen.

(3) Das messianische Reich alias christliches Israel wird (neu)heidnischen Kulten gleichgestellt.

(4) Das christliche Israel wird unter die Gewalt und Willkür des profanen Staates / säkularisierter Regierungen gestellt.

(5) Eine natürliche rationalistische oder Gefühlsreligion etabliert sich als Ersatzreligion.

(6) Fallweise unmittelbar atheistische Staatsverfassungen (Marmy 1945, 791, 805).

Talmistaaten

Eine grundlegende Behauptung bzw. Feststellung Leo XIII. in dem schon vorgestellten Rundschreiben Sapientiae christianae über Christen als Bürger vom 10.01.1890 ist: Ein Staat, dessen Zwecke nur materieller Wohlstand und Lebensgenuss sind, ohne theologische Verpflichtungen und ethische Ideale, ist „nicht mehr als menschliches Gemeinwesen und des Menschen würdige Gesellschaft zu betrachten, sondern als trügerische Nachäffung und Verfälschung.“ (Marmy 1945, 606—607) Der „Laizistische Liberalismus“, der „Kommunismus, Atheismus, Nihilismus“ sind daher „ungeheuerliche Missgeburten“ (Leo XIII. in dem Rundschreiben Diuturnum illud über den Ursprung der staatlichen Gewalt vom 29.06.1881; Marmy 1945, 566).

In wirtschaftspolitischer Hinsicht qualifiziert Pius XI. (in dem Rundschreiben Quadragesimo anno vom 15.05.1931 über die christliche Wirtschaftsordnung) den seit dem 19. Jh. aufkommenden Turbo- und Zinskapitalismus als „von den ethischen Gesetzen losgelöste Wirtschaftslehre“ mit einer sich latent und akut fortpflanzenden „globalen Finanz- und Wirtschaftskrise“, die Reichtum und Macht in einer winzigen Schicht der Superreichen konzentriere und „nach Zahl und Größe seit der Frühgeschichte historisch beispiellose seelische und materielle Übel“ verursacht habe und verursache (Marmy 1945, 501, 514). Wo der Staat in dieser Weise das „Zerstören der Gerechtigkeit“ betreibt, handelt es sich um eine „illegitime Herrschaft“ (Leo XIII. in Diuturnum illud; Marmy 1945, 561).

Aber auch der entgegengesetzte Kommunismus ist ein Produkt der „materialistischen und atheistischen Propaganda“ der „Söhne der Finsternis“ und ist schlicht und einfach „Sklaverei“ und „Terrorismus“ (Pius XI.: Rundschreiben Divini Redemptoris zum Kommunismus vom 19.03.1937 (Marmy 1945, 145, 153).

Zombiepopulationen

Zur Befindlichkeit und Psychologie der Menschen in den Talmistaaten einer geschändeten Erde sagen die in Rede stehenden Texte: „Auf unsere Zeit passen voll und ganz die Worte der Propheten: ‚Wir hofften auf den Frieden, und es kommt nichts Gutes; auf Heilung, und sieh, es kommt Schrecken [Jeremia 8, 15]; auf die Stunde der Genesung, und sieh, da kommt Angst [Jeremia 14, 19]; wir harren des Lichtes, und sieh Finsternis [...]; des Gerichtes, und es kommt nichts; des Heiles, und es flieht uns [Jesaja 49, 9-11]‘.“ Die Menschen leben in „chaotischem Durcheinander“, in „dominanter Geistesverwirrung“ (Pius XI. in o.g. Rundschreiben Ubi arcano; Marmy 1945, 709—738)

Pius X. beschreibt die Lage als „Ab- und Rückbau der Zivilisation“, als „soziale und intellektuelle Anarchie“ in einem „inkonsistenten und impotenten Humanitarismus“ notorischer Versager und Tölpel: „Es gibt keine wahre Kultur ohne moralische Kultur und keine moralische Kultur ohne die wahre Religion; das ist eine bewiesene Wahrheit, ein historisches Faktum“ (Apostolisches Schreiben Notre charge apostolique vom 25.08.1910 contra säkular-humanistische und pro christliche Gesellschafts- und Weltordnung [offizieller französischer Text AAS II [1910], 607—633. Dt. Übersetzung in A. Utz / B. v. Galen: Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher (sozialer) Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Aachen 1976, 2402—2432]). Es gehe nur darum, diese Einsicht und Erfahrung gegen die immer wiederkehrenden Angriffe „geisteskranker Träumer, Rebellen und Schurken“ energisch zu verteidigen. Dies besonders dann, "wenn Irrtum und das Böse in einer mitreißenden Sprache dargeboten werden, welche die Unklarheit der Ideen und die Mehrdeutigkeit der Ausdrücke hinter emotionalem Aufruhr und wohlklingenden Worten verbirgt", die auch "Persönlichkeiten von hohem geistigem Rang [... und] idealistische junge Menschen bei fehlender Bildung und Selbsterkenntnis blendet":

„They dream of a Future City built on different principles, and they dare to proclaim these more fruitful and more beneficial than the principles upon which the present Christian City rests. No, Venerable Brethren, We must repeat with the utmost energy in these times of social and intellectual anarchy when everyone takes it upon himself to teach as a teacher and lawmaker the City cannot be built otherwise than as God has built it; society cannot be setup unless the Church lays the foundations and supervises the work; no, civilization is not something yet to be found, nor is the New City to be built on hazy notions; it has been in existence and still is: it is Christian civilization, it is the Catholic City. It has only to be set up and restored continually against the unremitting attacks of insane dreamers, rebels and miscreants [...] Indeed, we have the human experience of pagan and secular societies of ages past to show that concern for common interests or affinities of nature weigh very little against the passions and wild desires of the heart. No, Venerable Brethren, there is no genuine fraternity outside Christian charity. Through the love of God and His Son Jesus Christ Our Saviour, Christian charity embraces all men, comforts all, and leads all to the same faith and same heavenly happiness.

By separating fraternity from Christian charity thus understood, Democracy, far from being a progress, would mean a disastrous step backwards for civilization. If, as We desire with all Our heart, the highest possible peak of well being for society and its members is to be attained through fraternity or, as it is also called, universal solidarity, all minds must be united in the knowledge of Truth, all wills united in morality, and all hearts in the love of God and His Son Jesus Christ. But this union is attainable only by Catholic charity, and that is why Catholic charity alone can lead the people in the march of progress towards the ideal civilization [...] For there is no true civilization without a moral civilization, and no true moral civilization without the true religion: it is a proven truth, a historical fact [...] True, Jesus has loved us with an immense, infinite love, and He came on earth to suffer and die so that, gathered around Him in justice and love, motivated by the same sentiments of mutual charity, all men might live in peace and happiness. But for the realization of this temporal and eternal happiness, He has laid down with supreme authority the condition that we must belong to His Flock, that we must accept His doctrine, that we must practice virtue, and that we must accept the teaching and guidance of Peter and his successors. Further, whilst Jesus was kind to sinners and to those who went astray, He did not respect their false ideas, however sincere they might have appeared. He loved them all, but He instructed them in order to convert them and save them. [...] Finally, He did not announce for future society the reign of an ideal happiness from which suffering would be banished; but, by His lessons and by His example, He traced the path of the happiness which is possible on earth and of the perfect happiness in heaven: the royal way of the Cross. These are teachings that it would be wrong to apply only to one‘s personal life in order to win eternal salvation; these are eminently social teachings, and they show in Our Lord Jesus Christ something quite different from an inconsistent and impotent humanitarianism [...]

Let them be convinced that the social question and social science did not arise only yesterday; that the Church and the State, at all times and in happy concert, have raised up fruitful organizations to this end; that the Church, which has never betrayed the happiness of the people by consenting to dubious alliances, does not have to free herself from the past; that all that is needed is to take up again, with the help of the true workers for a social restoration, the organisms which the Revolution shattered, and to adapt them, in the same Christian spirit that has inspired them, to the new environment arising from the material development of today’s society.“

Eine systematische und fachübergreifende Erörterung der Themen der vorhergehenden Abschnitte 'Geschändete Erde' — 'Talmistaaten' — 'Zombiepopulationen' bietet das E-Buch: "Religiöse Verpflichtung versus religiöse Neutralität des Staates. Interpretation und Bewertung der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils (Dignitatis humanae) im Kontext der modernen Moralphilosophie und neokonservativen Staatsphilosophie". Die Studie kann hier heruntergeladen werden:

Taumelgeist

Im Menu Atheismusdebatte und öfter wurde bereits darauf hingewiesen, dass o.g. Krieg gegen das christliche Israel seit 1800 immer stärker auch dessen Binnenraum infiltrierte. Was entstand, waren der liberale Katholizismus und Modernismus, die in einem tendenziell unkritischen, gefühlsmäßig geprägten Fortschrittsglauben den Bannkreis der liberal-humanistischen Kultur suchten. Diese Einstellung setzte sich trotz vehementer lehramtlicher Verurteilung (Enzykliken Quanta cura Pius IX., Pascendi dominici gregis Pius X. (1907), Mortalium animos Pius XI. (1928), Humani generis Pius XII. (1950)) auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962—1965) durch und wurde vorherrschend (D. von Hildebrandt: The Trojan Horse in the City of God, Chikago 1967; R. Wiltgen: Der Rhein fließt in den Tiber. Eine Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, [dt:] Feldkirch 1988). Sie führte zu einer tiefgreifenden, revolutionären Mutation des Katholizismus mit starker Abwehr und Kriminalisierung der traditionellen Identität, gesellschaftlicher Helotisierung und statistischen Einbrüchen nie gekannten Ausmaßes.

Die unbestritten umfassendste und gründlichste Bestandsaufnahme und Wertung dieser Situation stammt von dem Schweizer Philosophen und Klassischen Philologen Romano Amerio (1905—1997): Jota Unum. Studio delle variazioni della Chiesa Cattolica nel secolo XX, Mailand / Neapel 1985. Eine Neuauflage wurde 2009 mit einem Vorwort von Kardinal Castrilliòn Hoyos durch seinen Schüler Prof. Enrico M. Radaelli veranstaltet, der in Professor Amerio „the most relevant and invigorating thinker of the moment“ sieht. Er ist auch Herausgeber der postumen Festschrift Romano Amerio: Della Verita e dell'Amore (2006), zu der der Dekan der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Lateran-Universität Antonio Livi das Vorwort beisteuerte. Auf der anderen Seite hält der Reorganisator der katholischen Orthodoxie nach dem II. Vatikanum, Erzbischof M. Lefebvre, Amerios Analyse ebenfalls für „das beste Buch ... über das Konzil, seine Folgen und alle zwischenzeitlichen innerkirchlichen Entwicklungen [...] von bemerkenswerter Perfektion ... ohne leidenschaftliche Polemik, aber mit unangreifbaren Argumenten“. Wir legen in Folge die französische Übersetzung zugrunde: Iota Unum. Etude des variations de l’Eglise catholique au XXème siècle, Paris 1987, 660 S.

Das internationale Erfolgsbuch mit weiteren Übersetzungen ins Englische, Deutsche, Spanische etc. erschien ursprünglich bei dem renommierten Wissenschaftsverlag Ricciardi, in dem Amerio nach dem Postgraduiertenstudium in München bereits die meisten seiner mehr als 40 Forschungsmonographien, Werkeditionen und Kommentare veröffentlicht hatte. Sie konzentrieren sich auf innovative enzyklopädische Vordenker wie v.a. den produktivsten interdisziplinären Systematiker der Renaissance, Tommaso Campanella (1568—1639), den Amerio in einer 35-bändigen Werkedition neu erschloss; ferner auf den problematischen Venezianer Universalgelehrten Paolo Scarpi (1552—1623), auf Goethes meistgeschätzten Epiker und Moralisten Alessandro Manzoni (1785—1853) und den „italienischen Kant“ Antonio Rosmini (1797—1855). Mit dem Tessiner Bischof Jelmini ist er Anfang der 1960er Jahre Berater der zentralen Vorbereitungskommission des II. Vatikanischen Konzils sowie anschließend Konzilsberater von Kardinal Guiseppe Siri aus Genua.

Amerio analysiert nach einem zeitgeschichtlichen Abriss zum II. Vatikanum in 42 Kapiteln mit 334 thematischen Abschnitten den „Taumelgeist, der in die Kirche des 20. Jh. eingedrungen ist und der sie wild kreiseln und ihren Orbit verlassen lässt“ (1987, 287; vgl. Jesaja 29, 14). Er lässt dazu das gesamte Spektrum der nachkonziliaren Praxis Revue passieren und konfrontiert es — im Licht o.g. interdisziplinärer Vordenker Campanella, Manzoni und Rosmini — mit den normativen Grundlagen von Schrift und Tradition: Schulwesen — Religionsunterricht — Orden — Theologische Tugenden — Skeptizismus — Dialog — Naturrecht — Scheidung — Homosexualität — Abtreibung — Todesstrafe — Krieg — Situationsmoral — Globalisierung — Arbeit, Technik, Kontemplation — Demokratie — Ökumenismus — Sakramente — Liturgiereform — Theodizee — Eschatologie.

Ein Alleinstellungsmerkmal von Amerios Analyse ist dabei, dass er sich ausschließlich auf offizielle Texte und Äußerungen des Vatikans und der Bischofskonferenzen beschränkt wie das bekannte Zitat Paul VI. vom 07.12.1968: „Die Kirche befindet sich in einer ... Phase der Selbstzerstörung“ (Amerio 1987, 13/14). Und Johannes Paul II. am 06.02.1981: Die Christen fühlen sich "verlassen, verwirrt, ratlos und getäuscht“ durch innerkirchliche „Häresien“, „Rebellion“, „moralischen Libertinismus“ und „Atheismus und Agnostizismus“ (14).

Amerio erkennt als Hauptursache den theologisch nicht möglichen Versuch einer mehr oder minder weitgehenden liberal-humanistischen Neudefinition des christlichen Israel: Man kapituliert vor der antichristlichen Hasspropaganda der säkularisierten Welt und übernimmt deren Wortschatz, Weltanschauung und Feindbild. Desorientiert taumelt man — so Amerio mit Pius X. — in einen „inkonsistenten und impotenten Humanitarismus“ und „soziale und intellektuelle Anarchie“ (s.o.). Im Fazit ist der „Ab- und Rückbau der Zivilisation“ gerade durch den weltlichen Primat einer menschlichen Welt vorprogrammiert statt des übernatürlichen Primates des transzendenten Himmels. Dies ignoriert, so Amerio, das Montesquieu'sche Paradox: Die menschliche Welt alias das Paradies auf Erden als Endziel führt zu weltlichem und eschatologischem Unglück; der Primat des Himmels und der Transzendenz führt zu weltlichem und eschatologischem Glück (1987, 416—418).

Erzbischof Polge von Avignon erklärt dazu am 03.09.1976: „Die Kirche des II. Vatikanums ist neu“ mit „einer neuen Definition ihrer selbst“ und mit „einem neuen Wesen“, nämlich „die Welt zu lieben, sich ihr zu öffnen, sich zu ihrem Dialogpartner zu machen“ (1987, 102). Diese Neudefinition begrüßt Bischof Matagin von Grenoble am 15.04.1983 als die „kopernikanische Revolution durch die die Kirche sich selbst aus ihrem Zentrum und von ihren Institutionen entfernt hat“ (1987, 101—102).

Vgl. aber auch der spätere Papst Karol Wojtyla: "Der Kirche unserer Zeit ( ... ) ist es geglückt, im Zweiten Vatikanischen Konzil ihr eigenes Wesen neu zu bestimmen" (Zeichen des Widerspruchs. Besinnung auf Christus, Freiburg 1979, 28). Und das bekannte Wort des führenden französischen Konzilstheologen Yves Congar: "Die Kirche hat friedlich ihre Oktoberrevolution gemacht" (Congar: Le Concile au jour le jour. Deuxieme session, Paris 1964, 215). Oder der französische Hochgradfreimaurer Yves Marsaudon zum II. Vatikanischen Konzil: "Man kann jetzt und hier von einer Revolution ... sprechen, die ihren Ausgang von unseren freimaurerischen Logen nahm und sich in wunderbarer Weise über die Kuppel von St. Peter ausgebreitet hat" (L'Oecuménisme vu par un franc‑macon de tradition, Paris 1964, 121).

Eine solche revolutionäre Neudefinition und -konstitution ist theologisch — wenn eindeutig und reflektiert vollzogen — Apostasie von der normativen messianischen und apostolischen Konstitution der Kirche und damit Glaubensabfall. Unter den 65 von Pius X. in dem Dekret Lamentabili am 03.07.1907 verurteilten und von Amerio diskutierten Lehren des klassischen Modernismus lautet der Satz Nr. 52: "Es lag nicht im Horizont und der Absicht Christi, auf der Erde eine Kirche als stabil verfasste und auf viele Jahrhunderte angelegte Gemeinschaft zu gründen"; und Nr. 53: "Die institutionelle Verfassung der Kirche ist nicht unveränderlich; sondern die christliche Gemeinde unterliegt derselben unaufhörlichen Evolution wie die menschliche Gesellschaft." Sowie Nr. 54: "Dogmen, Sakramente und Hierarchie sind begrifflich und sachlich spätere nachbiblische Entwicklungen und Interpretationen" (Amerio 1987, 41—43).

Meistens steht man jedoch bei den in Rede stehenden Zitaten einem zwiespältigen und verschwommenen Nebeneinander häretischer und orthodoxer Positionen gegenüber. Eine religiöse Schizophrenie, die Amerio und andere als typisch für den liberalen Katholizismus ansehen: Man will eigentlich nicht vom Glauben seiner Sozialisation abfallen, hält die katholische Orthodoxie aber für moderne Menschen nicht mehr akzeptabel. Das Resultat ist tendenziell die in der abschließenden Nr. 65 von Lamentabili beschriebene und verurteilte Geisteshaltung: "Der Katholizismus in der heutigen Gestalt ist nicht intellektuell redlich mit der Wissenschaft vereinbar, wenn er nicht in ein undogmatisches Christentum umgewandelt wird, d.h. in eine Spielart des liberalen Protestantismus." (Amerio 1987, 112—156).   

Weitgehend kritisch zu diesem Versuch der Neudefinition der Kirche äußerte sich die in den letzten zwei Jahrzehnten als Präfekt der Glaubenskongregation und Papst wichtigste Persönlichkeit der Römischen Kirche: „Das Zweite Vatikanische Konzil behandelt man ... als Ende der Tradition und so, als fange man ganz bei Null an [...] Was früher als das Heiligste galt — die überlieferte Form der Liturgie — scheint plötzlich als das Verbotenste und das Einzige, was man mit Sicherheit ablehnen muss […] Das führt bei vielen Menschen dazu, dass sie sich fragen, ob die Kirche von heute wirklich noch die gleiche ist wie gestern, oder ob man sie nicht ohne Warnung gegen eine andere ausgetauscht hat.“ (Joseph Kardinal Ratzinger, Rede vor den Bischöfen von Chile vom 13.07.1988. In: Der Fels 12/1988, 343) — "Derlei hat es in der ganzen Geschichte nicht gegeben, man ächtet damit ... die ganze Vergangenheit der Kirche. Wie sollte man ihrer Gegenwart trauen, wenn es so ist?" (Joseph Kardinal Ratzinger: Gott und die Welt — Glauben und Leben in unserer Zeit, Ein Gespräch mit Peter Seewald, 2. Aufl., München 2000, 357). — "Eine Gemeinschaft, die das, was ihr bisher das Heiligste und Höchste war [= Mess- und Sakramentenriten der Tradition], plötzlich als strikt verboten erklärt und das Verlangen danach geradezu als unanständig erscheinen lässt, stellt sich selbst in Frage. Denn was soll man ihr eigentlich noch glauben?“ (Joseph Kardinal Ratzinger: Salz der Erde, München, 2001,188)

Aber natürlich wird einmal Erzbischof Marcel Lefebvre (19051991) als der große Diagnostiker und Therapeut dieses Taumelgeistes gelten. Seine Grundsatzererklärung vom 21.11.1974 war epochemachend und ist eines der bedeutsamsten Dokumente des 20. Jh., das hier nicht unerwähnt bleiben kann. Wir geben sie daher in Folge wieder:  

"Wir hängen mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele am katholischen Rom, der Hüterin des katholischen Glaubens, und den für die Erhaltung dieses Glaubens notwendigen Traditionen, am Ewigen Rom, der Lehrerin der Weisheit und Wahrheit. Wir lehnen es dagegen ab und haben es immer abgelehnt, dem Rom der neomodernistischen und neoprotestantischen Tendenz zu folgen, die eindeutig im Zweiten Vatikanischen Konzil und nach dem Konzil in allen daraus hervorgegangenen Reformen zum Durchbruch kam. Alle diese Reformen haben in der Tat zu der Zerstörung der Kirche beigetragen und tun dies immer noch, zum Ruin des Priestertums, zur Vernichtung des heiligen Opfers und der Sakramente, zum Erlöschen des Ordenslebens, zu einer naturalistischen und teilhardistischen Unterweisung an den Universitäten, in den Priesterseminaren und in der Katechese, eine Unterweisung, die aus dem Liberalismus und dem Protestantismus hervorgegangen ist, welche viele Male vom Lehramt der Kirche feierlich verurteilt worden sind.

