Dr. phil. Paul Natterer

Vorbemerkungen zur logischen Semantik

Logische Semantik meint ein Doppeltes. Einmal die Semantik als intensionale Wahrheit im Rahmen des logischen Universums der Begriffe (Intensionen, Bedeutungen) und ihrer Beziehungen. Zum anderen die Semantik als extensionale Wahrheit der Eigenschaften und Relationen logisch-grammatischer Formen der Aussagen- und Prädikatenlogik (Wahrheit, Konsistenz, Implikation, Äquivalenz, Transitivität, Symmetrie, Reflexivität, Identität), begründet im realen Gegenstandsbezug (Referenz) der Terme, Prädikatklassen und Aussagen. Die logische Semantik in ersterer Bedeutung fassen wir unter dem Namen 'Logische Wahrheit' oder 'Formale Wahrheit'. Die Semantik in letzterer Bedeutung bezeichnen wir mit dem Ausdruck 'Logische Referenz' oder 'Objektive Wahrheit'. Die Wahrheitswert-Semantik der klassischen formalisierten Logik ist eine Theorie der extensionalen logischen Referenz. Auch die pseudointensionale Mögliche-Welten-Semantik der nachklassischen formalisierten Logik (Modallogik) ist extensional. Vgl. das Untermenu 'Logisches Universum' und den klassischen Aufsatz Hintikkas: Semantics for Propositional Attitudes. In: Davis, J. W. et al. (eds.): Philosophical Logic, Dordrecht, 1969, 21—45. Semantik hingegen als logische Wahrheit im Rahmen des logischen Universums der Begriffe (Intensionen) ist das, was die antike, neuzeitliche und postmoderne Begriffslogik oder Bedeutungstheorie untersucht. Zu ihr gehört, wie gezeigt, die kantische Logik. Deshalb bietet es sich an, dieses Untermenu Logische Wahrheit am Leitfaden der Wahrheitstheorie der kantischen Logik zu behandeln.

Definition der formalen logischen Wahrheit

Kantmedaille 050-1 [KFS Mainz]Hierzu zunächst ein Exkurs zur offiziellen kantischen Darstellung der logischen Wahrheit in der Kant-Jäsche-Logik. Die erste Ziffer der Dezimalgliederung bezieht sich dabei auf die Einleitung, die zweite auf den Abschnitt VII ebenda. Die Seitenangaben entsprechen der Akademieausgabe. Die daraus ablesbare ebenso radikale wie exklusiv methodische Abstraktion von Objektbezug und Referenz der kantischen formalen Logik ist vereinbar mit einerseits referentiellen Voraussetzungen für die logische Wahrheit und andererseits referentiellen Konsequenzen der formalen logischen Wahrheit. [Bild rechts: Geschenkmedaille (Rückseite) der Studenten Kants zum 60. Geburtstag 1784, von A. Abrahamson. Umschrift zu dem Motiv des schiefen Turms von Pisa: 'Perscrutatis fundamentis stabilitur veritas' – 'Grundlagenforschung sichert Wahrheit']

EXKURS. Die logische Wahrheit in der Kant-Jäsche-Logik (Logische Vollkommenheit des Erkenntnisses der Relation nach)
0.7 LOGISCHE VOLLKOMMENHEIT DES ERKENNTNISSES DER RELATION NACH
Relation der Erkenntnis ist deren Relation zum Gegenstand, d.h. „die Wahrheit“: „Hauptvollkommenheit des Erkenntnisses, ... die wesentliche und unzertrennliche Bedingung aller Vollkommenheit“. „Es frägt sich ... hier: Ob und in wie fern es ein sicheres, allgemeines und in der Anwendung brauchbares Kriterium der Wahrheit gebe? Denn das soll die Frage: Was ist Wahrheit? bedeuten.“ (IX, 49—50)

0.7.1 ALLGEMEINES OBJEKTIVES MATERIALES KRITERIUM DER WAHRHEIT: „Nicht möglich; ... in sich selbst widersprechend: Denn als ein allgemeines, für alle Objekte überhaupt gültiges, müßte es von allem Unterschiede derselben völlig abstrahieren und doch zugleich als ein materiales Kriterium eben auf diesen Unterschied gehen“ (IX, 50).

0.7.2 ALLGEMEINES SUBJEKTIVES FORMALES KRITERIUM DER WAHRHEIT: „Die formale Wahrheit besteht lediglich in der Zusammenstimmung der Erkenntnis mit sich selbst bei gänzlicher Abstraktion von allen Objecten insgesamt und von allem Unterschiede derselben“. Sie ist möglich und „conditio sine qua non“ der objectiven Wahrheit: „Denn vor der Frage: ob die Erkenntniß mit dem Object zusammenstimme, muß die Frage vorhergehen, ob sie mit sich selbst (der Form nach) zusammenstimme? Und dies ist Sache der Logik.“ (IX, 51) – „Die formalen Kriterien der Wahrheit in der Logik sind“:

0.7.2.1 „Der Satz des Widerspruchs und der Identität (principium contradictionis und identitatis), durch welchen die innere Möglichkeit eines Erkenntnisses für problematische Urtheile bestimmt ist“ (IX, 53). Dieses Kriterium ist „nur negativ; denn ein Erkenntniß, welches sich widerspricht, ist zwar falsch, wenn es sich aber nicht widerspricht, nicht allemal wahr.“ (IX, 51)