Keine Autorität, selbst nicht die höchste Autorität in der Hierarchie, kann uns zwingen, unseren Glauben, der vom Lehramt der Kirche seit neunzehn Jahrhunderten eindeutig formuliert und verkündet wurde, aufzugeben oder zu schmälern. Der hl. Paulus sagt: „Allein, wenn auch wir oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündete, als wir euch verkündet haben, der sei ausgestoßen!" (Gal 1, 8).

Ist es nicht das, was der Heilige Vater uns heute ebenfalls sagt? Und wenn sich ein gewisser Widerspruch in seinen Worten und Handlungen wie auch in den Akten der kurialen Behörden gezeigt hat, nun, dann wählen wir, was immer gelehrt worden ist und verschließen unser Ohr vor den für die Kirche zerstörerischen Neuerungen. Man kann nicht tiefgreifende Veränderungen auf dem Gebiet der 'lex orandi' 'der Liturgie' vornehmen, ohne dadurch die 'lex credendi' 'das Glaubensgesetz' zu verändern. Der neuen Messe entspricht ein neuer Katechismus, ein neues Priestertum, neue Seminare, neue Universitäten und eine charismatische, pentekostalische Kirche, alles Dinge, die der Rechtgläubigkeit und dem Lehramt aller Zeiten entgegengesetzt sind. Diese Reform, die vom Liberalismus und vom Modernismus ausgegangen ist, ist völlig vergiftet. Sie stammt aus der Häresie und führt zur Häresie. Dies ist selbst dann der Fall, wenn nicht alle ihre Akte direkt häretisch sind! Jedem wachen und treuen Katholiken ist es daher unmöglich, diese Reform anzunehmen und sich ihr, in welcher Weise auch immer, zu unterwerfen.

Die einzige Haltung der Treue gegenüber der Kirche und der katholischen Lehre besteht, um unseres Heiles willen, in der kategorischen Weigerung der Annahme der Reform. Deshalb setzen wir unser Werk der priesterlichen Ausbildung unter dem Stern des Lehramtes aller Zeiten fort, ohne Bitterkeit, Rebellion oder Groll. Wir sind davon überzeugt, dass wir der heiligen katholischen Kirche, dem Papst und den zukünftigen Generationen keinen größeren Dienst erweisen können. Wir halten an allem fest, was von der Kirche aller Zeiten und vor dem modernistischen Einfluss des Konzils geglaubt und im Glauben praktiziert wurde: in der Sittenlehre, im Kult, im Katechismusunterricht, in der Priesterausbildung, in der Verfassung der Kirche und was in den Büchern kodifiziert wurde, die vor dem modernistischen Einfluss des Konzils erschienen sind.

Indem wir dies mit der Gnade Gottes tun, unter dem Beistand der Jungfrau Maria, des heiligen Joseph, des heiligen Pius X., sind wir überzeugt, der Katholischen und Römischen Kirche und allen Nachfolgern Petri treu zu bleiben und uns zu erweisen als 'fideles dispensatores mysteriorum Domini Nostri Jesu Christi in Spiritu Sancto' ['treue Verwalter der Geheimnisse Unseres Herrn Jesus Christus im Heiligen Geiste']."

Bekanntlich hat auch Kardinal Ratzinger später als Oberhirte der Römischen Kirche damit begonnen, diese Entwicklungen zu korrigieren. Er ließ 2007 die liturgischen Riten der Tradition generell wieder zu (Motu proprio Summorum Pontificum) und förderte dieselben. Eine wesentliche Inspiration war für ihn dabei Dr. Klaus Gamber (1919—1989), Direktor des Liturgiewissenschaftlichen Institutes Regensburg. Gamber war der international führende Experte für das liturgische Schrifttum des Westens, das er in umfangreichen Quelleneditionen erschloss, gestützt auf eine der weltweit größten Handschriftensammlungen liturgischer Codices. Man schätzt, dass 90 % aller Ende des 20. Jh. bekannten Handschriften dieses Feldes von ihm entdeckt und gesammelt worden waren. Gambers berühmtestes Buch wurde jedoch Die Reform der Römischen Liturgie. Vorgeschichte und Problematik, Regensburg 1981. Es erschien 1992 in französischer Übersetzung (La Réforme liturgique en question) und 1993 in englischer Übersetzung (The Reform of the Roman Liturgy: Its Problems and Background). Die französische Übersetzung enthielt ein aufsehenerregendes Vorwort Kardinal Ratzingers, der darin sagte: „Was nach dem [II. Vatikanischen] Konzil geschah [...] war die Ersetzung der kontinuierlich gewachsenen Liturgie durch eine fabrizierte Liturgie. Ein lebendiger, organischer Wachstumsprozess wurde aufgegeben [...] und eine künstliche Produktion trat an seine Stelle, ein banales Augenblicksprodukt. Mit der Wachsamkeit eines echten Propheten und mit dem Mut eines wahren Zeugen widersetzte sich Gamber dieser Verfälschung und lehrte uns unermüdlich die lebende Fülle einer wahren Liturgie, dank seiner unglaublich reichen Quellenkenntnis [...] Er zeigte uns den Weg der Liturgie in der Geschichte [...] Er sah in der Frucht dieser [geschichtlichen] Entwicklung die unantastbare Spiegelung der ewigen Liturgie und keinen Gegenstand unserer Manipulation." Für die Praxis heiße dies: "Wir müssen den Geist der Liturgie wieder assimilieren [...] Klaus Gamber [...] könnte in dieser Zeit der Auflösung der ‚Vater‘ eines neuen Anfangs werden [...] Das Werk dieses herausragenden Mannes [...] sollte uns einen neuen Impetus geben.“

Der z.Zt. einflussreichste angloamerikanische Analytiker der Krise des Katholizismus, der Bestsellerautor und Vordenker des klassischen Konservativismus in den USA, Thomas E. Woods, kommentierte in dem maßgeblichen Leitorgan The American Conservative Gambers Buch wie folgt: „Klaus Gamber’s book, The Reform of the Roman Liturgy, was and is a publishing event, one of the most significant in the Catholic world in a generation [...] It sent shock waves throughout Europe when it first appeared there 16 years ago, Ratzinger’s endorsement of Gamber’s book made headlines across Europe [... Gamber] was a liturgical scholar of great renown, who headed the Liturgical Institute at Regensburg and had brought out nearly three dozen volumes in the Studia Patristica et Liturgica and Textus Patristici et Liturgici series. It was Gamber’s unimpeachable mainstream credentials that made his book The Reform of the Roman Liturgy all the more shocking [...] And then Gamber did the unthinkable in the ecclesial climate of his day: he called for the restoration of the traditional rite ‚as the primary liturgical form for the celebration of Mass. It must become once more the norm of our faith and the symbol of Catholic unity throughout the world, a rock of stability in a period of upheaval and never-ending change.‘“ (Recovering the Lost Liturgy. In: The American Conservative, 9.10.2006, 31—33)

Angesichts des phänomenalen Einflusses des in Rede stehenden Buches interessiert vielleicht seine Entstehungsgeschichte, die ich beisteuern kann. Anfang der 1980er Jahre besuchte ich Gamber mehrfach in seinem Liturgiewissenschaftlichen Institut im Diözesanzentrum Obermünster und er schenkte mir ein Exemplar einer jüngst, 1979, in kleiner Auflage als Manuskript gedruckten Studie. Es handelte sich genau um das spätere Erfolgsbuch Die Reform der Römischen Liturgie. Die Lektüre faszinierte mich. Ich fand das kompakte Buch sehr klar, informativ und zeitgemäß und sagte Gamber, dass es m.E. eine große Verbreitung verdiene. Er erwiderte, dass die kleine Auflage vergriffen sei und er nicht über die finanziellen Mittel verfüge, um eine Neuauflage vorzufinanzieren, zumal er nicht wisse, ob sich genügend Interessenten fänden. Darauf schlug ich vor, dass eventuell die traditionsorientierte Philosophisch-theologische Hochschule Schierling-Zaitzkofen, an der ich damals gerade mein Studium abschloss, die Neuauflage finanzieren und auch die Hälfte der Auflage übernehmen könnte. Der seinerzeitige Direktor Josef Bisig war hiermit einverstanden und so vereinbarte ich mit Dr. Gamber die finanziellen und logistischen Einzelheiten (Daneben hielt ich die Neuauflage eines weiteren Buches Gambers für wünschenswert, das wir ebenfalls in die Abmachung mit einbezogen; sein Titel war: Erneuerung durch Neuerungen? Zur Gegenwartslage der Römischen Kirche v.a. auf liturgischem Gebiet). Ich erinnere noch genau den kühlen Sommermorgen des Jahres 1981, an dem ich im Auslieferungslager der Druckerei in Regensburg die Buchpakete in den Kofferraum lud. Aufgrund meiner beruflichen Positionen hatte ich bald Gelegenheit, das Werk im gesamten deutschen Sprachraum zu bewerben und zu verbreiten. Auch für die französische Übersetzung 1992 war ich beratend tätig: Sie kombiniert wie die englische beide der o.g. Studien in einem Band. Weder Gamber noch ich dachten jedoch damals im Entferntesten daran, dass der Inhalt meines Kofferraums „europaweite Schockwellen und Schlagzeilen“ auslösen würde sowie „eines der bedeutendsten publizistischen Ereignisse der katholischen Welt für eine Generation“ werden würde mit weitreichenden Konsequenzen für eine Milliarde Gläubige.

Ein weiterer Schwerpunkt meiner Unterhaltungen mit Dr. Gamber waren damals die Tiefenursachen der Krise der lateinischen Westkirche. Gelegentlich nahmen daran auch orthodoxe Mönche teil, die zu Studienzwecken im Institut waren. (Gamber war zugleich professioneller Kenner der Ostkirchen und zelebrierte sowohl im lateinischen wie byzantinischen Ritus.) Die in diesem Portfolio hierzu niedergelegten Gedanken (siehe v.a. den nächsten Abschnitt 'Sterilität') würde Gamber als Geist von seinem Geist betrachten. Eine Schwäche Gambers war lediglich eine alles in allem doch zu optimistische Sicht der schismatischen Ostkirchen mit teilweise unkritischer Übernahme von deren theologischen Positionen. Wer persönlich und literarisch in nähere Bekanntschaft mit nichtunierten Orientalen tritt, wird ich will offen sprechen regelmäßig einen Grundzug des Hochmutes, der Sophistik und des Diplomatisierens feststellen. Dieser zeigt sich deutlich in den Vorgängen vor und um das Große Schisma 1054 n. C. und in dem theologisch in dieser pauschalen Form unhaltbaren Selbstverständnis des Moskauer Patriarchates als Drittes Rom. Richtig an Letzterem ist allerdings die verbreitete und eingebürgerte Überzeugung, dass komplementär zur Germania sacra, dem heiligen Deutschland, auch die russische Christenheit an Idee und Natur des Sacrum Romanum Imperium teilhat. Siehe hierzu Klaus Gamber (Hrsg.): Das heilige Russland: 1000 Jahre russisch-orthodoxe Kirche. Mit Vorwort von Pimen, Patriarch von Moskau und ganz Rußland, Freiburg / Basel / Wien 1989. Man mag die islamische Unterjochung der schismatischen Griechen mit den Fall Konstantinopels 1453 n. C. sowie die kommunistische Unterjochung der schismatischen Russen nach der Oktoberrevolution 1917 auch als Strafgerichte über die angesprochenen, objektiv schwerwiegenden Fehlhaltungen ansehen. Dies bleibt wahr, selbst wenn heute die Ostkirchen nach Glaubenskraft und spiritueller Tiefe die Hierarchie der Westkirche deklassieren, die bis auf weiteres und wie gezeigt weitestgehend von der antichristlichen Neuen Weltordnung aufgesogen wurde.

Bei unserem letzten persönlichen Gespräch 1981 verabschiedete Gamber mich in der Eingangsaula des Instituts. Wir standen vor einer panzerglasgesicherten Vitrine, wo er stolz ein frühes mittelalterliches Sakramentar (= Messritus) zeigte, dessen Texte seit dem 5. Jh. eineinhalb Jahrtausende in der westlichen Welt unverändert kanonische Geltung hatten. Dabei sagte er sinngemäß, er sähe in mir den einzigen Theologen des traditionsorientierten Lagers, dessen weltanschauliches und charakterliches Profil nicht die Tiefenursachen der Glaubenskrise des Westens spiegele, ich solle den Geist nicht auslöschen. Ich widersprach umso mehr als ich — zu Recht — seit einem Jahr mit aller Kraft gegen den moralischen Druck zur Ordination seitens meines theologischen Umfeldes kämpfte. Nach den nötigen biographischen Korrekturen sehe ich mich heute allerdings tatsächlich in der Pflicht dieses Geistes: Ipse dixit.

Sterilität

Schwierige äußere Rahmenbedingungen wie Hass, Feindschaft und Verfolgung entschuldigen nun namentlich Hirten und Lehrer nicht von der Pflicht zur Verwirklichung des Zieles des messianischen oder christlichen Israel: Erlösung und Heil. Das Erreichen dieses Ziels wiederum immunisiert gegen Verunsicherung, Identitätskrisen und Unglück. Erlösung ist zwar zentral spirituelle Erlösung von Sünde und Schuld und deren Folgen sowie transzendentes Heil. Erlösung heißt aber auch — durch und in Aszese, Kampf und Leidensdruck — kognitive Überlegenheit, existentielles Glück, persönlicher Erfolg und politische  Herrschaft. Das ist der Sinn und die Rechtfertigung des alt- wie neutestamentlichen Israel. Wenn und wo dies nicht erreicht wird, verflucht und zerschlägt Gott selbst die untreue und unfruchtbare Institution bzw. ihr aktuelles Erscheinungsbild.

Der klassische Beleg ist der Abschluss der Tora in Deuteronomium 28. Der Segen ebd. für Aufrichtung und Aufrechterhaltung kognitiver und existentieller Brillanz aufgrund des überlegenen spirituellen Potentials der Offenbarung ist: "Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst, indem du auf alle seine Gebote ... achtest, wird dich der Herr, dein Gott, über alle Völker der Erde erheben [...] Gesegnet bist du, wenn du heimkehrst, gesegnet bist du, wenn du ausziehst. Der Herr stößt die Feinde, die sich gegen dich erheben, nieder und liefert sie dir aus. Auf einer Straße ziehen sie gegen dich aus, auf sieben Straßen fliehen sie vor dir [...] Der Herr schenkt dir Gutes im Überfluss [...] Der Herr macht dich zum Kopf und nicht zum Schwanz. Du kennst nur den Aufstieg, du kennst keinen Abstieg." (28, 1.6—8.13).

Und der Fluch für spirituelles und damit auch kognitives, existentielles und politisches Versagen: "Verfluchtsein, Verwirrtsein, Verwünschtsein lässt der Herr auf dich los [...] Der Himmel über deinem Kopf wird zu Erz, die Erde unter dir wird zu Eisen [...] Der Herr stößt dich nieder und liefert dich deinen Feinden aus. Auf einer Straße ziehst du gegen sie aus, auf sieben Straßen fliehst du vor ihnen [...] Der Herr schlägt dich mit Wahnsinn, Blindheit und Irresein [...] Deine Wege führen nicht zum Erfolg. Dein Leben lang wirst du ausgebeutet [...] Weil du dem Herrn, deinem Gott, nicht gedient hast aus Freude und Dankbarkeit dafür, dass alles in Fülle da war, musst du deinen Feinden dienen" (28, 20.23.25.28—29.47—48). Für eine religionsphilosophische Einordnung und Wertung dieser Segens- und Fluchformeln siehe das E-Buch Späte Bronze- und frühe Eisenzeit in der Tora: Exodus und Landnahme.

Die prophetischen Bücher sind ebenfalls eine einzige Mediation der doppelten Erfahrung: (I) Glaube, Gottesdienst und Gebet sind Bedingung und Sinn alles anderen. (II) Aber sie sind wirkungslos und rufen sogar — genauso wie der Abfall vom Glauben an den wahren Gott — das Gericht herbei, wenn nicht überlegene Weisheit, Bildung, Recht, Glück als intellektuelle und sittliche Handlungsgemeinschaft daraus folgen. Zu diesem Gericht über die Kompromittierung der wahren Religion sowohl durch jahrhundertelangen interreligiösen Synkretismus als auch durch ebenso lange Ungerechtigkeit, Torheit und Ausbeutung sagen die Jeremia zugeschriebenen Klagelieder: Es war der „Plan des Herrn [...] die Mauern der Tochter Sion zu schleifen“ (Klagelieder [Klgl] 2, 17; 2, 8) — „Der Herr selber hat sie zerstreut.“ (Klgl 4, 16) — „In glühenden Zorn zerbrach er jegliche Kraft in Israel.“ (Klgl 2, 3) — „Dem Gegner gleich, erschlug er alles, was das Auge erfreut. Ins Zelt der Tochter Sion ergoss er Seinen Grimm wie Feuer. Wie ein Feind ward der Herr. Er zerstörte Israel.“ (Klgl 2, 4—5) — „Er verwüstete seine Wohnstätte [...] entweihte Sein Heiligtum.“ (Klgl 2, 6—7) — „Schonungslos riss er nieder. Er ließ den Feind über dich triumphieren.“ (Klgl 2, 17)

Auch für die Geschichtsbücher wie die Chronik "gilt der die gesamte Darstellung prägende ... Geschichts- und Glaubensgrundsatz, dass die Ausrichtung an der Tora, besonders am Hauptgebot, über das Glücken oder Scheitern des Einzelnen und der Gemeinschaft entscheidet (1 Chr 28, 9; 2 Chr 7, 23—26; 15, 2; vgl. Jer 29, 12—14 und 2 Chr 20, 20; vgl. Jes 7, 9 u. ö.).“ (Zenger, E. / Fabry H.-J. / Braulik, G. et al.: Einführung in das Alte Testament, Stuttgart 72008, 260) Weitere zentral einschlägige Texte sind Psalm 1 (in individueller Hinsicht) und Psalm 2 (in politischer und sozialer Hinsicht), Sprüche 8—9 und Weisheit 6—9 in individueller wie politischer Hinsicht, Apokalypse 1—3 in individueller Hinsicht und Apokalypse 4—22 in politischer Hinsicht.