0.7.2.2 „Der Satz des zureichenden Grundes (principium rationis sufficientis), auf welchem die (logische) Wirklichkeit einer Erkenntniß beruht, daß sie gegründet sei, als Stoff zu assertorischen Urtheilen“ (IX, 53). „Dieses ... Kriterium ... ist positiv“ (IX, 51—52). Dass eine Erkenntnis „logisch gegründet sei“, bedeutet, „daß es a) Gründe habe und b) nicht falsche Folgen habe.“ (IX, 51)

0.7.2.2.1 Negativ indirekt apagogischer Schluss/Modus tollens: Eine falsche Folge beweist die Falschheit des Grundes (IX, 52).

0.7.2.2.2 Positiv direkter Schluss/Modus ponens: Wahrheit einer Folge beweist einen „wahren Grund..., aber ohne diesen Grund bestimmen zu können“ (IX, 52). Und: Wahrheit aller Folgen beweist Wahrheit des Grundes nach Dasein und Sosein/Bestimmtheit. Da „sich die Allheit der Folgen nicht apodiktisch erkennen läßt“, gelangt man hier „nur zu einer wahrscheinlichen und hypothetisch-wahren Erkenntniß“ (IX, 52).

0.7.2.3 „Der Satz des ausschliessenden Dritten (principium exclusi medii inter duo contradictoria), worauf sich die (logische) Nothwendigkeit eines Erkenntnisses gründet – ... für apodiktische Urtheile“ (IX, 53).

Forschungsbericht zur formalen Wahrheit bei Kant

Prauss vs. Wagner/Scheffer zur Relevanz formaler Wahrheit

Kantmedaille 050/6 [KFS Mainz]Die nunmehr anzuschließende systematische Bestimmung der uns interessierenden formalen Wahrheit bei Kant folgt der Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte. Ausgangspunkt ist ein viel diskutierter Aufsatz von Prauss (Zum Wahrheitsproblem bei Kant. In: Kant-Studien 60 (1969), 166—182; auch in Prauss (Hrsg.): Kant, zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973), der die These verfocht: Formale Logik ist irrelevant für die Wahrheitsfrage. Scheffer: Kants Kriterium der Wahrheit: Anschauungsformen und Kategorien a priori in der „Kritik der reinen Vernunft, Berlin/New York 1993, bietet einen guten Überblick über diesen frühen Ansatz und Vorstoß von Prauss in die für uns einschlägige Dimension, indem er diesen in den allgemeinen Horizont der Kantforschung bis in die 60er Jahre stellt. [Bild links: Kantmedaille zum 100. Todestag, 12.02.1904, v. A. M. Wolff; Rückseite mit personifizierter Weisheit / Philosophie über den Sternen]
Scheffer (1993, 253) verweist sodann auf Wagners zwingende Korrektur der praussschen These, die allgemeine Zustimmumg fand. Wagner (Zu Kants Auffassung bzgl. des Verhältnisses zwischen Formal- und Transzendentallogik. Kritik der reinen Vernunft A 57—64/B 82—88. In: Kant-Studien 68 (1977), 71—76) hatte ein für die Prauss'sche These entscheidendes offensichtliches Missverständnis von KrV B 82—84 [und der Parallele in der Kant-Jäsche-Logik AA IX, 50] durch Prauss richtiggestellt. Aus diesen Texten, etwa B 82:

„Die alte und berühmte Frage, womit man die Logiker in die Enge zu treiben vermeinte, und sie dahin zu bringen suchte, daß sie sich entweder auf einer elenden Dialexe [A: Dialele] mußten betreffen lassen, oder ihre Unwissenheit, mithin die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen sollten, ist diese: Was ist Wahrheit?

schloss Prauss, dass es die Absicht Kants sei, ‘die Wahrheitsfrage ganz aus dem Bereich der formalen Logik herauszunehmen’ (vgl. Prauss 1973, 78). Dagegen, so Scheffer zu Recht, „kann und muß die Nennung formallogischer Prinzipien nach Kant zur Teilbeantwortung dieser Frage dienen“ (1993, 253). Außerdem sah Prauss aus diesen Texten hervorgehen, dass Kant die Korrespondenztheorie der Wahrheit ablehne, obwohl B 82 im Anschluss an die zitierte Stelle sagt: „Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt“. Was Kant behauptet, ist lediglich: „Von der Wahrheit der Erkenntnis der Materie nach läßt sich kein allgemeines Kennzeichen verlangen“ (B 83). Die Begründung für die Fehlanzeige eines allgemeinen objektiven materialen Kriteriums der Wahrheit ist obigem Exkurs zu entnehmen. Wagners Stellungnahme untermauert, dass Kant die überlieferte Wahrheitsdefinition „Adaequatio intellectus et rei“ nicht zurückweist, sondern akzeptiert; dass weder die formale Logik noch die transzendentale Logik ein allgemeines materielles Kriterium der Wahrheit bieten, sondern nur allgemeine Bedingungen der Form der Wahrheit (formale Logik) bzw. des möglichen Gegenstandsbezuges (transzendentale Logik).

Ausgangspunkt der abzulehnenden These Prauss’ ist eine fehlgeleitete Unterscheidung zwischen engerer formaler (als nur negatives Kriterium eventueller Falschheit) und weiterer transzendentaler Logik (als Logik der Wahrheitsdifferenz oder Wahrheitsfähigkeit). Dagegen Scheffer: „Sowohl die Prinzipien der formalen als auch die Prinzipien der transzendentalen Logik sind also Kriterien der Wahrheitsfähigkeit von Urteilen, wobei die Prinzipien der transzendentalen Logik aber ein engeres Kriterium abgeben sollen als es die Prinzipien der formalen Logik darstellen.“ (1993, 254)

Die entscheidende Aussage Kants zum Beleg der Wagner'schen und Scheffer'schen Interpretation ist KrV B 83—84: „Was aber das Erkenntnis der bloßen Form nach (mit Beiseitesetzung alles Inhalts) betrifft, so ist eben so klar: daß eine Logik, so fern sie die allgemeinen und notwendigen Regeln des Verstandes vorträgt, eben in diesen Regeln Kriterien der Wahrheit vorlegen müsse [...] Diese Kriterien ... sind so fern ganz richtig, aber nicht hinreichend.“ (Siehe auch Wagner 1977, 73) Vgl. die Parallele in der Kant-Jäsche-Logik: „Die formale Wahrheit besteht lediglich in der Zusammenstimmung der Erkenntnis mit sich selbst bei gänzlicher Abstraktion von allen Objecten insgesamt und von allem Unterschiede derselben“. Sie ist möglich und „conditio sine qua non“ der objectiven Wahrheit: „Denn vor der Frage: ob die Erkenntniß mit dem Object zusammenstimme, muß die Frage vorhergehen, ob sie mit sich selbst (der Form nach) zusammenstimme? Und dies ist Sache der Logik.“ (AA IX, 51)

Stuhlmann-Laeisz: Formale Wahrheit impliziert reale Referenz

Kantmedaille 050/17 [KFS Mainz]Stuhlmann-Laeisz: Kants Logik. Eine Interpretation auf der Grundlage von Vorlesungen, veröffentlichten Werken und Nachlaß, Berlin/New York 1976, vertritt die These: Formale Wahrheit impliziert konsequenzlogische Korrektheit und reale Gegründetheit. Zur näheren Bestimmung und Abgrenzung der logischen Wahreit ist hier zunächst kurz die kantische Wahrheitstheorie zu skizzieren. Dies geschieht im Anschluss an Stuhlmann-Laeisz (1976) und nachfolgenden Auseinandersetzungen mit dessen Darstellung. Die Semantik der formalen Logik bezieht sich – so Stuhlmann-Laeisz (1976) – auf die formale Wahrheit. Davon ist die transzendentale Wahrheit und die materiale Wahrheit zu unterscheiden. Wir haben also eine mehrstufige Semantik der kantischen Theorie der Erfahrung: formale – transzendentale – materiale Wahrheit. [Bild links: Kantmedaille zum 200. Geburtstag, 22.04.1924, v. F. Stiasny]

Formale Logik – formale Wahrheit: Stuhlmann-Laeisz verweist hierzu auf Reflexion 2142, die als notwendige Bedingungen der formalen Wahrheit anführt einmal die Widerspruchsfreiheit (Principium contradictionis): „möglich sein“; zum anderen die Begründung (Principium rationis sufficientis): „gegründet sein“. Zu Vergleich und Bestätigung herangezogen wird die Logik Pölitz [AA XXIV, 527], und Logik Dohna-Wundlacken [AA XXIV, 719] sowie Entdeckung [AA, VIII, 193]: „Jeder Satz muß gegründet (nicht ein blos mögliches Urteil) sein“. Es ist also – so Stuhlmann-Laeisz – eine logische Forderung: wahre Sätze und wahre Schlüsse müssen begründet sein!

Transzendentale Logik – transzendentale Wahrheit: Gewährleistung des Objektbezuges, d.h. der zweiwertigen Wahrheitswert-fähigkeit.

„Außer der Logik“ – empirische Korrespondenz-Wahrheit. Sie ist weder in der formalen noch in der transzendentalen Logik begründbar, sondern ist ein eigener Bereich: „materielle (objektive) Wahrheit“ (KrV B 85) (Stuhlmann-Laeisz 1976, 49, 61—62) Eine grundsätzlich gleichlaufende dreifache Semantik und Wahrheitwertigkeit der kantischen Theorie entwickelt Wagner (a.a.O. 1977, insbesondere S. 74—75). Wagner nennt die drei Dimensionen: Formallogik (allgemeine kognitive Geltung) – Transzendentallogik (allgemeine Gegenstandsgeltung) – Erfahrung / Anschauung (partikuläre Gegenstandsgeltung).