Was hier auch in Rede steht, ist die Versuchung eines sterilen, unschöpferischen, abgeschmackten Konservativismus, der statt kognitiver und gesellschaftlicher Überlegenheit und optimal gelingendem Leben eine Atmosphäre der Verunsicherung, der Angst und Mindergefühle, des Unglücks und Misserfolgs atmet. In einer solchen Atmosphäre keimt und wuchert dann genau die entgegengesetzte Versuchung des liberalistischen Modernismus oder Progressismus.

Das meistverkaufte und meistdiskutierte Buch seit 1945 zur modernen Kunst stammt von dem Architekten und bis heute — als Begründer der strukturalistischen Kunstwissenschaft — einflussreichen Münchener Professor für Kunstgeschichte Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 11. Aufl. 1998 [plus 17 Auflagen als Ullstein-TB]. Dessen Kernthese geht in dieselbe Richtung wie obige theologische Stellungnahmen, macht aber auch auf das zuletzt angesprochene Problem sterilen Epigonentums und des Verlustes der schöpferischen Kräfte aufmerksam. Beides ist Ernst zu nehmen und wird uns fortlaufend beschäftigen: „In den Jahren und Jahrzehnten vor 1789 hat in Europa eine innere Revolution von unvorstellbaren Ausmaßen eingesetzt: die Ereignisse, die man als 'Französische Revolution' zusammenfaßt, sind selbst nur ein sichtbarer Teilvorgang dieser ... inneren Katastrophe [...] Es treten ... seit rund 1760 Erscheinungen [des Toten, des Chaotischen, des Dämonischen] auf, die es nie und nirgendwo in der Weltgeschichte gegeben hat [...und die] eine zentral ... kosmische und anthropische Störung [zeigen] und nur peripher eine Störung im sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Feld [...] Dem 19. und 20. Jahrhundert scheint es auferlegt zu sein, die Falschheit der Annahme eines autonomen Menschen in einem ungeheuren historischen Experiment ... zu demonstrieren [...] Der Mensch ist Vollmensch nur als Träger des göttlichen Geistes [...] Und die Epoche wird nicht wirklich überwunden und geschlossen werden, bevor nicht das Bedürfnis, das sich in allen diesen Verirrungen äußert, an Stelle von Scheinbefriedigungen seine echte Befriedigung gefunden hat [...] Man darf nicht vergessen, daß auch die Leugnung des Geistes eine schöpferische Tat des Geistes ist [...] schöpferischer als ein Verharren in sterilem Epigonentum [...] Das ,Gute' selbst wurde abgeschmackt, nachdem die schöpferischen Kräfte es verlassen hatten! [...] Die überlieferte Substanz kann nur in fortwährender Erneuerung bewahrt werden.“ (a.a.O. 10. Aufl. 1983, 7, 161, 170, 206—208, 214)

Das doppelte Phänomen (i) einer inneren und äußeren Lähmung und Leere aufgrund Säkularisierung alias Glaubensabfall und (ii) des Verlustes der schöpferischen Kräfte auf Seiten der Glaubenden ist auch das Thema des Anfang 2015 erschienenen Kultbuches Soumission [dt: Unterwerfung] des französischen Erfolgsautors Michel Houellebecq. Zu dem „in diesen Tagen meistdiskutierten Roman Europas“ (WDR 3 20.01.2015) haben sowohl der französische Staatspräsident Francois Hollande wie auch Ministerpräsident Manuel Valls öffentliche Stellungnahmen abgegeben. Der atheistische, nihilistische und obszöne Popstar der Single-Generation Houellebecq dokumentiert in diesem Buch seine grundsätzliche Bekehrung zur Religion und analysiert den Westen als sinnentleerten Konsumismus, Materialismus, Pornographie ohne geistiges Immunsystem und Selbstbehauptungswillen: „Ich glaube, es gibt ein echtes Bedürfnis nach Gott, und dass die Rückkehr des Religiösen kein Slogan ist, sondern eine Realität, die uns nun gerade mit erhöhter Geschwindigkeit einholt [...] Hinter die Philosophie der Aufklärung kann man ein Kreuz machen: verstorben [...] Sie kann nichts erschaffen, nur Nichts und Unglück.“ [Interview in Die Welt, 03.01.2015] Und: „Das Leben ist ohne Religion über alle Maßen traurig [...] Ich richte mich auch nur gegen die französische Aufklärung, Voltaire, Diderot, die konnten nicht scharf denken, viel zu viel Rhetorik, die sind eher Polemiker als Philosophen. Kant war schwer in Ordnung [...] Es geht nicht ohne Religion [...] weil ich überzeugt bin, dass im Grunde nur Zivilisationen überleben können, die auf einer Religion fußen.“ (Interview in SZ, 22.01.2015) Positiv gewendet: „Das Zeitalter der Revolution und der Aufklärung wird von einem neuen religiösen Zeitalter abgelöst werden [...] Eine Gesellschaft ohne Religion ist nicht überlebensfähig. Der Laizismus [= religionsloser Staat], der Rationalismus und die Aufklärung, deren Grundprinzip die Abkehr vom Glauben ist, haben keine Zukunft [...] Jedes Mal, wenn ich auf eine Beerdigung gehe, spüre ich, dass der Atheismus unserer Gesellschaften unerträglich geworden ist.“ (Interview in Die Zeit 4/2015, 23.01.2015)

Die Rahmengeschichte des Buches ist zwar eine fiktive innen- und bildungspolitische Machtübernahme 2022 in Frankreich durch den Islam, aber Houellebecq glaubt, dass dieser auf Dauer nicht „wirklich stärker ist als der ... Katholizismus“, um den es neben dem Islam in dem Buch eigentlich geht (Die Zeit, 23.01.2015). Auch die schließliche Konversion des Titelhelden François, eines Literaturprofessors der Sorbonne, zum Islam ist eher eine halbherzige Verlegenheitslösung angesichts des Verlustes der schöpferischen Kräfte der katholischen Weltkirche: "Zuerst sollte das Buch nicht 'Unterwerfung' heißen, der ursprüngliche Titel war 'Bekehrung'. In meinem ersten Entwurf bekehrte sich der Erzähler auch zum Katholizismus. Er folgte also dem gleichen Weg wie Huysmans [siehe in Folge] nur mit einem Jahrhundert Abstand: vom Naturalismus ausgehen, um Katholik zu werden." (Die Welt, 03.01.2015). Joris-Karl Huysmans, 1848—1907, war Leitfigur der Dekadenzliteratur und ist als Forschungsschwerpunkt von François dessen virtueller Gesprächspartner. Er liefert auch den intellektuellen Bezugsrahmen des Buches: "Anfangs totaler Nihilist und Décadent und später Katholik. Das wollte ich mit einem Helden unserer Tage probieren" (SZ, 22.01.2015). Weshalb wurde das Konzept nicht bis zum Ende durchgehalten? Houellebecq: "Meiner Meinung nach ist die Schlüsselszene des Buches jene, wo der Held zum letzten Mal die schwarze Jungfrau von Rocamadour [jahrtausendealte Felsenkirche und Weltkulturerbe, genannt "Zitadelle des Glaubens"] betrachtet. Er spürt am Wallfahrtsort eine spirituelle Kraft, wellenartig, aber auf einmal entfernt sie sich in die Jahrhunderte", während er zu seinem parkenden Auto zurückkehrt. Er vermisst die Verkörperung dieser spirituellen Kraft in der aktuellen französischen Gesellschaft, was durchaus nicht ein endgültiges Urteil ist: "Es stimmt nicht, dass der Katholizismus keine Chance mehr hat." (Die Zeit, 23.01.2015)

Die Lektüre dieses Interviews vermittelte mir ein Déjà-vu-Erlebnis: Im Sommer 1992 machte ich im Raum Toulouse zusammen mit jungen Führungskräften der katholischen Tradition (FSSPX) aus Frankreich, Spanien und England die großen, vierwöchigen Ignatianischen Exerzitien. Mit dem Exerzitienmeister, einem Veteran der Afrikamission, besuchten wir auch das nahegelegene Rocamadour. Ich spürte dessen spirituelle Kraft, andererseits erinnere ich bei der Rückfahrt gleichfalls die starke Empfindung vom Mangel schöpferischer Kräfte in der aktuellen Generation der Kirche, ob progressiv oder konservativ. Es ist unschwer zu erkennen, dass diese und ähnliche Erfahrungen bei vorliegendem Menu Religionsphilosophie Pate stehen. 

Symbiose von SRE und SRI

Es gibt Hinweise darauf, dass der Verlust der schöpferischen Kräfte seit 1800 mit den Erscheinungen des Toten, des Chaotischen und des Dämonischen in irgend einer Form mit dem 1803 und 1806 erfolgten Verrat der Träger des Sacrum Romanum Imperium [SRI] an dessen Idee und Wirklichkeit zu tun hat. Wir stellen dazu abschließend die Analysen der zwei Autoren vor, die im 20./21. Jh. am ausführlichsten über Idee und Wirklichkeit des Sacrum Romanum Imperium [SRI] oder des Heiligen Römischen Reiches [HRR] reflektiert haben.

Zum einen ist dies Otto von Habsburg [1912—2011]: Die Reichsidee. Geschichte und Zukunft einer übernationalen Ordnung, Wien / München 1986. Wie kein anderer hat der Autor offensichtlich das Recht und die Kompetenz zu diesem Thema, da seine Familie ein halbes Jahrtausend 1273—1291 und 1438—1806 die deutschen Könige und Römisch-Deutschen Kaiser stellte und damit direkt das europäische Kernland regierte und indirekt ganz Europa moderierte (und die Geschicke des Nachfolgereiches Österreich-Ungarn weitere 100 Jahre lenkte). Im 16. Jh. war das Haus Habsburg unter Karl V. und Philipp II. durch die Personalunion resp. dynastische Verbindung Deutschlands mit Spanien darüber hinaus globale Supermacht mit geopolitischer, militärischer, wissenschaftlicher, kultureller und wirtschaftlich-technologischer Hegemonie in allen Kontinenten (Europa, Amerika, Afrika, Südasien) inkl. strategischer Seeherrschaft über Atlantik, Pazifik und (via Portugal) den Indischen Ozean. Das seit 950 bestehende ursprünglich schweizerische Adelsgeschlecht der Habsburger mit der sich später von den Habsburgern emanzipirenden Schweiz als Stammland ist nach Rang und Dauer damit das bedeutendste Herrscherhaus der Weltgeschichte. Der Autor war 1930 bis 2006 dessen Oberhaupt — als ältester Sohn des letzten Kaisers von Österreich und 1916 bis 1918 selbst Kronprinz Österreich-Ungarns. Er ist damit Erbe singulärer politischer Erfahrung von Kaiser Otto dem Großen im 10. Jh. bis zu Bundeskanzlerin Angela Merkel im 21. Jh. Im Vergleich zum Haus Habsburg ist etwa das seit 1826 bestehende englische Königshaus Sachsen-Coburg und Gotha / Windsor [eine Nebenlinie des allerdings ebenfalls altehrwürdigen Hauses Wettin] jung und zweitrangig.

Dazu hat sich der promovierte Staatswissenschaftler in über 30 Büchern näher und entfernter mit unserem Gegenstand beschäftigt und in diesem Sinn seit den 1920er Jahren auf die Zeitgeschichte in Europa und den USA nachhaltig Einfluss genommen, bei Hindenburg und Brüning ebenso wie bei Churchill, Roosevelt und Truman bis zu allen Nachkriegsgrößen. Der Autor hatte sich gegen den Nationalsozialismus positioniert und 1938 für eine Machtprobe mit Adolf Hitler um die politische Zukunft Österreichs entschieden — durch eine zeitweise von Kanzler Schuschnigg sowie durch 1603 österreichische Gemeinden und Städte unterstützte Regierungsübernahme. Von seinem erfolgreicheren Gegenspieler enteignet, expatriiert und zum Tod verurteilt, organisierte er 1940 die Flucht von 15.000 Mitkämpfern, während weitere 5000 Mitarbeiter verhaftet und 1000 hingerichtet wurden oder in Haft starben. Nach dem II. Weltkrieg war er ab 1957 Vize- und 1973—2004 Präsident der Paneuropa-Union, die lt. aktueller Selbstdarstellung für ein föderatives, subsidiäres und christliches Europa steht und u.a. Th. und H. Mann, G. Stresemann, A. Briand, I. Seipel, Ch. de Gaulle, K. Adenauer, B. Kreisky, F. J. Strauß und G. Pompidou in ihren Reihen zählte.

Allerdings wäre eine eindringende und umfassende Aufarbeitung der seit 1922 bestehenden Paneuropa-Union wünschenswert, da ihr Gründer, der dem Buddhismus nahestehende und der Freimaurerei angehörige Graf Richard Coudenhove-Kalergi offensichtlich mit finanzieller Unterstützung antichristlicher Lobbys mindestens ursprünglich die Abschaffung der Völker Europas und ihrer Identität anstrebte. Nach seiner politischen Agenda Praktischer Idealismus (Wien 1925) soll dies durch eine — per interkontinentale Massenmigration zu erzeugende — "eurasisch-negroide Zukunftsrasse" geschehen, geleitet vom revolutionären sozialistischen Judentum als einer "neuen Adelsrasse". Coudenhove-Kalergi war ein Bewunderer Lasalles, Trotzkis und der Oktoberrevolution, die er als legitime Erben sowohl des Alten Testamentes wie des Christentums betrachtete, während zu gleicher Zeit Pius XI. den Kommunismus als „Sklaverei“ und „Terrorismus“ definierte, als Produkt der „materialistischen und atheistischen Propaganda“ der „Söhne der Finsternis“ (Rundschreiben Divini Redemptoris vom 19.03.1937, s.o.). Nach dem II. Weltkrieg wandelte sich Coudenhove-Kalergi zum Vorkämpfer eines Europas der Nationalstaaten und christlicher Werte. Das aktuelle Bamberger Programm der Paneuropa-Union von 1996 "bekennt sich zum Christentum als Seele Europas [und] zur Vielfalt der europäischen Nationen, Kulturen und Traditionen" und "erstrebt ein christliches Europa" — und bezeichnet dies als "Ideale ihres Gründers". Coudenhove-Calergi und seine Gründung machen letztlich einen unklaren und widersprüchlichen Eindruck. Es verwundert nicht, dass auch die Adenauer-Regierung seiner "ebenso hektischen wie egozentrischen Betriebsamkeit", von der "er mehr oder minder ... lebt" (Der Spiegel, 19.06.1957) letztlich zwiespältig gegenüberstand.

Mein Eindruck ist jedoch, dass man fehlgeleitet wäre, dieses zwiespältige Gefühl auf von Habsburg zu übertragen, mit welchem ich in der Entstehungszeit seines hier thematischen Buches über eine gemeinsame Bekannte und alte Dame der deutschen Politik unbeabsichtigt und mittelbar in Kontakt stand. Er gab sich m. E. allenfalls zu wenig Rechenschaft über den intendierten, systematischen Charakter der ideologischen und politischen Revolutionen der letzten 200 Jahre, die er analysierte, wodurch er sich zu sehr in vordergründigen taktischen Allianzen konservativer Couleur bewegte, welche schöpferische Kraft vermissen ließen. Was insbesondere die mit dem frühen Coudenhove-Kalergi in Verbindung gebrachten Pläne der biologischen und kulturellen Löschung und Neuformatierung der Bevölkerung Europas mit Deutschland im Zentrum angeht, so hat von Habsburg mit dem späteren maßgeblichen Vordenker dieser Agenda, dem amerikanischen Finanzminister und Präsidentenberater Henry Morgenthau jun., in Washington bereits zu Beginn des II. Weltkieges eine kontroverse Diskussion geführt: "Dabei stellte dieser die eigenartige Behauptung auf, dass man die Geschichte ausmerzen müsse, um ein guter Demokrat zu werden. Es gelte, den Deutschen jedes historische Bewusstsein zu nehmen", was "durch die 'Re-education' oder 'Umerziehung' im Geiste des Morgenthauplanes von linksliberalen Kreisen in den USA in die Wege geleitet wurde" und "in Deutschland ... in breiten Kreisen, nicht nur der Linken, geradezu eine Existenzgrundlage geworden" ist (a.a.O 1986, 237—238). Von Habsburgs Position ist hier seit den 1940er Jahren klar und konsistent: "Meine These, dass Verdrängung von Tatsachen nur dazu führe, dass man eines Tages von diesen überfahren werde, tat Morgenthau mit einem Achselzucken ab". Von Habsburg hält diese Agenda für "einen falschen Weg" und "zerstörend: [...] Die sich daraus ergebenden Minderwertigkeitskomplexe belasten die Bundesrepublik Deutschland schwerstens", was sich "auf den ganzen Erdteil auswirkt [...] Zukunftsweisende Politik ist ohne Kenntnis der Geschichte unmöglich." (a.a.O 1986, 237—238, 15)  

Von 1979—1999 war von Habsburg EU-Abgeordneter der CSU sowie zuletzt Alterspräsident des Europäischen Parlamentes. Im Daily Mirror machte Erich Honecker den Autor verantwortlich für den Zusammenbruch des Sozialismus und die deutsche Wiedervereinigung ("dieser Habsburger hat den Sargnagel in meinen Sarg geschlagen") — aufgrund dessen intelligenten und besonders 1989 Zeitgeschichte schreibenden Kampfes gegen den Sowjetkommunismus: Bei dem von Habsburg mit ungarischen Reformministern organisierten Paneuropa-Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze am 19.08.1989 wurde der Eiserne Vorhang zum ersten Mal und zugleich unwiderruflich durchbrochen, als 661 Deutsche aus der DDR via Ungarn fliehen konnten. Die Bilder des Ereignisses sind im kollektiven Gedächtnis der Menschheit tatsächlich das Symbol für den Fall des Kommunismus.

Das Buch ist noch im Kalten Krieg in der Reagan-Ära entstanden und bekämpft "Desinformation ... Propaganda, Terror und Subversion" der antichristlichen und kommunistischen Sowjetunion, Chinas sowie ihrer Vasallen und westlichen Tarnorganisationen (fünften Kolonnen) im Kampf um die Weltherrschaft. Und natürlich den moralischen, wirtschaftlichen und ökologischen Ruin des atheistischen Totalitarismus im Ostblock selbst. Inzwischen sind die Verhältnisse weithin umgekehrt: Es ist schlicht Fakt, dass Russland heute bei allen Defiziten die einzige christliche Großmacht ist, wo das Christentum seit 1990 um 400 % auf 100 Millionen Gläubige inkl. 20.000 Kirchenneubauten und 800 Klostergründungen gewachsen ist. Wo das öffentliche Leben z.B. durch Grußbotschaften zu Weihnachten und Ostern auf den Plakatwänden und in der Fastenzeit durch alternative Menuangebote der Restaurants entsprechend den orthodoxen Fastenregeln gekennzeichnet ist. Von den verfolgten orientalischen und afrikanischen Christen wird alleine Russland als ernsthafte Schutzmacht wahrgenommen. Dies alles ist gültig, auch wenn die schismatische Haltung der russisch-orthodoxen Kirche und großer Teile der östlichen Orthodoxie nicht legitimiert werden kann. Auch in China breitet sich das Christentum trotz des offiziellen Atheismus z. Zt. so schnell aus, dass es statistisch mit geschätzten über 100 Millionen Gläubigen schon die KP hinter sich lässt und bei Anhalten dieser Entwicklung das Land zur größten christlichen Nation macht. In der Sicht des weltweit beachteten politischen Analytikers Paul Craig Roberts ist heute der spirituelle Osten Zentrum des Widerstandes gegen die neokonservativen Globalisierungs- und Weltherrschaftspläne des säkularen, christliche Bezugnahmen und Symbole in Öffentlichkeit und Politik unterdrückenden Westens. Roberts belegt tagesaktuell an Aberhunderten Vorgängen und Stellungnahmen: Die sog. neokonservative Agenda ersetzt den Rechtsstaat durch einen Polizei- und Spionagestaat, ethik- und wohlfahrtsorientierte Volkswirtschaft durch mammonitsche junk science, und das Völkerrecht durch bewusst atomar angedachte Hegemoniekriege. Letztere bedrohen nicht nur alles Leben auf der Erde, sondern haben faktisch die schlimmsten Christenverfolgungen seit dem Ende des Ostblocks ausgelöst. Es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass von Habsburgs Buch heute dieser Entwicklung Rechnung tragen würde, denn er betont keinen Punkt so sehr wie diesen: "Die Erfahrung lehrt uns, daß der Wandel das Grundgesetz der Geschichte ist." (1986, 126) Sein Buch sieht aber auch durchaus schon damals manipulative Weichenstellungen zur Torpedierung und Verkehrung der von ihm angestrebten EU: in der Verfälschung der Demokratie "zu einer Ideologie" (197), in der ungehemmten Staatsverschuldung, in der Erosion rechtsstaatlichen Denkens und Handelns, in der Machtanmaßung nicht legitimierter und kontrollierter NROs und der zentralistischen EU-Bürokratie, in dem "langsamen — aber immer schnelleren — Tod Europas" aufgrund politisch korrekter Ehe-und Kinderfeindlichkeit: "Somit ist eine politische Katastrophe für Europa programmiert" (209), die nur, so der Autor, eine entschlossene und langfristig planende intellektuelle, politische und moralische Elite in den Griff bekommen kann. 