In der Bestimmung der uns interessierenden formalen Wahrheit bei Kant werden von Stuhlmann-Laeisz verschiedene Interpretationsmöglichkeiten des Verhältnisses „zwischen der so definierten formalen (oder logischen) Wahrheit und der ‘materiellen’ Wahrheit als Übereinstimmung mit dem Objekt“ (1976, 64) erörtert; Unklarheit bestehe hier deswegen, weil „Kant ... in seinen Logik-Vorlesungen zwei verschiedene und sich widersprechende Auffassungen bezüglich dieser Frage“ vertrete, die dadurch bedingt seien, dass unter formallogische Wahrheit sowohl formalwahr wie materiell wahr subsumiert würden (1976, 64). Insgesamt – so Stuhlmann-Laeisz – sprechen die Texte denn „stark für die Annahme, daß Kant ... vertreten hat: Ein Satz ist formal wahr genau dann, wenn er durch wahre Sätze begründet und widerspruchsfrei ist.“ (1976, 66)

Stuhlmann-Laeisz geht dabei aus von der Frage: Wieso ist bei Kant neben dem Nichtwiderspruchsprinzip auch der Satz vom zureichenden Grund ein Kriterium der formalen Wahrheit? In Beantwortung dieser Frage stellt er fest, es sei „typisch für Kants Auffassung von Logik, daß er es für eine logische Forderung hält, wahre Sätze müßten begründet sein“ (Stuhlmann-Laeisz 1976, 62; vgl. Scheffer 1993, 40). Das entscheidende Argument von Stuhlmann-Laeisz ist sodann, dass der zureichende Grund die reale Begründung meint, diese reale Begründung aber durch „materiale Bedingungen des Denkens“ gewährleistet ist. Diese Letzteren müssen logisch mögliche (widerspruchsfreie) Urteile real begründen. Materie des Denkens sind aber nach Kant in kategorischen Urteilen die Subjekt- und Prädikatbegriffe, in hypothetischen Urteilen die zwei zugrundeliegenden Elementarurteile (vgl. Scheffer 1993, 41—42). Stuhlmann-Laeisz’ Auslegung fordert somit den realen Objektbezug assertorischer kategorischer Urteile: In einem „kategorischen Urteil muß Subjekt und Prädikat gegeben sein“, d.h. ein realer Objektbezug vorliegen. Assertorische kategorische Urteile der allgemeinen Logik korrelieren mit realem Objektbezug (Stuhlmann-Laeisz 1976, 63—64). Formale Logik und formale Wahrheit hängen demnach von materieller Wahrheit ab.
Dies in direkter Form von der allgemeinen Logik bei Kant zu behaupten, ist nicht zutreffend. Vgl. dazu in Folge die weitere Erörterung anhand von Scheffers (1993).

Scheffer: Begriffsintensionale formale Wahrheit

Scheffers begründete These ist (a.a.O. 1993): Formale Wahrheit impliziert begriffsintensionale Widerspruchsfreiheit und begriffsintensionale Gegründetheit. Die formale logische Wahrheit wird in Scheffers Monographie in Abschnitt „A. Die allgemeinen logischen Bedingungen der Wahrheit“ verhandelt. Scheffer erörtert den Begriff der formalen Wahrheit bei Kant anhand der drei Prinzipien des Nichtwiderspruchs, des zureichenden Grundes und des ausgeschlossenen Dritten. Den drei Prinzipien ist die formale Möglichkeit (Nichtwiderspruchsprinzip), formale Wirklichkeit (Satz vom Grund) und formale Notwendigkeit (Prinzip des ausgeschlossenen Dritten) zugeordnet (siehe oben Exkurs zur Logik, Einl. AA IX, 52f) (Scheffer 1993, 29). Dieser Ansatz Scheffers trifft Kants Argumentation genau, wie Parallelstellen aus den Metaphysikvorlesungen zeigen [Allgemeine Metaphysik Mrongovius AA XXIX, 788—789; Allgemeine Metaphysik von Schön AA XXVIII, 478, 485; Allgemeine Metaphysik Dohna AA XXVIII, 624]

Kantmedaille 050/10-19 [KFS Mainz]Hierzu nun eine Erörterung dieser formallogischen Prinzipientheorie unter Berücksichtigung des zweiten Hauptstückes der Analytik der Grundsätze in der KrV, übertitelt: System aller Grundsätze des reinen Verstandes (B 187). Dies ist der systematische Ort der Erkenntnisprinzipien oder Denkaxiome in der Kritik, nicht nur der axiomatischen synthetischen Grundsätze oder Urteile a priori, sondern der gesamten Prinzipientheorie unter Einbeziehung der formallogischen, analytischen Grundsätze oder Axiome. Letzteres geschieht im Ersten Abschnitt: Von dem obersten Grundsatze aller analytischen Urteile (B 189), d.h. dem Nichtwiderspruchsprinzip, unter dem die genannten weiteren analytischen Axiome stehen. Zum aktuellen Diskussionsstand hinsichtlich der logischen Prinzipien und zur Einordnung der kantischen Diskussion in denselben ist darüberhinaus auf Seebohm (a.a.O. 1984, 58—65) zu verweisen. [Bild oben: Stadtmedaille Königsberg 1937 von Erna Becker-Kahns mit Bildnis Kants]