Neben von Habsburg hat sich im 20. Jh. der Verfassungsrechtler Prof. Hubertus Prinz zu Löwenstein in der Weimarer Republik, im amerikanischen Exil 1936—1946 und als Bundestagsabgeordneter und langjähriger Berater der Bundesregierung mit dem Thema nachhaltig befasst. Er legte dazu seit 1931 acht Buchveröffentlichungen vor. In Berlin organisierte er die Jugendarbeit des von SPD und Zentrum zur Verteidigung der Weimarer Republik gegen Kommunisten, Nationalsozialisten und preußische Monarchisten gegründeten Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Als Chefredakteur und Herausgeber der Wochenzeitung Das Reich (1934/35) sowie wegen des Buches Nach Hitlers Sturz — Deutschlands kommendes Reich wurde ihm von Adolf Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und im Exil entstand 1945 zuerst in Englisch seine erfolgreiche Deutsche Geschichte (9. Aufl. Bindlach 1990), aus der wir in Folge zitieren. Er organisierte die "Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil" und kämpfte nach der Rückkehr nach Deutschland mit leidenschaftlicher Empörung bei seinen zahllosen amerikanischen Verbindungen für die sofortige Beendigung der als unangemessene und charakterzerstörende Farce beurteilten Entnazifizierung. Im ungarischen Aufstand 1956 gegen die Sowjetunion unterstützte er persönlich die Regierung in Budapest und Kardinal Mindzenty als solidarischer Vertreter der bundesdeutschen Öffentlichkeit und geriet beim Einmarsch der Sowjets in längere Gefängnishaft. 

Hier die Ideen der beiden Autoren zu dem in Rede stehenden Zusammenhang, ergänzt um einige kurze Exkurse:

(1) Geschichtstheologische und realgeschichtliche Symbiose von Sancta Romana Ecclesia [SRE: Heilige Römische Kirche] und Sacrum Romanum Imperium [SRI: Heiliges Römisches Reich]: Die öffentliche Meinung und die Eliten der Römischen Kirche wie des deutschen Königreiches teilten bis 1806 resp. 1866/1918 die theologisch-politische Grundüberzeugung, dass das der Heiligen Römischen Kirche (SRE) in der politischen Sphäre korrespondierende und partnerschaftlich zugeordnete SRI, dessen Träger 1000 Jahre das deutsche Königtum war, das universell orientierte Weltreich des neutestamentlichen Israel ist, das die nationalen Königswürden durch eine koordinierende und höherrichterliche Funktion ergänzt: „Das Reich galt als von der Vorsehung gewollt und bestimmt, die ganze Menschheit zu umfassen [...] Alle christlichen Länder, England und Frankreich nicht ausgenommen, anerkannten den rechtlichen und moralischen Vorrang des Reiches, während die noch nicht christlichen das Feld seiner Missionsaufgabe werden sollten. Das Ethos seiner religiösen und politischen Bestimmungen verlangte, daß die ganze Erde unter die Herrschaft der vom Kreuze überhöhten römischen Weltenkrone gebracht werde — unter einer universalen Verfassung, ruhend auf dem fünffachen Grunde von Vernunft, Sittlichkeit, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit.“ (zu Löwenstein a.a.O. 1990, 121) Siehe dazu ausführlicher den obigen Abschnitt ‚SRI: Der zivilisatorische Standard der Welt‘.

Von Habsburg: "Wenn man das Wort 'Reich' ausspricht, setzt man sich häufig Fehldeutungen und unsachlichen Angriffen aus [...] Seine Aufgabe ist es, als Klammer zwischen verschiedenen Völkern und Staaten zu wirken. Es fußt auf übernationalem Recht, unsere neuzeitlichen Territorialstaaten hingegen auf nationalem." Es ist nicht "ein zentralistischer Machtstaat", sondern "eine staatliche, gesellschaftliche und geistige Ordnung, die nicht auf Herrrschaft, sondern auf Recht, nicht auf Befehl, sondern auf eine richtende und schlichtende Autorität zielt; die sich nicht von der Einsetzung durch menschliche Willkür ableitet, sondern auf göttlichem Ursprung beruht. Man braucht hier nur an ein Bibelwort zu denken, nämlich an die Antwort, die Jesus dem mit seiner Gewalt drohenden Pilatus gibt: 'Du hättest keine Gewalt über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre.'" Dabei ist bei Karl dem Großen "wie bei vielen seiner Nachfolger der Einfluss der augustinischen Geschichts- und Staatsphilosophie nachzuweisen. Sie unterschieden zwischen einem legitimen Rechtsstaat, der auf göttlichen Prinzipien beruht, der 'Civitas Dei', und dem 'Latrocinium', der Räuberbande, die wohl auch Regeln kennt, doch reines Menschenwerk ist und daher in der Gesetzlosigkeit enden muß." (von Habsburg 1986, 20, 23, 28)

(2) Konflikte zwischen den beiden Institutionen waren wegen dieser Symbiose stets für beide nachteilig. Es besteht Bikonditionalität des Wohlergehens, insofern die SRE Auge und Lebensnerv des SRI ist, und das SRI Schild und Schwert der SRE. Der formelle Sieg der SRE 1250 n. C. im Kampf gegen das SRI unter Friedrich II. Hohenstaufen führte nicht zu deren Blüte, sondern zur Krise. Erst das neue Erstarken des SRI unter Rudolf von Habsburg Ende des 13. Jh. bedeutete auch eine neue Konsolidierung der SRE (von Habsburg a.a.O. 1986, 34). Später sah sich "Heinrich III. als idealer Beschützer und Reformer der Kirche. Er hat der Reformbewegung von Cluny die Tore nach Deutschland geöffnet und sie damit zu einer entscheidenden geistig-religiösen Kraft gemacht." (ebd. 33) Im 16. Jh. mobilisierten die Römischen Oberhirten und die Gesellschaft Jesu als Repräsentanten der SRE par excellence daher schließlich die besten Kräfte für das durch die Reformation bedrohte Deutschland. Sie sahen in ihm qua Träger des SRI auch den für die SRE entscheidenden Schauplatz. Umgekehrt ist die SRE alias die katholische Orthodoxie das Auge und der Lebensnerv des SRI: Eine Trennung oder Entfremdung ist für Deutschland in existentiellerer Weise als bei anderen Nationen "Finsternis und Todesschatten" (Lukas 1,79; Jesaja 42,7). Denn dieses Volk ist ein "priesterliches Volk", so die von Hermann Hesse hochgeschätzte und für den Nobelpreis 1949 vorgeschlagene Dichterin Gertrud von le Fort: "In deinem Königspurpur" hast du vor dem Messias gekniet. "Mit der Macht bist du ihm getauft, Mit der Weltnis deines Armes bist du ihm heilig geworden; Mit deinem Schwerte gelobtest du ihm den Schild, Und mit dem Zepter den Thron" (Hymnen an Deutschland).

(3) Kunstgeschichtliches Symbol dieser Verhältnisse ist die deutsche National-Ikone Mater ter admirabilis (Liebfrauenmünster Ingolstadt). Sie ist eine künstlerische Reproduktion der ältesten und angesehensten Ikone Roms und des Westens: Regina caeli bzw. Salus populi Romani. Diese befindet sich in der ersten und bis heute bedeutendsten Marienkirche des Westens, der von Papst Liberius (352—366) erbauten römischen Basilika Santa Maria Maggiore. Entstehungsort der durch eine einzigartige Bildstruktur ausgezeichneten Ikone ist das antike Palästina / Syrien. Sie gelangte spätestens 590 n. C. über Kreta  nach Rom und erscheint an prominenter Stelle im Pontifikat Gregors des Großen, in welchem bekanntlich die europäischen Kernländer — Langobardisches Italien / Gallien / Germanien / Britannien / Gotisches Spanien — definitiv der Katholischen Weltkirche eingefügt wurden. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist die Ikone aber bereits im 4. Jh. durch Helena (248—329 n. C.), die Mutter Konstantins des Großen, nach Rom gekommen, deren Lebensmittelpunkt ansonsten die spätrömische Hauptstadt Trier war: Wegen legendärer Schönheit ihrer trojanischen Namenskollegin gleichgestellt, übertraf Kaiserin Helena dieselbe durch moralischen Heroismus und kulturpolitische Exzellenz. Sie plante und leitete das bedeutendste archäologische Projekt der Antike: die systematische archäologische Erfassung der messianischen Epoche in Jerusalem, Bethlehem, Galiläa und Gesamtpalästina. Hierzu gehörte nach einer breit belegten Tradition auch eine mit dem Mediziner, Paulusassistenten und Messiasbiographen Lukas Antiochenus in Verbindung gebrachte frühchristliche Ikone mit einem authentischen Bildnis der davidischen Mutter des Messias.
 
Um 1570 veranlasst Franz von Borgia, der dritte Generalobere der Gesellschaft Jesu und zuvor Ministerpräsident von Katalonien sowie Freund und Berater des deutschen Königs und Römischen Kaisers Karl V., Kopien der Ur-Ikone der lateinischen Westkirche zu Händen seiner Ordenskollegen, welche sich auf allen Kontinenten als globale spirituelle, intellektuelle und wissenschaftlich-technische Elite profilieren. Das Bild ist seitdem nicht nur im binnenreligiösen Bereich in Europa, Nord- und Südamerika, Süd- und Ostasien ein allgegenwärtiges Symbol des messianischen Reiches: „likely the most widely distributed image on earth“, so der in der Materie führende Kunsthistoriker Gauvin Alexander Bailey. Es ist auch offizielles Legationsgeschenk in den diplomatischen Beziehungen des Ordens und der Weltkirche mit den Regierungschefs der europäischen Nationen und außereuropäischer Mächte wie Äthiopien, Indien und China. Im seit der Antike christlichen äthiopischen Kaiserreich wird die Ikone seit der vorübergehenden Union mit der Römischen Kirche im 16. Jh. zum normativen Bildprogramm der Ikonographie. Im indischen Großreich des Philosophie und Theologie kultivierenden islamischen Mogulkaisers Akbar I. des Großen (1556—1605) finden sich typische Mogulminiaturen der Ikone Salus populi romani und Akbar empfieht ihr und Presbytern der Römischen Kirche Erziehung und Bildung seiner Söhne und Prinzen. Die Ikone wird ferner zum spirituellen Referenzpunkt der 1563 gegründeten Marianischen Kongregation [MC], welche in den folgenden Jahrhunderten eine sehr einflussreiche Denkfabrik und Vereinigung bzw. NRO der intellektuellen, politischen und gesellschaftlichen Eliten in SRE und SRI werden wird (siehe in Folge). Auch vor der epochalen Befreiungsschlacht von Lepanto 1571 gegen die Millionen Opfer fordernde islamische Menschenjagd auf Land und Meer und die osmanische Invasion und Unterwerfung des messianischen, christlichen Europa sammelt der Römische Oberhirte Pius V. seine spirituellen Energien und jene der Heiligen Römischen Kirche und des Heiligen Römischen Reiches vor dem Bild Salus populi Romani / Heil des Römischen Volkes.

(4) Von allen Nachbildungen der in Rede stehenden Ikone seit 1570 ist jene von Ingolstadt [Bild links] unbestritten jene mit der größten und auch eigenständigen Wirkungsgeschichte. Franz von Borgia übereignete sie auf Bitten des Zweiten Apostels Deutschlands Petrus Canisius dem Kolleg (college) der Jesuiten an der Eliteuniversität Ingolstadt [seit 1826 in München: Ludwig-Maximilians-Universität, LMU]. Mater ter admirabilisDas Kolleg war 1549 als erste, größte und mit internationalen Spitzenkräften wie Salmeron und später Gregor von Valencia besetzte Niederlassung des Ordens in Deutschland gegründet worden. Gregor von Valencia galt als besonders innovativer Theologe von europaweiter Bedeutung und das Kolleg Ingolstadt als „kulturelles Zentrum höchsten Ranges“ (Scheuerer: Stadtmuseum Ingolstadt). Es wurde seit 1577 neben Rom auch zu einem Zentrum der o.e. Vereinigung oder Bruderschaft MC zur Erziehung und ethischen Entwicklung junger Akademiker. Später öffnete sich die von der National-Ikone inspirierte MC auch dem Bürgertum, Arbeitern und Handwerkern und nicht zuletzt Soldaten und Offizieren, namentlich aus den damals wie heute großen Militärbasen im Raum Ingolstadt, oft mit militärischen Einheiten in corpore. Näheres bei K. Noreen: Replicating the Icon of Santa Maria Maggiore: The Mater ter admirabilis and the Jesuits of Ingolstadt. In: Visual Resources: An International Journal of Documentation 24:1 (2008), 19—37.

Langjähriger Mentor der MC und Begründer des inneren akademischen Führungskreises Collegium Marianum war der Theologe und Pädagoge Jakob Rem SJ, durch breit bezeugte Charismen ausgezeichnete aszetische Leitfigur. Eine spirituelle Vision Rems am 06.04.1604 veranlasste einerseits den Titel Mater (ter) admirabilis aus der Lauretanischen Litanei für die Ingolstädter Ikone. Andererseits führte das Ereignis zur deutschlandweiten Anerkennung als National-Ikone, u.a. durch persönliche Besuche der Herzöge von Bayern und Kaiser Leopold I. und seiner Gattin Eleonora Magdalena von Pfalz-Neuburg, dem menschlichen wie moralischen Traumpaar einer großen Zeit und Schlüsselepoche. Leopold I ist der innen- und außenpolitische Reorganisator des neuzeitlichen SRI, das er mit dem gleichermaßen hochgesinnten Freund Innozenz XI einmal mehr zum kraftvollen Motor der neuen idealen Ära macht.

Den hier vorauszusetzenden theologischen Hintergrund zum Status sakraler Kunst hatte das in Deutschland tagende 19. Ökumenische Konzil von Trient in der 25. Sitzung 1563 neuerdings präzisiert. Es aktualisierte die Argumentation des 7. Ökumenischen [ 2.] Konzils von Nizäa 787 zur Verehrung der Ikonen. Zeitgleich veröffentlichte der frühere Rektor der Universität Ingolstadt, Petrus Canisius, mit Approbation Gregor XIII. und Kaiser Maximilian II., ein epochales, interdisziplinäres Textbuch zur Persönlichkeit und theologischen Stellung der allerseligsten Jungfrau Maria, dessen historisch-philologische Informationsdichte und argumentative Gründlichkeit wahrscheinlich bis heute nicht übertroffen ist: De Maria Virgine incomparabili, et Dei Genetrice sacrosancta, 5 Bde., Ingolstadt 1577, 861 S. Das Werk ist — als Manifest und Charta der Religion und Gesellschaft Bayerns — Herzog Albrecht V. (1550—1579) gewidmet, "dem unbesiegten Vorkämpfer der universellen Kirche, welchem Bayern seine moralische und zivilisatorische Spitzenposition in Deutschland verdankt [...]: stabilisiert in der einen und einzigen Religion der Väter, attraktiv durch Lebensfreude, Wohlstand und innere Sicherheit, während soviele andere deutsche Provinzen zusammengebrochen und im Elend sind." (Vorwort) Albrecht V. begründet im Übrigen auch den Weltrang Münchens als neuzeitliche Kulturmetropole. 

Geist, Charakter und Disziplin der kaiserlichen und bayerischen Prinzen, der späteren Länderchefs, Minister und (Erz)Bischöfe des SRI und überhaupt der wissenschaftlichen und politischen Elite Deutschlands formten sich in der akademischen Exzellenz und spirituellen Dynamik Ingolstadts. Für Herzog Wilhelm V. von Bayern (1579—1597) ist seit seinem Studium die MC Zentrum des persönlichen wie politischen Denkens und Handelns und die Ikone salus populi romani repräsentiert ihm die Schutzherrin der idealen messianischen Ära und "Siegerin in allen Schlachten Gottes" (Brev. Rom.) inkl. geopolitischer Entscheidungen wie Lepanto 1571. Dasselbe gilt für seinen Sohn Kurfürst Maximilian I. (1597—1651), der Vorstand aller Marianischen Kongregationen in Deutschland ist: Seine Reformen machen Bayern auch im 17. Jh. zum modernsten und wirtschaftlich gesündesten Staat Deutschlands und Europas, während er selbst die stärkste Führungspersönlichkeit des Dreißigjährigen Kriegs ist, die zahllose militärische und politische Siege verbucht. Auch sonstige „Repräsentanten der katholischen Seite während der Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Kriegs [… wie] Kurfürst Ferdinand von Köln und Kaiser Ferdinand II. waren in Ingolstadt entscheidend geprägt worden.“ (Museum Ingolstadt). Im Großen Türkenkrieg, beginnend mit der existentiellen Schlacht um die deutsche Hauptstadt Wien 1683 zwischen dem SRI und dem Osmanischen Reich, tragen die Offiziere und Mannschaften des messianischen alias christlichen Reiches als militärisches Abzeichen ebenfalls das Bild der Mater ter admirabilis. Ihm schreiben sie den triumphalen Sieg gegen menschliches Erwarten ebenso zu wie die sich anschließende beispiellose Siegesserie und weltpolitische Weichenstellung in bzw. für Osteuropa und Nahem Osten (siehe in Folge (5)).

Die Exzellenz der bayerischen Eliteuniversität Ingolstadt und des Kollegs der Gesellschaft Jesu lässt sie zu international führenden Kompetenzzentren werden, speziell für theoretische und angewandte Mathematik und Naturwissenschaften. Ihr anspruchsvollstes Projekt — im Auftrag der chinesischen Regierung, mit nachhaltiger Unterstützung der bayerischen Regierung und in Kooperation mit sonstigen Spezialisten des Ordens aus ganz Europa — ist die exklusive Planung und Umsetzung der modernen Wissenschaftskultur und Staatsorganisation in der Weltmacht China, angefangen mit einer fundamentalen Kalenderreform. Die in SRE und SRI verkörperte neue ideale Ära gewinnt hier unübersehbare globale Präsenz und Ausstrahlung. Herausragende Persönlichkeiten des gigantischen Langzeitprojektes sind der aus München stammende Prof. Casp Castner SJ, 1696—1709 Direktor des mathematischen Instituts in der Hauptstadt Peking und zugleich der Erzieher der kaiserlichen Prinzen. Ferner der Ingolstädter Mathematiker Romanus Hinderer SJ, der 1707—1747 für die chinesische Regierung das Großprojekt der exakten Vermessung und kartographischen Erfassung des gesamten chinesischen Reiches verwirklicht. Weitere Ingolstädter Kollegen waren der Mathematiker und Rechtswissenschaftler Ignatius Kögler SJ, 1716—1746 Koordinator für mathematische Lehre und Forschung in China und zugleich Mitglied des obersten Gerichtshofs, sowie der Mathematiker und Astronom Anton Gogeisl SJ, 1738—1771 verantwortlich für mathematische und astronomische Lehre und Forschung in China. Gogeisl ist Verfasser eines monumentalen, 35 Bände umfassenden astronomischen Handbuchs I siang kao tscheng, das sich auf seinen Ingolstädter Kollegen Christoph Scheiner SJ (1575—1650) stützen kann, in der Generation Galilei einer der drei weltweit führenden Astronomen.

In der Generation Gogeisls haben die Ingolstädter Wissenschaftler die chinesische Forschung und Technik bis zu dem Punkt entwickelt und optimiert, dass sie hinsichtlich komplexer Produkte wie Instrumenten- und Apparatebau inkl. vollständiger Sternwarten europäische Spitzenerzeugnisse deklassiert und 50 % der Weltproduktion an Wirtschaftsgütern stellt. Innen- und außenpolitisch begleiten die deutschen und europäischen Berater China in der Ming- und Qing-Dynastie auf dem Weg in den Machtzenit und die kulturelle Hochblüte seiner Geschichte. Dynamisiert durch die ultimative zivilisatorische performance der messianischen Ära wird China wichtigste Großmacht Asiens: Die Bevölkerung verdoppelt sich im 18. Jh. und das Reich gewinnt die maximale geographische Ausdehnung seiner 4000-jährigen Geschichte mit Hegemonie über Innerasien und Südostasien. In spiritueller Perspektive ziehen viele Chinesen bis in die höchsten Regierungskreise die Konsequenz, im Zeichen der in Rede stehenden Ikone Christen zu werden. Zahlreiche buddhistische, taoistische und konfuzianische Denker und Beamte werden Presbyter der Gesellschaft Jesu. In einem Kulturaustausch der Superlative verdankt umgekehrt der Westen den interdisziplinär gebildeten Theologen dieser Gesellschaft die ersten systematischen wissenschaftlichen Darstellungen der chinesischen Philosophie, Geschichte, Geographie, Medizin und Kunst.

(5) Die im Vorhergehenden mit angesprochene strategische Neutralisierung der zentralen geopolitischen Bedrohung Europas in den weltgeschichtlichen Türkenkriegen 1682—1699 machten den Römisch-deutschen Kaiser wiederum als effektiven Führer und Schirmherren der Christenheit transparent (zu Löwenstein 1900, 264—267). Namentlich gilt dies für Leopold I., den verfassungsrechtlichen, administrativen und militärischen Reorganisator des SRI — zusammen mit dem legendären Prinzen Eugen als militärischen Oberbefehlshaber und Minister des Reiches (von Habsburg 1986, 52—58), der "die tausendjährige Bedrohung Europas durch den Islam für immer gebannt" hat (zu Löwenstein 1990, 271)

Zum Hintergrund: Nachdem 1678—1681 der türkische Versuch der Eroberung der Ukraine und Polens gescheitert war, begann 1682/83 eine Großoffensive — des Vorderasien, Nordafrika und Südosteuropa umfassenden — osmanischen, türkischen Weltreichs unter Sultan Mehmed IV. (1648—1687) gegen Mitteleuropa mit dem strategischen Nahziel der Eroberung Wiens, Hauptstadt des SRI und in den Augen des Angreifers das „Tor nach Leopold I von HabsburgWesteuropa“. Nachdem die islamischen Aggressoren unter dem Großwesir und Oberbefehlshaber Kara Mustafa 90 % der benachbarten Kommunen Niederösterreichs ermordet oder verschleppt hatten, tobte vom 14. Juli bis 12. September 1683 die (zweite) Schlacht um Wien zwischen der weit überlegenen, 150.000 Mann starken Belagerungsarmee des Osmanischen Reichs und 15.000 bzw. zuletzt noch 5000 Verteidigern in 64 Kampfgruppen. Diese konnten sich in der zur modernen Superfestung ausgebauten deutschen Regierungshauptstadt behaupten, bis das Entsatzheer des SRI und Polens eintraf und in der Schlacht am Kahlenberg die Türken vernichtend schlug. Am Siegestag 12. September setzte Papst Innozenz XI. das Dankesfest Mariä Namen für die gesamte Römische Kirche fest, da die Schlacht unter dem Banner der Schutzmantelmadonna geführt und gewonnen wurde.

Die beiden persönlich und politisch vorbildlichen Führer des christlichen Israel waren dabei Kaiser Leopold I. (1658—1705, Bild oben), der andere und insgesamt weit überzeugendere "Sonnenkönig", und der Römische Oberhirte Innozenz XI. (1676—1686), der konfessionsübergreifend als spirituelles Licht für die Welt gesehen und erlebt wurde sowie als „Verteidiger des christlichen Abendlandes“ anerkannt war. Sie sahen nun die historische Chance, vom nackten Existenzkampf in die strategische Offensive überzugehen. Sie gründeten dazu eine Heilige Liga mit der Republik Venedig und Polen-Litauen sowie Russland, der sich auch die Streitkräfte Bayerns, Brandenburgs, Sachsens und Hannovers anschlossen. Im folgenden Großen Türkenkrieg (1683—1699) gelang die Eroberung Ofens (Budapest), Belgrads, Sarajevos, Sofias und Prištinas und damit die Befreiung der christlichen Nationen Ungarn, Slowakei, Kroatien, Serbien und des größten Teils Rumäniens. Das Osmanische Reich — 1683 durchaus an der Schwelle zur Eroberung Mitteleuropas — verlor seine geopolitische Bedeutung und das habsburgische Österreich resp. das SRI wurde neue europäische Großmacht. Ab 1686 bis 1696 leitete der brillante Oberbefehlshaber des Ludwig Wilhelm von Baden BadenSRI Ludwig Wilhelm von Baden-Baden (1655—1707; Bild links 1705, Heeresgeschichtliches Museum Wien) die mit 20 siegreichen Schlachten abgeschlossenen Offensiven an der Ostfront gegen das Osmanische Reich. Der bisherige Oberbefehlshaber in Italien seit 1696, sein noch brillanterer Vetter Prinz Eugen von Savoyen (1663—1736), löste ihn ab 1697 bis 1718 (Ende des folgenden Venezianisch-Österreichischen Türkenkrieges) als Oberbefehlshaber der Ostfront ab — mit noch größeren Erfolgen. Ludwig Wilhelm von Baden-Baden übernahm das Kommando im Westen gegen den französischen König Ludwig XIV., der im Einverständnis mit dem osmanischen Reich parallel zum Großen Türkischen Krieg den Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688—1697) begonnen hatte, um das SRI in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln, die Pfalz und das westrheinische Deutschland mit einer Strategie der verbrannten Erde in die Steinzeit zu versetzen und Frankreich einzuverleiben. Deswegen und wegen Anmaßung und Hybris ybris Hyin kirchlichen Fragen bis zur Auflösung der Autorität des Apostolischen Stuhles bekämpfte Innozenz XI. während seiner gesamten Regierungszeit den Sonnenkönig unerbittlich bis zur Exkommunikationsdrohung.

Prinz Eugen war im folgenden Spanischen Erbfolgekrieg (1701—1714) weiterhin der Verteidigungsminister und militärische Oberbefehlshaber des SRI und Oberbefehlshaber der antifranzösischen Alliierten. In diesem ersten alle Kontinente einbeziehenden Weltkrieg der Geschichte stand er an der Westfront der mit Abstand größten und auch modernsten Armee der Welt gegenüber. Er deklassierte dieselbe, unterstützt durch ein englisches Expeditionskorps unter dem Herzog von Marlborough, in vier weltgeschichtlichen Schlachtensiegen (Höchstädt 1704 — Turin 1706 — Oudenaarde 1708 — Malplaquet 1709) und stoppte so die aggressive Eroberungspolitik Frankreichs, des in der Epoche militärisch, wirtschaftlich und kulturell mächtigsten Staates Europas und geopolitischen Hauptgegners im Westen. Prinz EugenEr vereitelte damit die Pläne Ludwig XIV. zur Usurpierung des SRI und praktisch auch der SRE sowie zur Hegemonie Europas in Absprache mit dem osmanischen Reich. Er bestimmte bis 1736 als Außen- und Verteidigungsminister die Politik Österreichs und des SRI und wurde mit Leopold I. der Architekt der "Weltmacht des Barock". Auch kulturell: Der intellektuelle Prinz Eugen war der Förderer der Leibniz'schen Philosophie und der stilprägende Auftraggeber der genialen Architekten Johann Fischer von Erlach und Johann Lukas von Hildebrandt. Deren Stadtplanung und imperiale Bauten machten Wien zur größten und glänzendsten deutschen Metropole der nächsten zwei Jahrhunderte. Das Grabmal im Wiener Stephansdom für den tiefgläubigen Prinz Eugen ist „dem überaus siegreichen Feldherren [gewidmet], den uns Gott zur Bewahrung der Christenheit zugestanden hat“. [Bild links: Prinz Eugen, von Jacob van Schuppen 1718, Wiener Belvedere]

(6) Nach dem weitgehenden Konsens der Kirchenväter und der öffentlichen Meinung zweier Jahrtausende ist das im SRI sich fortsetzende Römische Reich — alleine oder in Verbindung mit weiteren Bedingungen — der in den Paulusbriefen (2 Thessalonicher 2, 6-7) angesprochene Aufhalter des Antichristen (von Habsburg 1986, 178).

(7) Aus (6) folgt der Beginn des Reiches des Antichristen wenn das Ende des SRI eintritt (zu Löwenstein 1990, 223).

(8) Die Tragödie der deutschen Nation und auch der Römischen Kirche ist das Jahr 1806, als zahlreiche deutsche Fürsten Hochverrat am SRI und ihrem Staatsoberhaupt begingen und stattdessen im Rheinbund sich dessen theologisch-politischem Feind Napoleon defaitistisch andienerten, worauf der deutsche König und römische Kaiser Franz I. die Auflösung des SRI erklärte (von Habsburg 1986, 37). Vorangegangen war der sog. Reichsdeputationshauptschluss 1803, der mit der Säkularisierung der Reichskirche und ihrer Hochschulen und der Entmachtung der Reichsstädte die beiden Hauptstützen des SRI und seiner akademischen Exzellenz getroffen hatte.

(9) Der Kaiser als Regierungsoberhaupt des SRI kann das SRI nicht auflösen (zu Löwenstein 1990, 313), da es vom Apostolischen Stuhl in Rom, dem Regierungsoberhaupt der SRE, übertragen wird. Der entsprechende Versuch von Kaiser Franz I. 1806 war daher ungültig. So auch der damalige Papst Pius VII. Das SRI besteht ideell und potentiell weiter (zu Löwenstein 1990, 314).

(10) Es war ein „schweres politisches Versäumnis“ auf dem Wiener Kongress 1815, dass das SRI als "höchste Würde" und "größte Institution des Abendlandes" trotz des engagierten Einsatzes des großen politischen Reformers und Reorganisators Freiherr von und zum Stein und des römischen Nuntius nicht erneuert wurde (von Habsburg 1986, 7—8). Speziell von Stein sah im Sinne des SRI als Zweck des Staates die moralische, religiöse, intellektuelle Vollkommenheit der Bürger (zu Löwenstein 1990, 317). Habsburg: "Es war ein säkularer Fehler von Kaiser Franz, daß er in dieser Frage auf seinen Kanzler [Metternich] hörte", der ein "Mann der Aufklärung" war und "der beginnenden Nationalstaaten ... mit ihren ... oftmals traditionsfeindlichen, streng rationalistischen Verwaltungen ..., die auch die Verantwortung für die Säkularisation [1803] trugen, also für eines der größten kulturellen Vernichtungswerke der modernen Geschichte [...] Man darf ... annehmen, daß eine andere Politik der Entwicklung des 19. Jahrhunderts eine neue Richtung gegeben hätte. Das Reich hätte mit seiner übernationalen Idee niemals Träger jener geistlosen 'Restauration' sein können, die im deutschen Raum und anderswo so viel Unheil angerichtet hat. Unter dem Zepter eines universalen Kaisertums hätte jene kleinkarierte Politik, die in den Jahren 1830 und 1848 gescheitert ist, nicht gedeihen können." (1986, 7—8)

(11) Auch Großbritannien und die bedeutendsten Köpfe des protestantischen Norddeutschlands sahen die Nichterneuerung des SRI als „schweres politisches Versäumnis“ an (von Habsburg 1986, 38). So die Welfen (von Habsburg 1986, 38), der erwähnte Freiherr von und zum Stein sowie die modernen Reformer, Militärs und Autoren Scharnhorst, Blücher, Gneisenau, Arndt (zu Löwenstein 1990, 321). Auch für Fichte war die Tradition des SRI ein Reich des Rechtes, der Vernunft und der Wahrheit (zu Löwenstein 1900, 325) und der „Inbegriff des gesamten christlichen Europa“ (ebd. 324). Die genannten Staatsmänner waren die fähigsten Begabungen der Epoche, deren Rechts- und Verwaltungsreformen als besonders fortschrittlich und erfolgreich gelten. Sie alle betrachteten eine effiziente Reorganisation des SRI nicht nur als eine realistische Option, sondern als das realpolitische Optimum. Sie konnten sich auf den anerkannt bedeutendsten Universalgelehrten der Neuzeit, Gottfried Leibniz Hannover Ausschnitt gemeinfreiWilhelm Leibniz (1646—1714, Bild links) beziehen. Dieser hatte sich zeitlebends mit keinem Thema so intensiv beschäftigt wie mit der effizienten Reorganisation des SRI und ein bis heute überzeugendes detailliertes Verfassungskonzept erarbeitet, das u.a. den größten Einfluss auf das Politikverständnis Friedrichs des Großen hatte. Bereits mit 25 Jahren war er von 1667—1672 die treibende Kraft einer diesbezüglichen Reformkommission des Kurfürsten von Mainz und Reichskanzlers Johann Friedrich von Schönborn. Im 20. Jh. hat der Universalgelehrte und Leibnizforscher Kurt Huber Leibniz' Reformkonzept des SRI neu in die Diskussion gebracht. Es wurde zu einer wichtigen Inspiration der studentischen NS-Widerstandsbewegung Weiße Rose, deren Mentor Huber war (vgl. K. Huber: Leibniz, München 1989, 33—71, 306—321).  

(12) Unbeschadet der o.g. Kritik an 1806 ist das von Franz I. als Ersatz für das SRI errichtete Kaiserreich Österreich mit seinem Primat im Deutschen Bund auch in Sicht der SRE die Fortsetzung des SRI als Garant von Gerechtigkeit, Ordnung und Frieden in Religion und Gesellschaft: "Die Initiative dazu [= Deutscher Bund] hatten Österreich und Preußen gemeinsam ergriffen. Der einseitige kleindeutsche Geschichtsunterricht vermittelte seitdem Generationen von jungen Deutschen ein Zerrbild dieses Bundes [...] Die sogenannte Erbfeindschaft zwischen Österreich und Preußen war ein furchtbarer historischer Irrtum [...] Wien wie Berlin trugen Schuld daran" (von Habsburg 1986, 39, 41) Deswegen ist das Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund nach dem Bruderkrieg 1866 die endgültige Schicksalswende: "Die deutsche Abkehr von der großen Johann von Österreich Leopold Kupelwieser gemeinfrei NetzIdee des 'Orbis Europaeus Christianus ' mußte sich zwangsläufig auf alle Nachbarn verheerend auswirken, denn sie zerstörte die Mitte des Kontinentes", die selbst "die in Bosnien ... lebenden Mohammedaner harmonisch in das Gesamtgefüge der Monarchie und ihrer Armee ein[gliederte ...]: Diese standen loyal zum katholischen Herrscherhaus". Letzteres hatte ferner "aus der religiösen Verankerung seines Amtes heraus ein besseres Verständnis für die sozialen Probleme ... als die meisten Persönlichkeiten der damals führenden Schicht" und schuf neben bahnbrechenden "sozialen Errungenschaften ... das erste Sozialministerium der Welt" (41, 64, 68—69). [Bild rechts, von L. Kupelwieser: Erzherzog Johann von Österreich, 1782—1859, Bruder Kaiser Franz I./II., von der Frankfurter Nationalversammlung des Deutschen Bundes gewähltes deutsches Staatsoberhaupt 1848—1849. Der umfassend gebildete Feldmarschall und militärische Gegenspieler Napoleons galt als Inbegriff der überlegenen Effizienz moralischer und nachhaltiger Politik: Seine in engem Kontakt mit der Bevölkerung entwickelten sozialen, landwirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Initiativen und Reformen in der Steiermark machten diese zur innovativsten Region Europas und erschlossen den Alpenraum] 

(13) Aber auch die protestantisch dominierte Reichsverfassung von 1871 hat den subjektiven Willen zur — objektiv natürlich nur Imitat bleibenden — Fortsetzung des Reiches. Selbst die Weimarer Republik ordnet sich in diese Linie ein: Die Reichsverfassung der Nationalversammlung von Weimar vom 31.07.1919 beginnt mit der Feststellung, dass „das Deutsche Volk ... von dem Willen beseelt [ist], sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen“. Zu Löwenstein sieht hier den Willen zur Kontinuität von 1806 zu 1871 zu 1919 und auch — verfassungsrechtlich korrekt — zu 1949 (1990, 532).

(14) Die Deutsche Geschichte zu Löwensteins schließt mit der durchaus die theologisch-politische Tradition zusammenfassenden These: Das SRI ist (i) eine metaphysische Realität als (ii) geschichtstheologische "Sendung" aufgrund (iii) transzendenter "Fügung, die alle menschlichen Irrungen überragt", welcher (iv) die "Verheißung" der Dauer und (v) des Wiederauflebens nach Phasen der "Trübnis und Dunkelheit" gegeben ist (1990, 641).