Nichtwiderspruchsprinzip: innere – negative – mögliche – logische Wahrheit. „Durch den ‘Satz des Widerspruchs’ wird die logische Wahrheit nur ‘negativ’ bestimmt, denn ein Urteil, ‘welches sich widerspricht, ist zwar falsch, wenn es sich aber nicht widerspricht, nicht allemal wahr’ (Logik, Einl., 51).“ (Scheffer 1993, 16) Aufgabe und Leistung des Nichtwiderspruchsprinzips ist die Prüfung auf begriffslogische Möglichkeit. KrV B 190 spricht dem Nichtwiderspruchsprinzip zwei Anwendungen zu – als „negatives Kriterium“: „Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht“ und – als „positiver Gebrauch“ hinsichtlich dessen, „was in der Erkenntnis des Objekts schon als Begriff liegt und gedacht wird“. Hier zeigt sich, dass im kritischen Schaffenszeitraum Kants das Nichtwiderspruchsprinzip das Identitätsprinzip mit einschließt. Der frühe und späte Kant unterschied beide als auch terminologisch eigenständige Prinzipien (vgl. de Jong 1995, 631–632, Anmerkung 44). Der Sache nach hat dies jedoch keine weiterreichende Bedeutung, da mit dieser wechselnden Terminologie offensichtlich keine sachlichen Verschiebungen verbunden waren. Hierzu ist nur noch der bekannte Sachverhalt anzumerken, dass Kant sich gegen Fassungen dieses Prinzips stellt, die das Missverständnis nahelegen, dass es mit einer Zeitbedingung verbunden sei, etwa: „Es ist unmöglich, daß etwas zugleich sei und nicht sei.“ (B 191)

Prinzip des zureichenden Grundes: äußerliche – positive – wirkliche – logische Wahrheit. Hierzu die erhellende Darstellung Scheffers: „Über ihre ‘innerlich[e] logisch[e] Wahrheit’ (Logik Einl., 51) hinaus können kategorische Urteile zueinander in verschiedenen Verhältnissen stehen. Das ‘Kriterium der äußerlichen logischen Wahrheit’ ist der ‘Satz des zureichenden Grundes’; er betrifft den ‘logischen Zusammenhang’ kategorischer Urteile untereinander und bestimmt deren logische Wahrheit ‘positiv’ (Logik Einl., 51/52; vgl. Refl. 2174.).“ (Scheffer 1993, 16) Aufgabe und Leistung des Prinzips vom zureichenden Grund ist die Prüfung der begriffslogischen Wirklichkeit, d.h. der tatsächlichen Gegebenheit begriffslogischer Folgen oder Aussagen, Sätze.

Hier interessiert ferner v.a., dass der Satz des zureichenden Grundes nicht nur als oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile, d.h. aller Grundsätze der transzendentalen Urteilskraft, auftritt, sondern auch eine analytische Anwendung hat: Formale Wahrheit schließt für Kant begriffsintensionale Widerspruchsfreiheit und begriffsintensionale (analytische) Gegründetheit ein. Dieses analytische Prinzip des zureichenden Grundes betrifft die Unterordnung der Begriffe bzw. der angewandten Begriffe der Basisebene (= kategorische Urteile) in der hierarchischen Ordnung (Begriffsbaum oder semantical network) der analytischen Gattung-Art-Prädikation. Subordination der Begriffe meint hier ihre Gründung und Ableitung aus übergeordneten Begriffen, welche der zureichende Grund für dieselben sind. Eine kurze Gegenüberstellung des analytischen und synthetischen Prinzips des zureichenden Grundes bietet die Allgemeine Metaphysik Mrongovius (AA XXIX, 820—821) „Wir haben oben unterschieden das analytische Verhältniß zwischen Grund und Folge; hier ist der Grund logisch, – und das synthetische Verhältniß zwischen Grund und Folge; hier ist der Grund ein realer Grund. Das Verhältnis des Grundes und der Folge ist analytisch, wenn das praedicat analytisch kann erkannt werden, synthetisch, wenn es nicht so erkannt werden kann. Der analytisch erste wäre Grund aller [im Subjektbegriff logisch implizierten] praedicate eines Dinges und heißt das logische Wesen – der synthetisch erste wäre Grund aller praedicate [qua empirischer Bestimmungen] eines Dinges, heißt das reale Wesen oder Natur“.

Prinzip des ausgeschlossenen Dritten: äußerliche – positive – notwendige – logische Wahrheit. Das dritte Prinzip „hat nach Kant eine die Verwendung des Prinzips vom zureichenden Grund stützende Funktion.“ (Scheffer 1993, 27) Dieses Axiom ist bei Kant eine Spielart des Nichtwiderspruchsprinzips. Im Unterschied zu Letzterem regelt es aber nicht Identität und Widerspruch der Begriffe in einem Urteil, sondern Identität und Widerspruch des Begriffes eines Dinges mit allen möglichen (= denkbaren) Prädikaten. Aufgabe und Leistung des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten ist also die Prüfung begriffslogischer Notwendigkeit, d.h. des Vorliegens begriffslogischer Folgen oder Aussagen, Sätze, die im Vergleich mit der Gesamtheit aller Begriffe oder Prädikate, und damit immer gültig sind. Vgl. die abschließende Diskussion dieses Erkenntnisprinzips in der KrV, im Abschnitt zum Transzendentalen Ideal. Dort wird sich zeigen, dass Kant die inhaltliche Diskussion des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten in der transzendentalen Dialektik ansiedelt, also in dem Bereich des Denkens, der auf die Totalität des Erkennens geht und zu Antinomien führt. Dies spiegelt die moderne Einsicht, dass die Forderung nach Vollständigkeit eines formalen logischen Systems eine Reformulierung des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten für ein solches System ist und unhaltbar ist (Theoreme von Gödel und Church; vgl. Seebohm: Philosophie der Logik: Freiburg/München 1984, 125—133). Das Maximum ist hier eine sog. schwache Vollständigkeit für die Prädikatenlogik 1. Stufe. Scheffers zutreffende Zusammenfassung ist:

„Die Frage, ‘Ob und inwiefern es ein sicheres, allgemeines und in der Anwendung brauchbares Kriterium der Wahrheit gebe?’ (Logik – Einl., 50), wird von Kant also für den Fall der formalen Wahrheit positiv beantwortet. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, der Satz des zureichenden Grundes und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten sind die ‘formalen, allgemeinen Kriterien’ der Wahrheit (Logik, Einl., 51)“ (1993, 29). Vgl. Schönrich: Kategorien und transzendentale Argumentation. Kant und die Idee einer transzendentalen Semiotik, Frankfurt/M. 1981, 111, zu einer ähnlichen Einteilung in der Preisschrift zu den Fortschritten der Metaphysik. Noch einmal im Überblick diese formallogischen, analytischen Prinzipien:
(I) Nichtwiderspruchsprinzip: kategorische Urteile – problematische Wahrheit = Möglichkeit.
(II) Prinzip des Grundes: hypothetische Urteile – assertorische Wahrheit = Wirklichkeit.
(III) Prinzip des ausgeschlossenen Dritten: disjunktive Urteile – apodiktische Wahrheit = Notwendigkeit.

Ergänzend nun noch einmal zur o.g. These bei Stuhlmann-Laeisz: Assertorische kategorische Urteile der allgemeinen Logik stehen nicht nur unter dem Nichtwiderspruchsprinzip, sondern auch unter dem Prinzip des zureichenden Grundes; damit beruhen sie aber auf realem Objektbezug, insofern der zureichende Grund die reale Begründung meine, diese reale Begründung aber durch „materiale Bedingungen des Denkens“ gewährleistet sei. Diese Letzteren müssten logisch mögliche (widerspruchsfreie) Urteile real begründen. Dagegen argumentiert Scheffer zutreffend unter Verweis auf die Kant-Jäsche-Logik § 30, Anm. 2, 109: „Nach Kant kann man schon ‘problematische Urteil[e] ... für solche erklären ..., deren Materie gegeben ist mit dem möglichen Verhältnis zwischen Prädikat und Subjekt“ (1993, 42).

Kantmedaille 050/16 [KFS Mainz]Eine zweite Kritik Scheffers betrifft Stuhlmann-Laeisz’ These, dass Kant einen mehrdeutigen Begriff der formalen Wahrheit vertrete, der materielle Wahrheit und konsequenzlogische, formale Wahrheit vermenge. Scheffer kann plausibel machen, dass mindestens eine hauptsächlich von Stuhlmann-Laeisz angezogene Belegstelle für die Einbeziehung der materiellen Wahrheit als integralem Bestandteil der formalen Wahrheit aus einem Missverständnis der Logik Busolt (AA, XXIV 629); Stuhlmann-Laeisz 1975, 64) herrührt. Scheffer: „Kant verwendet also durchaus einen eindeutigen Begriff der formalen Wahrheit. Unter diesen fallen jedoch nicht nur analytisch wahre ... Urteile, sondern alle Urteile, in denen irgendwelche Dinge nach Gattungen und Arten unterschieden werden, und selbstverständlich alle Urteile, die objektive Gültigkeit besitzen.“ (1993, 45) [Bild oben: 20 Mark-Münze der DDR 1974 zum 250. Geburtstag Kants]

Wolff: Verstandesformen und Intensionen

Das bisher erzielte Ergebnis der methodischen Beschränkung der Kantischen Allgemeinen Logik auf abstrakte Verstandesformen und begriffliche Intensionen wird durch die einschlägige Untersuchung bei Wolff: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel: mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, Frankfurt/M 1995, grundsätzlich bestätigt: „Diese Aufffassung von formaler Logik läßt sich gut in dem Sinne verstehen, daß die Geltung der allgemeinen Regeln, die sie lehrt, ganz unabhängig davon gelten, ob die Gegenstände existieren, von denen die Sätze handeln, auf die sich die Regeln beziehen.“ (Wolff 1995, 292). Das bisher erzielte Ergebnis zeigt aber auch die Unhaltbarkeit einer besonderen These Wolffs auf, die von der Voraussetzung ausgeht: Subjekt- und Prädikatbegriffe in logischen Verstandesurteilen hätten notwendig Bedeutung im Sinne von möglichem Gegenstandsbezug. Auch De Jong (Kant’s Analytic Judgments and the Traditional Theory of Concepts. In: Journal of the History of Philosophy 33 (1995), 613—641) begeht m.E. in diesem Punkt den selben Fehler wie Wolff (1995), wenn er formallogische Wahrheit an objektive Urteile und objektive Einheit der Apperzeption des realen Verstandesgebrauchs bindet. Hier finden Interessierte eine kritische Bewertung dieser These:

De Jong: Analytische Wahrheit bei Kant

Ein wichtiger Aufsatz in vorliegendem Zusammenhang ist De Jong: Kant’s Analytic Judgments and the Traditional Theory of Concepts. In: Journal of the History of Philosophy 33 (1995), 613—641. De Jong argumentiert darin für Folgendes: Das analytische Nichtwiderspruchsprinzip ist notwendige Bedingung für die Wahrheit aller objektiven Urteile des realen Verstandesgebrauches, und notwendige und zureichende Bedingung für die Wahrheit einer Untermenge derselben. De Jong: Bei Kant finden sich zwei Begründungen für Analytizität. Einmal: „ist enthalten in“ und zum anderen: „dessen Leugnung einen Widerspruch bedeutet“. Letzteres ist, so de Jong, zu beziehen auf die Beweisbarkeit eines analytischen Urteils, in der Ebene des Wahrheitswertes (B 190) (1995, 620) Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass de Jongs Erläuterung der kantischen Analytizität sich nicht auf alle Ebenen der logischen Wahrheit erstreckt, sondern nur auf deren erste und grundlegende Ebene, d.h. jene, die sich aus dem (Identitäts- und) Nichtwiderspruchsprinzip ergibt. Der Exkurs aus der Kant-Jäsche-Logik, die Belege aus den Metaphysikvorlesungen wie auch der Kommentar bei Scheffer (a.a.O. 1993) zeigen, dass die logische Wahrheit in ihrer vollen Reichweite und Entfaltung darüber hinaus auch das Prinzip des zureichenden Grundes und das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten umfasst. Allerdings ist de Jongs Beschränkung auf das Nichtwiderspruchsprinzip insofern berechtigt, als Kant in der Logik (nicht in der Metaphysik!) das Prinzip des zureichenden Grundes (und das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten) als rückführbar auf das Nichtwiderspruchsprinzip betrachtet. Denn in der Entdeckung befasst sich Kant mit der Behauptung seines Kritikers Eberhard, dass synthetisch-apriorische von analytischen Sätzen so zu unterscheiden seien, dass Erstere Attribute = notwendige Folgen (nicht: definitorische Wesensbestandteile) des Begriffs des Subjekts sind, und zwar nicht aufgrund des Nichtwiderspruchsprinzips, sondern aufgrund des Prinzips des Grundes. Wenn aber dieser Grund die begriffslogische Implikation im Subjektbegriff ist, dann – so Kant – lässt sich dieser Grund auf das Nichtwiderspruchsprinzip zurückführen (Entdeckung, AA VIII, 241—242).

Dies bestätigt de Jongs im Vorhergehenden bereits zitierte Beobachtung: „The PNC [= Principle of Non-Contradiction] does not function in him primarily to characterize the notion of analyticity. Kant only appeals to this principle in connection with the claim for truth“ (1995, 619). Auf der propositionalen Ebene (Proposition) ist demnach die logische Wahrheit dreidimensional, auf der semantischen Ebene der analytischen logischen Wahrheit (Assertion) dagegen eindimensional. Vgl. Allgemeine Metaphysik Volckmann (AA XXVIII, 418, und Allgemeine Metaphysik von Schön (AA XXVIII, 478—479): „Alle diese Principien laufen jedoch am Ende auf den Satz des Widerspruchs hinaus, so wie alle Urtheile sich wieder auf kategorische zurückbringen lassen.“

Das Nichtwiderspruchsprinzip (bzw. die analytischen Prinzipien der Wahrheit insgesamt) bezieht sich nun über den Subjektbegriff potentiell auf Dinge und ist notwendige Bedingung der Möglichkeit des Objektbezuges in Urteilen des realen Verstandesgebrauches. De Jong erinnert auch daran, dass analytische Urteile nicht tautologische, identische Urteile sind, auch wenn Letztere als Sonderfall darunter enthalten sein können (1995, 628—630).

Wichtig ist ferner die weitere These de Jongs: Das Nichtwiderspruchsprinzip ist notwendiges und hinreichendes Prinzip aller analytischen Urteile des realen Verstandesgebrauchs „in der Erkenntnis des Objekts“ (B 190). Zusätzliche Voraussetzung solcher analytisch wahren Urteile des realen Verstandesgebrauchs ist aber das empirische Begriffsbildungsverfahren und die tatsächliche Wahrnehmung, d.h. die wahrnehmungsgestützte Existenz der den Begriffsumfang des betreffenden Allgemeinbegriffs bildenden Gegenstände. De Jong zitiert dazu KrV A 151/B 190—191: „Man kann aber doch von demselben [i.e. dem Satze des Widerspruchs] auch einen positiven Gebrauch machen, d.i. nicht bloß, um Falschheit und Irrtum (so fern er auf dem Widerspruch beruhet) zu verbannen, sondern auch Wahrheit zu erkennen. Denn, wenn das Urteil analytisch ist, es mag nun verneinend oder bejahend sein, so muß dessen Wahrheit jederzeit nach dem Satze des Widerspruchs hinreichend können erkannt werden. Denn von dem, was in der Erkenntnis des Objekts schon als Begriff liegt und gedacht wird, wird das Widerspiel jederzeit richtig verneinet, der Begriff selber aber notwendig von ihm bejaht werden müssen, darum, weil das Gegenteil desselben dem Objekte widersprechen würde. Daher müssen wir auch den Satz des Widerspruchs als das allgemeine und völlig hinreichende Principium aller analytischen Erkenntnis gelten lassen“ (vgl. de Jong 1995, 631).