(15) Hinsichtlich des eventuell auftauchenden — und spirituell, moralisch und zivilisatorisch nach allem Gesagten nicht von vorneherein unkorrekten — Desiderates einer modernen Neurealisation der Idee des SRI ist die Quintessenz des greisen Patriarchen Otto von Habsburg: In der Politik ist nichts in Stein gemeißelt. Der Wandel ist das das einzige Bleibende: Das ist das Grundgesetz der Geschichte (1986, 126). Eine gelingende Neurealisation kann, so derselbe, jedoch nicht per äußerlicher Restaurierung des Vergangenen erfolgen, sondern nur per schöpferischer Erneuerung qua Wiederbeseelung durch Geist und Kraft des SRI. Den Wandel als Grundgesetz der Geschichte mag in vorliegendem Zusammenhang eine persönliche Erinnerung belegen: In meiner frühen Kindheit lebten noch Hunderttausende Männer und Frauen, die im Deutschen Bund geboren worden waren, als der Deutsche Bundestag in Frankfurt am Main tagte und Wien — solange die Menschen zurückdenken konnten — die Regierungshauptstadt Deutschlands war sowie Österreich das größte und führende deutsche Bundesland. Wer kann wirklich sicher sein, dass nicht auch umgekehrt unsere Enkel im Jahre 2100 wieder in einem modernen SRI leben werden und sich nur noch die Ältesten an die Epoche der säkularen, multikulturellen EU erinnern werden? Wer will sein Leben dafür verwetten, dass Houellebecqs Analyse a limine falsch ist: „Das Zeitalter der Revolution und der Aufklärung wird von einem neuen religiösen Zeitalter abgelöst werden [...] Eine Gesellschaft ohne Religion ist nicht überlebensfähig." (Interview in Die Zeit 4/2015, 23.01.2015)

(16) Von Habsburg: "Die Reichsidee blieb von Otto dem Großen, der ab 936 das Imperium wieder aufrichtete, bis in unser Jahrhundert eine wesentliche Kraftquelle für Europa und vor allem für dessen Mitte." Daher sind "Karl der Große, Karl IV. und Karl V. ... wohl die bedeutendsten Ahnherren des Europa von morgen." (1986, 24, 35) Er dekonstruiert hier auch die Meinung "national orientierter Historiker [...] daß das übernationale Kaisertum schweren Schaden angerichtet habe, da es dieFranz I 1820 J. Kreutzinger gemeinfrei Netz2 Energien der mit ihm betrauten deutschen Könige zu sehr nach Italien und andere Gebiete Europas ablenkte", als Fehlschluss (24—25). Er ist der schon erwähnten Überzeugung: "Die Tragödie der Deutschen, unter der wir heute noch leiden, begann mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1806 ... unter dem sie so leben konnten, wie es ihrem Wesen, ihrer Tradition und ihrer geographischen Lage entsprach." (37) Von Habsburg meint damit eine Lebensform der Objektivität und Weltoffenheit, Rechtschaffenheit, Disziplin und Leistung, spiritueller Tiefe, intellektueller Gründlichkeit und technischer Exzellenz sowie wechselseitigen Respektes der Nationen, Traditionen und Sprachen, wie sie sich mit innerer Logik auch in der Schweiz und Österreich-Ungarn ausbildete, die er als analoge Nachfolgemodelle des SRI im kleinen Maßstab deutet. [Bild rechts, von J. Kreutzinger: Franz II., 1792—1806 Römischer Kaiser und Repräsentant des SRI, 1804—1835 als Franz I. Österreichischer Kaiser. Seit 1792 Sprecher und Moderator des ideellen, politischen und militärischen Widerstandes der freien Welt angesichts des als Zivilisationsbruch wahrgenommenen demagogisch-faschistischen Staatsterrors der französischen Revolution. 1809—1814 Vordenker und Koordinator der alliierten Befreiungskriege in Europa zur Niederwerfung der Diktatur Napoleons]

(17) Der Feind Nr. 1, so weiter von Habsburg, ist moralische Erpressung und ein schlechtes Gewissen mit der Folge moralischer Entwaffnung und desorientierter Hilflosigkeit. Nicht die materiellen Mittel, sondern die Moral und der Wille zum Sieg sind entscheidend: "Unser größtes Element der Schwäche ist derzeit der Mangel an Willen. Ohne einen solchen aber gibt es keine Politik. Diese lenkt man oder man erleidet sie. Materielle Mittel können Entschlossenheit nicht ersetzen, wohl aber umgekehrt." (1986, 206, 235). Das wiederholt die Beobachtung Carlyles: "The fearful unbelief is unbelief in yourself" — "Der furchtbarste Unglaube ist der Unglaube an sich selbst."

(18) Die Voraussetzung Nr. 1 für eine irgendwie überzeugend gestaltete Zivilisation der Zukunft ist eine Elite nicht nur von Fachspezialisten, sondern universell gebildeter und charakterstarker Menschen: "Es ist daher anzunehmen, daß es eine der wichtigsten Aufgaben ... der Zukunft sein wird, jungen Menschen das wesentliche, also überzeitliche Wissen beizubringen [...] Wir brauchen wieder Menschen, die eine Synthese und nicht nur solche, die Analysen machen können [...] Noch wichtiger sind Frauen und Männer, die Mut und innere Überzeugung haben." (von Habsburg 1986, 212, 214—216).

In diesem Zusammenhang eine persönliche Bemerkung: Ich bin immer wieder auf ein Phänomen gestoßen, das nach meinem Dafürhalten in diesen Zusammenhang gehört. Ich meine seit etwa 1800 bis heute in den Portraits der Bischöfe, Staatsmänner und Gelehrten einen von Generation zu Generation zunehmenden Profilverlust, einen Abbau von selbstsicherem Geist, männlicher Kraft und gelassener Würde auszumachen resp. bei den weiblichen Portraits das Nachlassen femininer Souveränität, Präsenz, Anmut und Esprit. Nach den kanonischen Schriften und der Theologie des prophetischen Theismus ist dies die Folge von Glaubensschwäche, moralischer Schwäche und Gottferne. Denn an sich gilt : "Der Mensch ist Gott ähnlich (Genesis 5, 1), wie der Sohn seinem Vater ähnlich ist (5, 3), weil er von seinem Schöpfer etwas Göttliches erhielt (vgl. 2, 7): seine geistigen Fähigkeiten und die Herrlichkeit seiner äußeren Erscheinung (vgl. Psalm 8, 6). Als 'Abbild Gottes' repräsentiert er Gott unter den anderen Geschöpfen ... mit Glanz und Hoheit (d.h. mit sichtbar ausstrahlender Macht und Herrlichkeit) gekrönt, ein König, durch Gott zum Herrscher über alle anderen Lebewesen bestellt (Genesis 1, 28, Psalm 8, 79, Jesus Sirach 17, 3)." (Bibel-Lexikon, Zürich / Einsiedeln / Köln 1982, Stichwort "Abbild") Jedoch "ermangeln die Sünder der Herrlichkeit Gottes (Römer 3, 13)", außer sie glauben an den Messias [Christus], der "den Gläubigen die Herrlichkeit, die er selber vom Vater erhalten hatte, d.h. die königliche Macht, mitgeteilt" hat, nachdem er sie "gerechtfertigt hat", sodass von neuem gilt: "Der Geist der Herrlichkeit, der Geist Gottes, ruht auf euch" (1 Petrus 4, 14, vgl. Isaias 11, 2)" (ebd. Stichwort "Herrlichkeit").

(19) Die Einsicht Nr. 1: "Unsere Leerräume sind nicht so sehr politischer und wirtschaftlicher, sie sind geistiger Natur [...] Eine politische Diskussion, die zu Ende geführt wird, muß zwangsläufig in der Theologie enden." (von Habsburg 1986, 260, 255).

(20) Das politische Triangulationsszenario: "In Wirklichkeit gibt es in der Politik nur drei Elemente, die zählen: Glaubwürdige Persönlichkeit, eine klare, unzweideutige Aussage, und schließlich unermüdliche Basisarbeit." (von Habsburg 1986, 216)

Metaphysische Dimension der Erlösung

Im prophetischen Theismus des Alten und Neuen Testamentes hat Erlösung eine metaphysische Dimension, die zentral und unverhandelbar ist. Dazu an dieser Stelle nur der Hinweis auf das Untermenu zur Kosmologie der Tora mit der Interpretation der ersten drei Kapitel des Buches Genesis. Wir sagten dort: In Genesis 3 wird der Leser der Tora zum ersten Mal mit nichtmateriellen intelligenten Lebensformen konfrontiert, da die Schlange (Genesis 3, 1—6) am Anfang des Textes nach dem Kontext des Tanakh Manifestationsmedium einer solchen Lebensform ist und die Cherubim (Genesis 3, 24) an dessen Ende ebenfalls solche Lebensformen sind. Zugleich ist eine unterschiedliche ethische Ausprägung derselben angesprochen: Gut (Engel) und Böse (Dämonen). Das Bewusstsein oder die Überzeugung von der Existenz solcher mentaler oder geistiger Substanzen ist dabei kein Sondergut der Tora, sondern praktisch Allgemeingut der vor- und frühgeschichtlichen Überlieferung, aber auch des Platonismus.

Das erwähnte Papier zur Kosmologie der Tora entwickelt die These, dass sich die Existenz nichtmaterieller intelligenter Lebensformen wissenschaftstheoretisch und religionsphilosophisch so darstellt, dass deren Möglichkeit ohne weiteres zuzugegeben ist. Für unser heutiges wissenschaftliches und philosophisches Weltbild ist deren Existenz an sich plausibler und naheliegender als etwa unsere komplexe menschliche Lebensform. Neben der Möglichkeit der Existenz nichtmaterieller kognitiver Subjekte als intelligenter, personaler Lebensformen ist die zweite Frage jene nach der tatsächlichen Existenz nichtmaterieller intelligenter Lebensformen. Diese hängt — neben den erwähnten vorgeschichtlichen religiösen Traditionen und philosophischen Schulen — mit Kontakten und Erfahrungen praktisch aller normativen Persönlichkeiten des prophetischen Theismus mit denselben in geschichtlicher Zeit zusammen.

In dem erwähnten Papier war unsere Analyse hierzu diese: Eine religionsphilosophische Evaluation dieser berichteten Erfahrungen sollte auf dem Hintergrund des Ergebnisses aus der Rekonstruktion der Weltanschauung der Tora erfolgen: Die Religion der Tora und des Tanakh ist in entscheidender Hinsicht Religionskritik nach außen und Kultkritik nach innen. Sie versteht sich als eine Religion der Vernunft und der Ethik. In der Perspektive der Religionskritik argumentiert das Buch der Weisheit, Kap. 13—15, kurz vor der Zeitenwende für die These: Der prophetische Theismus des Tanakh ist vernünftige Aufklärung über den Menschen, das Universum und Gott, und radikale Religionskritik im Namen der Rationalität und Humanität. Dies waren und sind nicht nur leere Worte, sondern ein kulturgeschichtliches Faktum, das als solches auch von der Umwelt so wahrgenommen wurde.

Wenn nun die maßgeblichen Träger des prophetischen Kampfes für Aufklärung, Rationalität und Ethik wie Abraham, Jakob, Mose, Josua, Gideon, David, Jesaja, Ezechiel, Daniel usw. in unaufgeregter, sachlicher und eher beiläufiger Form von Kontakten mit nichtmateriellen intelligenten Lebensformen berichten, dann gibt es diese drei Möglichkeiten: (i) Sie sind Paranoiker oder Phantasten. Dann sollte man sie beziehungsweise ihre Schriften meiden. (ii) Sie sind Hochstapler oder Betrüger. Dann sollte man sie und ihre Schriften ebenfalls meiden. (iii) Sie dokumentieren reale Erfahrungen. Dann gehört die Existenz nichtmaterieller intelligenter Lebensformen zu den ontologischen Verpflichtungen des prophetischen Theismus.

Gegen Möglichkeit (i) steht die unbestreitbare Tatsache, dass durch Abraham, Jakob, Mose, Gideon, David, Jesaja, Ezechiel etc. das phantastische mythologische resp. polytheistische Weltbild vergangener Epochen weltweit dekonstruiert wurde: Nur und genau sie haben religiöse Phantastik und Paranoia eliminiert.

Gegen Möglichkeit (ii) steht der ebenfalls nicht wirklich bestreitbare Sachverhalt, dass von Abraham, Jakob, Mose, Gideon, David, wie von Jesaja, Ezechiel und den sonstigen Schriftpropheten gilt, dass sie mit einer „über allen Institutionen und Einzelpersonen stehende[n] Autorität [...] Kritiker“ von Lüge und Korruption sind und Kämpfer für Wahrhaftigkeit und sittliches Handeln und so „Anlass permanenter Provokation ... und Innovation“ sowie „als oppositionelle Einzelkämpfer ... zugleich permanentes Opfer von Spott, Marginalisierung und Verfolgung.“ (Zenger, E. / Fabry H.-J. / Braulik, G. et al.: Einführung in das Alte Testament, Stuttgart 72008, 419—420)

Genesis 3 berichtet nun von einer ursprünglich leidlosen Lebensform und paradiesischen Umwelt (Eden) in Gleichklang und vertrautem Umgang mit dem personalen göttlichen Absoluten. Ferner berichtet Genesis von einer ursprünglichen ethischen Entscheidungssituation in Form der Enthaltung von den Früchten des sogenannten Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Beeinflusst von einer bösen, gegen das Göttliche gerichteten und in Form einer Schlange erscheinenden geistigen Macht, versagten die ersten Ahnen in dieser Situation — mit dem Resultat des Wechsels von der paradiesischen Lebensform und Umwelt zu konstantem Leidensdruck in Ignoranz und Arroganz, aber mit der Zusage der ethischen und physischen Erlösung in der Zukunft (Messiasidee).

Das Neue Testament hat den Anspruch, das Buch der messianischen Erlösung zu sein. Ein religionswissenschaftliches Standardwerk zum Neuen Testament ist nun im deutschen Sprachraum zur Zeit Gerd Theissen/Annette Merz: Der historische Jesus, Göttingen, 3. Aufl. 2001 [1. Aufl. 1996]. Das in mehrere Sprachen übersetzte Buch ist aber auch z.B. in der angloamerikanischen Forschung stark präsent. Die Heidelberger Autoren Theissen/Merz sind insoweit repräsentativ für das gegenwärtige Denken über das Thema. Repräsentativ für eine verbreitete Einstellung ist auch ihre postmoderne Offenheit für Mentales, Paranormales und Transzendenz in Verbindung mit einer letztlich naturalistischen / rationalistischen Ontologie. Sie sagen zu unserem Thema: „Auf keine antike Einzelperson wurden so viele Wunderüberlieferungen konzentriert wie auf Jesus [...] Daß Jesus charismatischer Exorzist und Wunderheiler war, läßt sich nicht bestreiten.“ (Theissen/Merz 2001, 115) Und: „So wie die Gottesherrschaft im Zentrum der Verkündigung Jesu steht, bilden Heilungen und Exorzismen ein Zentrum seines Wirkens [...] Wunder [sind] in so vielen alten Überlieferungsschichten bezeugt, daß an ihrem historischen Hintergrund kein Zweifel besteht.“ (Theissen/Merz 2001, 256) Und: "Die Einzigartigkeit der Wunder des historischen Jesus liegt darin, daß gegenwärtig geschehenden Heilungen und Exorzismen eine eschatologische Bedeutung zugesprochen wird. In ihnen beginnt eine neue Welt. […] Nirgendwo sonst finden wir einen Wundercharismatiker, dessen Wundertaten das Ende einer alten und der Beginn einer neuen Welt sein sollen. Auf die Wunder fällt dadurch ein ungeheurer Akzent (und es ist unhistorisch, ihre Bedeutung für den historischen Jesus zu relativieren).“ (Theissen/Merz 2001, 279) — „So wie sich in den Wundern des Mose damals der Exodus anbahnte, so in den Exorzismen [Jesu] heute die Befreiung Israels durch das Reich Gottes.“ (Theissen/Merz 2001, 238)

Diese Exorzismen des Neuen Testamentes konfrontieren den Leser der Berichte daher wiederum mit der Existenz nichtmaterieller Lebensformen. Vgl. hierzu das Skript: Zur Wissenschaftsphilosophie nichtmaterieller Lebensformen. Es verbindet o.e. Kosmologie der Tora [Abschnitt (6) Nichtmaterielle intelligente Lebensformen in Religionsgeschichte und Ethnologie] mit der Diskussion der einschlägigen Berichte seit der Zeitenwende.

Messianische Erlösung bedeutet mithin in besonderer Weise die Befreiung von der dunklen Macht, in deren Einfluss- und Machtbereich Menschen stehen. Folgende Aussagen des Neuen Testamentes können das oben Gesagte ergänzen: Der Messias "ist erschienen, um die Werke des Teufels zu zerstören" (1 Johannes 3,8) und "heilte alle, die in der Gewalt des Teufels waren" (Apostelgeschichte 10,38). Im Tanakh und Neuen Testament heißt diese Macht bekanntlich "Der Böse" (1 Johannes 2,14) und "Alte Schlange, Teufel, Satan" (Apokalypse 12,9; 20,2) sowie "Vater der Lüge" (Johannes 8,44) und "Mörder von Anfang an" (ebd.). Diese dunkle Macht ist "Herrscher dieser Welt" (Johannes 12,31) und "verführt die ganze Welt" (Apokalypse 12,9), und zwar zu Gottlosigkeit, Betrug und Ungerechtigkeit, Lüge und Mord (2 Thessalonicher 2,10; Johannes 8,44): "Wer die Sünde tut, stammt vom Teufel" (1 Johannes 3, 8).

Wie zentral diese metaphysische Dimension von Erlösung im prophetischen Theismus ist, zeigen drei seiner bekanntesten Werke und darüber hinaus der Weltliteratur: Augustinus De civitate dei (Vom Gottesstaat, 413—426 n. C.) ist — wie oben bereits gesagt — die umfassendste und reflektierteste wissenschaftliche Darstellung und Kritik der römisch-griechischen und überhaupt indogermanischen Götterwelt in Theorie und Praxis, durch den vielleicht brillantesten Analytiker der antiken Zivilisation. Sie verbindet unmittelbares persönliches Erleben derselben mit Aufarbeitung aller wichtigen religionsphilosophischen Autoren der Antike — unter fortlaufender Konfrontation mit dem prophetischen Theismus des alt- und neutestamentlichen Israel. Der Leser wird nun feststellen, dass die Geschichts- und Religionsanalyse durchgängig die in Rede stehende metaphysische Dimension einbezieht. Dasselbe gilt von dem kompakteren, aber ähnlich umfassenden, logisch strukturierten und einflussreichen Buch Contra gentes (Gegen die Heiden, 320 n. C.) von Athanasius von Alexandrien. Schließlich und drittens hat das bekannteste literarische Werk der deutschen Sprache, Goethes Faust, genau diese metaphysische Dimension zum Gegenstand, auch wenn der Verfasser in diesem Fall natürlich offen lässt, ob und wenn, welche ontologischen Verpflichtungen er damit verbindet.

Nach diesen maßgeblichen Texten des prophetischen Theismus ist die außerhalb desselben stehende Welt des Heidentums dem Einfluss nichtmaterieller Lebensformen dämonischer Art besonders unterworfen. Diese Welt wird heute in den Kulturräumen des Hinduismus und (Mahayana-)Buddhismus weiter tradiert, wo nach wie vor okkulte Phänomene und deren Bekämpfung durch Exorzismen eine nicht geringe Rolle spielen. Religionswissenschaftler, Soziologen und Reiseführer wissen, dass beispielsweise ein Fokus dieser Phänomene die Insel Sri Lanka (Ceylon) ist, und zwar in allen Gesellschaftsschichten. Insbesondere der größte hinduistische und zugleich buddhistische Kult- und Wallfahrtsort Kataragama wird mit magischen Ritualen in Verbindung gebracht. Der Bildbericht 'Der Exorzist von Tewatte' gibt dazu einen Einblick. Natürlich zeigen auch neuheidnische Gesellschaften des Westens, speziell im politischen Establishment, ein verstärktes, ja zentrales Interesse an okkulten und satanistischen Ritualen und Bildwelten, wie immer wieder — auch wegen regelmäßigem Zeugensterben — Aufsehen erregende Gerichtsverfahren dokumentieren. Sie scheinen oft, ja in der Regel verbunden zu sein mit Kindesmissbrauch und -mord — wie im alttestamentlichen Kanaan. Auch die Musikproduktion der Gegenwart dokumentiert diese Tendenz, etwa die Titel der Liedstücke der Rolling Stones Sympathie for the Devil, Invocations of my Demon Brother und ihr Album To their Satanic Majesties; oder das Motto "I've got to live for Satan" des Stückes Stairway to Heaven von Led Zeppelin (vgl. P. Maréchal: Des sorciers sur les ondes — Le phénomène du rock sataniste, Paris 1987).

Der stärkste Hinweis auf das Bewusstsein einer auch und besonders im Metaphysischen verankerten Differenz zwischen ethischem und spirituellem Istzustand und ethischem und spirituellem Sollzustand ist das allgemeine Phänomen der Initiation, also eines Ritus der geistigen Neugeburt und des Übergangs zu spiritueller und sittlicher Reife. In allen religiösen Zivilisationen sind die  „Rituale ... des ‚Übergangs‘“ wichtig aufgrund folgender „Auffassung der menschlichen Existenz ...: mit seiner Geburt ist der Mensch noch nicht fertig; er muß ein zweites Mal, und zwar geistig geboren werden. Er wird erst ganz Mensch durch den Übergang von einem unvollkommenen, embryonalen in einen vollkommenen, erwachsenen Zustand [...] Zur Initiation gehört im allgemeinen eine dreifache Offenbarung: die Offenbarung des Heiligen, des Todes und der Sexualität [...] Die Initiation bedeutet ein geistiges Reifwerden [...] Der Initiierte ... ist der Wissende.“ (Eliade, M.: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957 [32007], 106—107, 110—111) Im Fazit: „Das uralte Thema der zweiten Geburt [hat ...] immer ein gemeinsames Element, eine unveränderliche Größe, die man auf folgende Art definieren kann: wer Zugang zum geistigen Leben erlangen will, muß der profanen Seinsweise absterben und neu geboren werden.“ (Eliade ebd., 118—119)

Der weltgeschichtlich mit Abstand häufigste und global verbreitetste Initiationsritus ist der Ritus der Taufe: Von der derzeitigen Weltbevölkerung haben 2,2 Milliarden Menschen diesen Initiationsritus durchlaufen, darunter die große Mehrheit der Menschen aller Völker Europas, Lateinamerikas, Nordamerikas, Schwarzafrikas, Nordasiens sowie Australiens und Ozeaniens. Theologisch und geschichtlich besonders ausgezeichnet ist die auf die Apostelfürsten Petrus und Paulus zurückgehende klassische Tauftradition der Römischen Kirche. Sie ist seit zwei Jahrtausenden für die gesamte westliche Welt grundlegend. Der Ritus der Erwachsenentaufe umfasst hier fünf und jener der Kindertaufe zwei Exorzismen. In letzterem Fall haucht der taufende Bischof, Priester oder Diakon dem zu Initiierenden dreimal ins Gesicht und erklärt: "Exi ab eo (ea), immunde spiritus,et da locum Spiritui Sancto Paraclito / Weiche von ihm (ihr), böser Geist, und gib Raum dem Heiligen Geiste, dem Beistand und Tröster". Dann legt er ihm/ihr die Hand auf und betet: "Allmächtiger, ewiger Gott, Vater unseres Herrn Jesus Christus [...] Nimm von ihm (ihr) alle Blindheit des Herzens. Zerreiße alle Fesseln Satans, mit denen er (sie) gebunden war." Florenz_Baptisterium_Christoph_Radtke_CC_BY-SA_3.0Anschließend folgt am Eingang der Taufkirche der erste Exorzismus: "Unheiliger Geist, nun beschwöre ich dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, dass du ausgehest und zurückweichst von diesem Diener Gottes [...] da diesen der Gott und Herr Jesus Christus zu seiner heiligen Gnade, zum Segen und zur Taufe gewürdigt und berufen hat." Vor dem Baptisterium resp. Taufbrunnen erfolgt der zweite Exorzismus: "Ich beschwöre jeden unreinen Geist im Namen Gottes, des allmächtigen Vaters, und im Namen Jesu Christi, seines Sohnes und in der Kraft des heiligen Geistes, dass du dich von diesem Geschöpf Gottes entfernst, den unser Herr [...] gerufen und gewürdigt hat, damit er ein Tempel des lebendigen Gottes werde und der Heilige Geist in ihm wohne". Auch die bekannten Taufversprechen enthalten die in Rede stehende metaphysische Dimension: "N., widersagst du dem Satan? — Ich widersage. Und all seinen Werken? — Ich widersage. Und all seinem Gepränge? — Ich widersage." [Foto links: Das große Kuppelmosaik des Baptisteriums des Doms von Florenz, der wahrscheinlich prominentesten, seit dem 4. Jh. bestehenden Taufkirche der Welt, mit den Bronzeportalen Ghibertis, deren 50 vergoldete Reliefs zur biblischen Geschichte als "vollkommenstes je geschaffenes Meisterwerk" (Vasari) gelten, als würdige "Tore des Paradieses" (Michelangelo)]

Dasselbe Bild findet sich auf anderen Kulturstufen und anderen kulturellen Räumen wie im Zoroastrismus (Mazdaismus / Parsismus), welcher ein Jahrtausend lang (500 vor bis 500 nach Christus) eine bzw. phasenweise sogar die beherrschende Religion Asiens und — via der allerdings synkretistischen Tochterreligionen Mithraismus und Manichäismus — Europas und Nordafrikas war. Dessen Kosmologie und Anthropologie speist sich aus der indoarischen Tradition der Erschaffung des Menschen: Der erste Mensch Yima ist der Sohn des Himmels und vereint die Züge Adams und Noes in der hebräischen Bibel. Er ist ursprünglich unsterblich und verliert diese Gabe durch das Fakt einer Ursünde mit Vertreibung aus dem Paradies mit Überlieferung an die Gewalt der Schlange und späterer Sintflut wegen allgemeiner Verderbtheit. Der sittliche Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit, eine Ethik der Reinheit und Heiligkeit, die Wahl zwischen Gut und Böse sowie Reue, Reinigungen, gute Werke und das kultische Sündenbekenntnis sind daher auch hier zentrale Themen. Dazu gehört ein hoher Stellenwert der über den Tod hinausreichenden (eschatologischen) Folgen des guten / schlechten Handelns mit Opfern für die Verstorbenen am 3., 7., 30. und Jahrestag des Todes. Im Nahen Osten gibt es übrigens eine verbreitete Überlieferung, dass der Zoroastrismus mit der Religion Abrahams identisch ist. Dass und in welcher Hinsicht das nicht ganz falsch ist, zeigt mein Papier Die Theologie der Tora.

Wieder dasselbe Bild findet sich auch in der klassischen Philosophie, wo Platon und Aristoteles großes Interesse an den vor- und frühgeschichtlichen spirituellen Überlieferungen der Völker hatte. Speziell die platonische Akademie selbst „war damals geradezu der Brennpunkt einer orientalisierenden Strömung, die ... von hoher, lange nicht genug gewürdigter Bedeutung ist“ (W. Jaeger: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923, 133), deren Hauptvertreter Eudoxos, Hermodoros, Platons Sekretär Philippos und nicht zuletzt Aristoteles (vgl. ebd. 130—131) waren. Sie interessierten sich außer für das astronomische Wissen des Orients besonders für den iranischen oder „parsischen religiösen Dualismus“ und die „Ethik Zarathustras" (ebd. 134). Das Studium der religiösen Traditionen des Ostens blieb bis zum Schluss ein Schwerpunkt und Kernfach der platonischen Akademie. Deren bedeutendster Rektor in der Spätantike, Proklos (412-485 n.C.), legte wie seine unmittelbaren Vorgänger Plutarchos und Syrianos in Lehre und Forschung Platon, Aristoteles und die "Theologen" zugrunde. Letztere waren frühgeschichtliche Seher und sowie Lehrsätze von Weisen aus dem Osten (Chaldäer). In diesen Zusammenhang gehört, dass frühchristliche Platoniker wie z.B. der aus Athen stammende Clemens von Alexandrien (150—215 n.C.) der Meinung sind, dass Platon und die griechische Philosophie mindestens mittelbar Impulse aus dem Alten Testament (Moses und Propheten) verarbeiten (Stromata, Buch I). Siehe dazu auch die folgende Notiz: „Nach dem Bericht des Pythagoräers Philolaos (in Platons ‚Phädon‘ Kap. 6) sagten alle alten Weltweisen und Dichter, die Seele sei in den Körper wie in ein Grab gesenkt zur Strafe für irgendein Vergehen. Platon aber erklärt (im ‚Timäus‘) geradezu: ‚Die Natur und die Fähigkeiten des Menschen haben sich geändert und sind in seinem Stammvater von Anfang an verderbt worden‘“ (Schuster, I. / Holzammer, J. B.: Handbuch zur Biblischen Geschichte, Bd. I, Freiburg 81925, 127).

Auch der platonische Dialog Gorgias mündet in einer hier einschlägigen transzendenten Sicht und Einstellung, die in der Sache das erfolgreichste spirituelle Programm der Neuzeit, nämlich die fünf Meditationen über Sünde, Gericht und Hölle der ersten Woche der Ignatianischen Exerzitien, vorwegnimmt: „Das Sterben an sich fürchtet niemand, wer nicht durchaus unvernünftig und unmännlich ist, — aber das Unrechttun fürchtet man. Denn wenn die Seele mit vielen Sünden angefüllt in den Hades kommen soll, – das ist das allerschlimmste Leid. Wenn du willst, will ich dir eine Geschichte erzählen, dass dem so ist.“ (Gorgias 78, 522). Dann schildert Sokrates — wie bei Platon üblich in Form eines als wahr angenommenen Mythos — die jenseitige Welt nach dem Tode mit einem Paradies, den Inseln der Seligen, und der Unterwelt oder dem Hades oder Tartaros. Die Unterwelt umfasst einerseits eine ewige Hölle für die unheilbar Schlechten, v.a. „Tyrannen, Könige, Machthaber und Staatsmänner [...] Denn diese begehen wegen ihrer unbeschränkten Macht auch die größten und ruchlosesten Frevel. Dafür zeugt auch Homeros: denn er hat gerade Könige und Herrscher als solche dargestellt, die für ewige Zeiten im Hades Strafe leiden, Tantalos, Sisyphos und Tityos“ (81, 525). Andererseits gibt es, so Sokrates, in der Unterwelt eine befristete Läuterung der heilbaren Vergehen durch Strafe:

„Ich ... habe mich von diesen Erzählungen überzeugen lassen und bin darauf bedacht, dem Richter meine Seele dereinst so gesund als möglich darzustellen. Daher lasse ich die Ehren der großen Masse beiseite, forsche nach der Wahrheit und suche in der Tat, so gut ich kann, als ein tugendhafter Mensch zu leben und zu sterben, wenn es zum Sterben kommt. Ich fordere aber auch, soweit ich irgend kann, meine Mitmenschen alle dazu auf; und namentlich dich [= der Gesprächspartner Kallikles] ermahne ich meinesteils zu diesem Leben und diesem Wettkampf, der, wie ich glaube, über alle hiesigen Kämpfe geht, und mache dir es zum Vorwurfe, dass du nicht imstande sein willst, dir selbst zu helfen, wenn das Gericht und Urteil kommt, von dem ich eben sprach“ (82, 526).

Ein persönliches Wort

Das Menu zur Religionsphilosophie beschließt das vorliegende E-Portfolio. Dieses kann als ein Weltbildlabor verstanden werden, aus dem seit 2010 die Firma ‚Wissenschaftspublizistik novum studium generale‘ hervorgegangen ist. Vgl. die Selbstvorstellung Über novstudgen auf www.novstudgen.de. Nun ist offensichtlich, dass die zu Tage getretenen Ergebnisse eine Neubewertung der Metaphysik und Transzendenz als harter und erstrangiger Realität einschließen. Es ist nicht falsch zu sagen, dass dies sogar die zentrale Einsicht ist. Ebenfalls ins Relief getreten ist die weitergehende Überzeugung, dass Metaphysik und Transzendenz nicht nur unverbindliche, subjektive und abstrakte Dimensionen sind, sondern sich im prophetischen Theismus der Tora und des Tanach (Altes Testament) und des Neuen Testamentes inkarnieren, wie die historisch-philologischen und wissenschaftsphilosophischen Untersuchungen gezeigt haben. Schließlich und drittens ist einschlussweise und auch ausdrücklich die These entwickelt worden, dass der Denk- und Lebensraum eines ernstzunehmenden Weltbildes das Universum der Katholischen Orthodoxie oder Weltkirche ist.

Die bekannteste wissenschaftsphilosophische Argumentation zugunsten der letztgenannten These stammt von einem der einflussreichsten Moralphilosophen der Gegenwart, Alasdair MacIntyre, dem wir schon andernorts begegnet sind. Vom Marxismus herkommend überzeugte ihn die Beschäftigung mit der aristotelisch-thomistischen Ethik wider Erwarten von deren Realitätsdichte und führte ihn schließlich in das Universum der Katholischen Weltkirche.

In seinem Hauptwerk Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995 [orig.: After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame, Ind. 11981] entwickelt er in Kap. 15 eine moralische Präsuppositionslogik, die für die Einsicht argumentiert, dass Menschen eine objektive weltanschauliche Grundlage und einen objektiven ethischen Rahmen benötigen: „Ich habe immer als Teil einer geordneten Gemeinschaft das menschliche Gut zu suchen.“ (1995, 231) — Begründung: Ethik ist intentionales Handeln aus Absichten und Überzeugungen. Intentionales Handeln und Sprechen hat einen sozialen und geschichtlichen Kontext zur Voraussetzung. Kontextualisierung ist nicht nur das zentrale Merkmal der Natürlichen Sprache, sondern auch Taten entsprechen Erzählungen und Sprechakten. Die Hermeneutik (Gadamer) zeigt die Wirkungsgeschichte der Tradition, des Gegebenen als Voraussetzung meines Lebens und Bedingung des Handelns, also als moralischen Ausgangspunkt. Die Einheit der Erzählung oder Geschichte hängt nun an der Einheit des Charakters und der Verantwortlichkeit des Selbst, also an der Einheit einer narrativen Suche. Persönliche Identität ist bikonditional zu kohärenter Erzählung, Verstehbarkeit, Verantwortlichkeit und dies wiederum hat zur Voraussetzung, Teil einer Geschichte, Träger einer Tradition zu sein. Diese historische Identität ist die Basis meiner sozialen Identität, auch im Fall von Kritik und Distanzierung und der Möglichkeit tragischer Konflikte.

In derselben Perspektive steht das einflussreiche Grundbuch von MacIntyres Harvarder Kollegen Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (Cambridge 22010): Der  Mensch ist nicht ein freischwebendes, atomisiertes, egoistisches Individuum. Er ist nicht nur Rechtsperson in individualisierten Freiheitsräumen, sondern angelegt, in Gemeinschaften, Traditionen, sozialen Bindungen zu leben: „Die Bindungen sind nicht bloß solche der freiwilligen Kooperation, sondern sie sind konstitutiv für die eigene Personwerdung und den eigenen Charakter“ (W. Reese-Schäfer: Kommunitarismus, Frankfurt a. M./New York 32001, 21). Das liberale Konzept der Person ist „parasitisch zu einem Begriff der Gemeinschaft, den sie offiziell verwirft“ (Sandel in: Reese-Schäfer 2001, 22).

Ein weiterer ethischer Vordenker der Gegenwart ist Charles Taylor, insbesondere mit Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge, Mass. 1989 [dt.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1996]. Er macht gegen Locke, Hobbes, den frühen Robert Nozick und den Libertarianismus erstens Aristoteles‘ soziale Konzeption des Menschen geltend: Der Mensch ist von Natur aus ein zoon politikon, ein soziales Wesen. Und zweitens eine entsprechende soziale These der Rechte: Rechte und Freiheit sind schon rein logisch nur in einer Gemeinschaft möglich und einräumbar. Außerdem sind, so Taylor, die Quellen des freien Subjekts und seiner Rechte weltanschaulich und religiös. Das ist die Substanz, das Gute, in dem das Rechte gründet. Der abstrakte ethische und politische Liberalismus ist falsch, weil sittliches Bewusstsein und sinnvolle Freiheit des Individuums von der Ein- und Unterordnung unter die gemeinsamen Traditionen, Werte und Moralvorstellungen einer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft abhängig sind.

Institutionen sind Führungssysteme der Gemeinschaft: Sie steuern das Bewusstsein und formen das Antriebsleben. Dadurch antworten sie auf die drei anthropologischen Grundbedürfnisse: Sinndeutung — Normen — Sicherheit. So schon Arnold Gehlen: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek bei Hamburg 1986, 7–142. Der Eckstein der hier immer wieder im Hintergrund stehenden aristotelischen Moraltheorie ist: „Das allgemeine Gute, das bonum commune, [ist] nichts dem Menschen Äußerliches [...] Es ist ihm als Bedingung der Möglichkeit seiner Selbstentfaltung immanent ... und ist zugleich dasjenige Verbindungselement, das seine persönlichen Glücksziele mit der Gemeinschaft der Bürger in Übereinstimmung bringt.“ (Arbogast Schmitt: Die Moderne und Platon, Stuttgart 22008, 510).

Plädoyers für diese platonisch-aristotelisch-scholastische Tradition stammen auch von zwei der führenden Politikwissenschaftler und politischen Philosophen des 20. Jh.: Eric Voegelin (maßgeblich Die Neue Wissenschaft der Politik, Freiburg/München 41991 [11952]), und Leo Strauss (vgl. The Rebirth of Classical Political Rationalism (hrsg. v. Thomas L. Pangle), Chicago/London 1989). Das Werk der beiden deutschen Emigranten verbindet Kritik an der positivistischen Sozialwissenschaft mit der Rückbesinnung auf die antike platonisch-sokratische Philosophie inkl. der Wiedergewinnung der „politischen Wissenschaft eines Platon, Aristoteles oder Thomas [… als] eine rationale Wissenschaft von der menschlichen und sozialen Ordnung und vor allem vom Naturrecht“ (Voegelin 1991, 43). Strauss, der in den letzten Jahrzehnten zur Leitfigur des amerikanischen Neokonservativismus und der politischen Agenda der Bush-Ära avancierte, bearbeitete v.a. das „politisch-theologische Problem“. Er macht die Aufklärung und den Liberalismus für den Positivismus und Historismus und damit für das nivellierte moderne Denken und für die Zersetzung der klassischen philosophischen Überzeugungen verantwortlich, dass (i) die Philosophie sich vor der Religion und Offenbarung rechtfertigen müsse, (ii) das Staatsvolk den Halt der Religion benötige und (iii) das Ziel politischen Lebens die Tugend sei. Der Liberalismus definiert, so Strauss, Menschlichkeit durch Wohlstandshedonismus, der moralische und religiöse Fragen privatisiert und die Frage nach der richtigen politischen und sozialen Ordnung zugunsten des fragwürdigen Wertpluralismus verdrängt. Denn die Natur des Menschen ist nicht zur bloßen Freiheit geschaffen, sondern braucht Ordnung, Herrschaft und Gesetz. Ein Grundfehler der Aufklärung und Moderne sei ferner, die Religion mittels eines zweifelhaften Vernunftbegriffs bewältigen oder erledigen zu können (vgl. dazu auch P. J. Opitz: Glaube und Wissen. Der Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Leo Strauss von 1934 bis 1964, München 2010).

Hier aber noch einmal das im Menu 'Handlungstheorie und Ethik' eingefügte Caveat zu Strauss: Dieser ist andererseits ein durchaus problematischer Philosoph, da er — im Gegensatz zu Voegelin und MacIntyre — nicht wirklich an die innere Wahrheit der von ihm vertretenen Tradition glaubt. Nation und Religion gründen für ihn in politischen und religiösen Mythen. Diese sind nützliche und notwendige Fiktionen bzw. staatserhaltende Lügen für die Bevölkerung. Die Elite muss diese fiktiven Mythen verwalten und vom Volk einfordern. Im Grunde ist Strauss also Machiavellist und Hobbesianer und glaubt mehr an staatspolitische Lüge und Gewalt und nicht an die Möglichkeit echter rationaler Einsicht und gerechter Ordnung in Politik und Religion. 

Berufen kann sich Strauss aber sehr wohl auf das Verständnis und die Handhabung der traditionellen römischen Staatsreligion in der späten Republik und Kaiserzeit: Sie wurde tatsächlich seitens der von philosophischer Skepsis geprägten Eliten als staatserhaltender fiktiver Mythos und Kult aufrechterhalten und eingefordert. In dieser Epoche liegen seine Forschungsschwerpunkte und von hier kommt ein Gutteil seiner Inspiration. Ähnliches gilt von sonstigen Staaten der späteren griechisch-römischen Antike. Aber das Problem ist natürlich letztlich ein Allgemeinmenschliches. Religions- und kulturgeschichtlich entging nur der prophetische Theismus dieser skeptischen Dekonstruktion und fiktionalistischen Rekonstruktion traditioneller Religionen und Kulturen, auch wenn genau dies heute wieder auf breiter Front versucht wird. Hier liegt auch der Kern des epochalen Ringens zwischen dem jungen, genuiner Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichteten Christentum und dem spätantiken, auf fiktive - traditionelle und neue - Mythen bauenden Römischen Reich.

Auch in den einschlägigen Lehrschreiben der Römischen Kirche seit dem späten 18. Jh. wurde — siehe Kapitel 5 und das Menu Propheten — immer deutlich gemacht, dass absolutgesetzte liberale Freiheitsrechte trojanische Pferde einer gegen Gott rebellierenden und menschenfeindlichen Mafia sind, um Breschen in die Mauer der Stadt Gottes alias der messianischen Weltordnung zu schlagen, diese von innnen her aufzurollen, echte Freiheiten und Bürgerrechte zu zersetzen und mentale Verwirrung und politische Hilflosigkeit zu erzeugen: "Das Menschenrechtlertum ist eine Ideologie, die mit praktischen Fragen der individuellen Freiheit oder des freien politischen Diskurses nichts gemeinsam hat. Ihm geht es um Ansprüche. Traditionelle Liberale und Liberalisten können gar nicht deutlich genug darauf hinweisen, dass eine derartige Auslegung der Rechte sich gegen die Freiheit und das rationale Funktionieren der Gesellschaft richtet. Menschenrechte sind keine standardmäßigen Bürgerrechte, sie sind genau genommen eine revolutionäre Verweigerung der Bürgerrechte." So der angesehene tschechische Staatsmann Václav Klaus in dem Sammelband Zeitenwende: Wie internationale Entscheidungsträger die Welt von morgen sehen (hrsg. von G. Württele, Frankfurt am Main: Frankfurter Allgemeine Buch 2013).

Man kann sich der Einsicht von Václav Klaus auch vom anderen Ende her vergewissern: Wenn die gegen Gott rebellierende und menschenfeindliche Mafia unter dem demagogischen Deckmantel des "Menschenrechtlertums" (Klaus) in einer Gesellschaft die freiheitliche und soziale messianische Weltordnung diffamiert, ausgehöhlt und zerstört hat, dann setzt sie an deren Stelle eine neue Weltordnung kommunistischer, neokonservativer oder sonstiger Couleur. In derselben werden die liberalen Freiheitsrechte regelmäßig durch einen totalitären Polizei- und Spionagestaat mit repressiver Gesinnungsdiktatur ersetzt. 

Selbst wer das bisher Gesagte grundsätzlich ohne weiteres nachzuvollziehen bereit ist, mag überrascht sein, dass angesichts der globalen Krise und Selbstverunsicherung der katholischen Weltkirche hier in deren Universum der Denk- und Lebensraum eines ernstzunehmenden Weltbildes gesehen wird. Überhaupt werden dies die meisten Menschen in dem von weltanschaulichem Agnostizismus, religiösem Liberalismus, interreligiösem Dialog und interkonfessioneller Ökumene geprägten Zeitgeist der westlichen Moderne schwer oder kaum nachvollziehen können. Deswegen dazu einige persönliche Anmerkungen.

(1) Das Gesagte ist meine Überzeugung angesichts einer Sozialisation in zugleich römisch-katholischer wie interkonfessioneller Umgebung während der revolutionären 1968er Ära. Meine Urgroßeltern und Ahnen väterlicher- wie mütterlicherseits waren soziale und spirituelle Leitfiguren ihrer jeweiligen Kommunen in Oberschwaben resp. Kurmainz. Abgesehen von zahlreichen evangelischen Verwandten verkehrte andererseits mein Großvater in denselben jüdischen Kreisen, denen Marcus Goldmann und Joseph Sachs, die aus unserer Gegend kommenden Gründer der bekannten Investmentbank entstammten. Extraangebote meiner Miltenberger Gymnasialjahre waren wöchentliche Busse nach Frankfurt zu Demonstrationen gegen Strauß und Nixon und für Baader-Meinhof und Vietkong, im buchstäblichen Schulterschluss mit Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit.

(2) Das Gesagte ist das Resultat einer wahrscheinlich nicht oft erreichten theoretischen wie lebensweltlichen Kenntnis aller Dimensionen, Ämter, Dienste, theologischen Strömungen, zeitgeschichtlichen Phasen und Krisen der Weltkirche. Und das Resultat einer ähnlich breit gefächerten Kenntnis der Ideologien, Lebensstile, Gesellschaftsschichten und Wissenschaftsgemeinden der gegenwärtigen Weltkultur.

(3) Die These, dass die Katholische Weltkirche Bedingung und Rahmen eines Weltbildes ist, das rational gerechtfertigt werden kann, heißt nicht, dass nicht auch hier gelten würde: Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen. Was nach Alasdair MacIntyre nicht ohne Auseinandersetzung und Kampf möglich ist. MacIntyre sieht wie erwähnt die — untergegangene und wieder zu gewinnende — vernünftige und gelingende, objektiven ethischen Normen folgende Moraltheorie und -praxis in der aristotelischen Ethik und ihrer Fortführung bei Aquinas. Er ist aber auch zugleich ein entschiedener Gegner der von Edmund Burke ausgehenden modernen Konservativen. Sie stehen in den Augen MacIntyres für eine tote Tradition, nämlich Tradition als Gegensatz zur Vernunft und Kontinuität als Widerspruch zu Konflikt. Demgegenüber gilt: „Traditionen verkörpern, wenn sie lebendig sind, kontinuierliche Konflikte“ (Der Verlust der Tugend, Frankfurt a. M. 1995, 296). Moderne Konservative übersehen: „Mangel an Gerechtigkeit, Mangel an Wahrheitsliebe, Mangel an Tapferkeit, Mangel an relevanten intellektuellen Tugenden korrumpiert die Tugenden“ (1995, 217). Moderne Konservative sind nichts anderes als Bewahrer älterer Versionen des liberalen Individualismus. Und: „Eine Tradition wird durch die eigenen inneren Argumente und Konflikte aufrechterhalten und vorangetrieben.“ (1995, 346—347)

(4) Deswegen habe ich mich in den späten 1970er und 1980er Jahren den Kräften in der Weltkirche angeschlossen, die nach dem II. Vatikanischen Konzil die katholische Orthodoxie reorganisierten. Mgr. M. Lefebvre und VerfasserIch widersetzte mich der seit dem letzten Drittel des 20. Jh. lawinenartig einsetzenden, ebenso rückgrat- wie geschmacklosen Anbiederung an den liberalistischen Zeitgeist. [Foto rechts: Erzbischof Marcel Lefebvre (1905—1991) mit dem Verfasser bei der letzten Großveranstaltung des Reorganisators der objektiven Kultgemeinschaft der Römischen Kirche nach dem II. Vatikanum (Friedrichshafen 1990). Profil und performance von Mgr. Lefebvre erreichten schon zuvor geschichtliches Format: Als Vater Gabuns, Apostolischer Delegat für das frankophone Afrika und Generaloberer der größten Missionsgesellschaft der Welt inspirierte und leitete er im 20. Jh. die Eingliederung des afrikanischen Kontinentes in die messianische Zivilisation des Christentums. Er ist deren erfolgreichster Missionar neben Paulus, dem Apostel Europas und des Nahen Ostens im 1. Jh. und Franz Xaver, dem Apostel Asiens im 16. Jh. Die Folgeaufgabe der nicht nur defensiven Restauration, sondern schöpferischen Wiederbelebung des Denk- und Lebensraumes der Römischen Kirche ist Thema dieses Netzportals]

(5) Ebenso habe ich seit den 1990er Jahren eine entgegengesetzte Gefährdung auf Seiten der Verteidiger der objektiven Tradition und Kultgemeinschaft gesehen: eine sterile, bloß restaurative Geisteshaltung. Auch hierauf habe ich theoretisch wie praktisch reagiert, wie auf diesen Seiten an vielen Stellen deutlich wird.

(6) Dass mit diesen Kautelen das Weltbild der Weltkirche korrekt oder theologisch gewendet: rechtgläubig, orthodox ist, ist für meine Person nicht nur eine Frage rationaler Rechtfertigung, sondern auch existentieller Erfahrung. Eine Erfahrung, die — in kantischer Formulierung — durchaus kein Produkt überschwänglichen Vorstellens und Denkens ist, sondern aus einem jahrzehntelangen radikalen Skeptizismus nach und nach aufwuchs. Nichts erschien meiner Phantasie und meinem Verstand während Jahren plausibler als der Agnostizismus, Atheismus und auch Liberalismus; nichts problematischer als die Inhalte der Bibel und das Apostolische Glaubensbekenntnis. Allein ein moralischer Instinkt wies mich in die gegenläufige Richtung.

Was ich mit existentieller Erfahrung meine, mag folgendes schon andernorts zitiertes Wort eines der bedeutendsten klassischen Philologen unserer Zeit und des führenden Homerforschers der Moderne, Wolfgang Schadewaldt, verdeutlichen: „Es gibt einen unverwechselbaren Geruch der Wahrheit. Es gibt eine Weise des Geprägtseins eines Wortes, das gerade zeigt, daß es ... eine Situation ist, die sich ereignet hat, und ein Wort, das sich ereignet hat. Die Geschichte im Neuen Testament [... ist derart], daß gerade hier der Geruch der Wahrheit gewaltig ist.“ (‚Die Zuverlässigkeit der synoptischen Tradition‘. In: Theologische Beiträge (12) 1982, Heft 5, 201—223. Wieder abgedruckt in: ibwJournal 3/1983, Sonderbeilage 1983, 19)

Eine solche — besonders eindrückliche — Schadewaldt‘sche Evidenzerfahrung erinnere ich im Zusammenhang einer Unterrichtseinheit mit der Lektüre des Buches Numeri aus der Tora (4. Buch Mose), die ich gegeben habe: Ich wusste plötzlich intuitiv und mit emotionaler Betroffenheit, ja Erschütterung, dass die dortigen Berichte über die chronischen Rebellionen gegen Mose in der Wildnis des Sinai Satz für Satz erlebte, harte Realität sind. Eine analoge Evidenzerfahrung vermittelten mir die Berichte der neutestamentlichen Evangelien über den Prozess Jesu. Erst später habe ich diese Evidenzen auch historisch-philologisch rekonstruieren können (siehe die Menus zur Tora und zum Neuen Testament).

Wenn ich heute das Neue Testament lese, deklassieren Geist und Kraft seiner Texte als Worte des Ewigen Wortes resp. der personalen Weisheit Gottes jede menschliche Literatur und Wissenschaft: Sie verblassen zu fernen Schemen notwendiger, aber vorläufiger Durchgangsstadien. In jedem Satz der Evangelien ist in meiner Wahrnehmung sein transzendenter Urheber präsent wie es analog von seiner endzeitlichen Wiederkunft gesagt wird, leuchtend „wie ein Blitz von einem Ende des Himmels bis zum anderen“. Dieser Epiphanie des Wortes Gottes trägt die Liturgie der Tradition bei der Verlesung des Evangeliums im levitierten Hochamt präzise Rechnung — durch reinigendes Vorbereitungsgebet des Diakons in kniender Anbetung, autorisierenden Segen des Zelebranten, respektvolle Verneigungen, rituelle Verbindung mit der himmlischen Liturgie durch Inzensierung des Lektionars, ehrfürchtigen Kuss desselben und Ehrengeleit durch Akolythen mit brennenden Lichtern sowie last but not least durch die erhaben-erhebende gregorianische Melodie des Vortrages.

Diesselbe Evidenzerfahrung habe ich stets bei den Sätzen und Handlungen der klassischen Gottesdienstriten der Römischen Kirche, obwohl diese mir als deren Presbyter seit 1981 vertraut sind. Ich erlebe sie als authentische, ultimative Realität. Die natürliche Welt ist in dieser Erfahrung nur und genau eine Erscheinung oder ein Epiphänomen dieser Superrealität. Ich habe daher maximales Verständnis für jeden, der den Sinn des Lebens in der Jahrtausende alten Praxis des Stundengebetes aus Psalmen, Schriftlesung und Väterlektüre findet: Eingebettet in den Jahresfestkreis der Messiasbiographie und den Heiligenfestkreis der Weisen und Gerechten der Menschheit ist es eine Summe der Weisheitsuche, Erleuchtung und Ethik und im Idealfall Medium maximalen, habituellen Glückes. Es ist ein wahres Wort: "Nichts ist gewaltiger als das Gebet, und nichts ist ihm zu vergleichen." (St. Johannes Chrysostomus)

(7) Damit ergibt sich: Die in Rede stehende Evidenzerfahrung erstreckt sich auch auf die Praxis, genauer auf die Dimension von immanentem und transzendentem Glück, Heil und Erlösung. Ich habe in nicht wenigen Situationen und Umgebungen erlebt, was Heil bedeutet, allseitige intellektuelle, emotionale, institutionelle Zufriedenheit, ganzheitliches vollkommenes Glück, Frieden: Et ego in Arcadia.

Diese Erfahrungen erfolgten stets und nur auf der Basis und im Koordinatensystem des christlichen Israel alias der Katholischen Weltkirche. Eine Bestätigung des Gesagten ex negativo mag die wirklich fassungslose Reaktion einer jungen nichtreligiösen Karrierefrau sein, die mich vor Jahren zu einer schicken und noblen Vernissage einlud, die sie mit ihrem Mann, einem aufstrebenden Kunstmaler, organisierte. Ich hatte im Gespräch eine Wendung wie „das Leben optimal meistern“ einfließen lassen, worauf sie mich sofort frug: „Sind Sie etwa glücklich?“ Ich: „Ja“. Sie: „Nein, das gibt es nicht! Ich bin nicht glücklich. Niemand ist glücklich.“ Angesichts ihres dynamischen, gepflegten und optimistischen Auftretens hatte ich tatsächlich angenommen, in der Richtung, die ich der Unterhaltung gegeben hatte, offene Türen vorzufinden.

Der Weg nach Arkadien oder Eden führt angesichts der misère de la condition humaine freilich über aktive Aszese und passive Läuterung, wofür Joannes a cruce (1542—1591) der wahrscheinlich kompetenteste Mentor ist — mit der spirituellen Agenda der aktiven und passiven Nacht der Sinne und des Geistes (vgl. Johannes vom Kreuz: Sämtliche Werke, 8. Auflage Darmstadt 1987). Aktive und passive Nacht der Sinne meint Bewusstmachung und Neutralisierung von einerseits Angst, Feigheit und Trägheit sowie andererseits der Spielarten von emotionalem Chaos und Anarchie der Triebe durch spirituell unterstützte Askese und Selbstdisziplin. Nacht des Geistes (Verstand — Gedächtnis — Wille) meint Bewusstmachung und Neutralisieren einerseits der subjektiven Vorurteilsstruktur aus Sozialisation und Lebensgeschichte, soweit unhaltbar und hinderlich; andererseits von offenem oder verdecktem handlungsleitenden, destruktiven Egoismus. Dies geschieht durch die Radikalisierung der sogenannten theologischen Tugenden (Glaube — Hoffnung — Liebe) in einem mehr oder minder tiefgreifenden und extrem schmerzvollen mentalen Läuterungsprozess, in der Regel verbunden mit gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Grenzbelastungen. Ohne diesen Prozess ist — so sinngemäß der in Rede stehende Autor — eine mehr oder minder ausgeprägte unmündige Ichschwäche als innerer und äußerer Kontrollverlust über das Leben nicht zu überwinden.

(8) Dieses persönliche Bekenntnis überschreitet natürlich — kantisch gesprochen — die Grenzen der reinen und empirischen Vernunft. Es ist das Bekenntnis eines Mannes, der sich — um in Kants Bild zu bleiben — auf „den weiten und stürmischen Ozean“ der Metaphysik und Transzendenz begeben hat, „um ihn nach allen Breiten zu durchsuchen [...] wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt“ (Kritik der reinen Vernunft: Phenomena und Noumena, A 235—236/B 294—295). Es ist das Bekenntnis eines Mannes, der mit seinen Mitreisenden glaubt, ernstzunehmende Gründe sprächen dafür, dass auf dieser (durchaus in höherem, hier nicht weiter relevanten, Auftrag unternommenen) Mission Eden wieder entdeckt wurde, das die Menschen in den späten 1960er Jahren endgültig aufgegeben hatten (und in Folge das Wissen um den Weg dorthin verloren). Platon würde sagen: Ein Dämon trieb die Menschen in unwirtliche Gefilde weit weg von Arkadien bzw. jenseits von Eden — gefangen in der Matrix einer neuen Weltordnung, die ebenso pompöse wie scheinheilige Fassaden um tote, chaotische und von Dämonen bevölkerte Pseudo-Zivilisationen emuliert. Die von Geist und Leben getrennten Sozialsysteme zerbröseln im Dschungel des Subjektivismus, Liberalismus und Agnostizismus und driften in die Eiswüste des Autoritarismus, Fundamentalismus und Neurotizismus qua angstbestimmte „Unfähigkeit … seine inneren und äußeren Konflikte in irgendeiner Form befriedigend zu lösen“ (Hoffmann / Hochapfel: Neurosenlehre).

MacIntyre drückt dasselbe so aus: Die moderne Weltanschauung und -ordnung folgt einer Scheinmoral aus dem Zusammenhang gerissener, widersprüchlicher, ungeordneter Bruchstücke einer untergegangenen vernünftigen und gelingenden Theorie und Praxis. Das Fehlen objektiver sachlicher Kriterien und die rational unauflösbaren Widersprüche der modernen Scheinmoral erzeugen zwangsläufig die falsche Alternative zweier unvereinbarer Formen sozialen Lebens: (A) Anarchischer Individualismus und Liberalismus sowie (B) Kollektivistischer, bürokratischer Autoritarismus (Verlust der Tugend, 1995, 55). Die moralische Debatte erscheint als Auseinandersetzung zwischen nach willkürlichen Kriterien gewählten unvereinbaren und unvergleichbaren moralischen Prämissen (A) und (B). Die Folge ist die Scheinrationalität und Phrasenhaftigkeit moralischer Debatten: Wegen der Willkür des Willens und der Macht muss Protest und Empörung die rationale Beweisführung ersetzen. Es ist ein Theater der Illusionen, gegen das sich das Entlarvungspathos Freuds, Marx‘ und Nietzsches richtete. Letzteres lebt aber selbst genauso und sogar noch stärker von Willkür und Gewalt, so dass z.B. nach dem Urteil des bedeutendsten Psychologen des 20. Jh. "hinter all dem rhetorischen Geklingel" Freuds sein "psychoanalytischer Ansatz ... unrettbar logischer Perversität, wissenschaftlicher Unsolidität und kultureller Naivität verfallen ist [...] und ... mehr auf Suggestion und Propaganda baute als auf Beweisführung und Verifikation.“ (H.-J. Eysenck: Sigmund Freud: Niedergang und Ende der Psychoanalyse, München 1985, 197, 122)

Unbestreitbar schwierige Zeiten. Ein böser Tag. Sie werden nun vielleicht wie der leitende Kriminalbeamte den Titelhelden in dem Film der 1990er Jahre über eine völlig außer Kontrolle geratene Häftlingsrevolte und Flugzeugentführung fragen: „Was werden Sie jetzt tun?“ Die Antwort ist nicht druckfähig, aber wir befinden wir uns mit diesen Themen ohnehin bereits in Bereichen, die eine höherstufige Zugangsberechtigung erfordern. Diese lautet: Crede ut intelligas — Vom Glauben zum Wissen. Der Zugang zu den Bereichen, in denen wir uns bisher bewegten, erfolgte hingegen mit der Devise: Intellige ut credas — Vom Wissen zum Glauben.

Hinweis: Auf der Verknüpfung Religionsphilosophische Evaluation und Bilanz zum messianischen Reich des Neuen Testamentes kann dieses E-Portal zum Thema Erlösung und Messianische Ära als PDF-Datei abgerufen werden.