Seebohm: Logische Theorie vs. Logische Praxis

Seebohm: Some Difficulties in Kant’s Conception of Formal Logic. In: Proceedings of the Eigth International Kant Congress, Memphis 1995, I, Milwaukee 1995, 567—581, diskutiert die logische Wahrheit bei Kant mit diesem Resultat: Die theoretisch geforderte strikte Trennung von nichtreferentieller formaler Logik und referentieller transzendentaler Logik wird in der logischen Praxis durchbrochen. Als vorläufige Heuristik soll die Hauptthese dieses Aufsatzes, d.h. die Spannung zwischen nichtreferentieller logischer Theorie und referentieller logischer Praxis parallelisiert werden mit unserer Arbeitshypothese der Unterscheidung zwischen direkter Nichtreferentialität und indirekter Referentialität der kantischen Logik:

„The main thesis of the paper is: Kant’s conception of a logica pura in the framework of his philosophy requires a strict demarcation between ‘formal’ and ‘transcendental logic’. The consequence is the restriction of formal logic to the logic of concepts [...] Difficulties arise with the ‘relations of judgments’. [...] The exposition of problematic and assertoric judgments in the discussion of the modalities prove that the use of the term ‘assertoric’ implies reference and truth values. The original conception of a logica pura becomes ambigious and the demarcation between formal and transcendental logic is blurred.“ (1995, 568—569)

Vor unserer Diskussion dieses Einwandes soll zunächst Seebohms Bestätigung des bisherigen Ergebnisses unserer Interpretation erwähnt werden: Ursprung und Referenz der Begriffe sind – grundsätzlich und theoretisch – der Logik sachfremde Themen: "General logic abstracts from all contents of concepts. The question how concepts can be referred to several objects in general is ... implied in ... how different given representations ... become concepts in thinking. What is required is the act of reflexion which determines what is in common in comparison and abstracts from what is not in common. The origin of the concepts regarding their matter is completeley beyond this logical question. It is a ‘metaphysical question’ whether the origin is empirical, i.e. whether the origin is rooted in singular representations of intuition, or constructed or intellectual. That means, however, that the question, in the last instance, belongs to transcendental logic in the framework of the Critique. Neither the employment, Gebrauch, i.e. reference, nor the question of the roots of the acts of logical reflection is a question of logics. The proper and central question is, hence, the question of the relations between concepts.“ (Seebohm 1995, 570)

... in der Urteilstheorie

In der Begriffstheorie sieht die Untersuchung von Seebohm keine unüberwindlichen Unverträglichkeiten der logischen Praxis mit der logischen Theorie. Anders in der Urteils- und Schlusstheorie. In der Urteilstheorie ist dabei von Bedeutung die Unterscheidung und Bestimmung des problematischen und assertorischen Urteils (= „Satz“):

„The difference between problematic [= „the question of truth and falsity ... is left open“] and assertoric judgments is the difference between judgments and statements [...] Only assertoric statements can have truth values, i.e. they refer. [...] The main difficulty in the framework of Kant’s system is that assertoric judgments are beyond the scope of the logica pura.“ Aber: „Categorical judgements are assertoric [Logik, AA, IX, 105, Anm. 1 und 2.] ..., i.e. a statement that refers to reality and things, with reference and truth values. We have existential import. The thing as the subject of the categorical judgment is represented by a concept subordinated to the concept serving as the predicate. [ Logik ebd., 107, § 29 Anmerkung] [...] Categorical judgments are assertoric and categorical syllogisms deal with judgments as statements. The demarcation separating the logica pura and transcendental logic is blurred.“ [ Logik, 123, § 63.] (Seebohm 1995, 573—574)

Zum Fall der hypothetischen und disjunktiven Urteile sagt der zu besprechende Aufsatz: „The matter of hypothetical judgments are two judgements. These judgments, taken for themselves, are problematic judgments. The form connecting them is the consequence. The consequence and with it the hypothetical judgment as a whole is assertoric.“ [ Logik, 105, § 25.] (1995, 575) Und: „The disjuncts in a disjunctive judgment are (a) problematic judgments. They are (b) the parts of the sphere of a concept or cognition and they determine (c) the whole sphere of the concept. The problem of assertoric judgments surfaces when (d) one of the disjuncts in disjunctive judgment, it is irrelevant which one, is assertoric, i.e. true.“ [Logik, 106—108/§§ 28—29.] (1995, 575—576)

Trotz des herangezogenen Beweismaterials für die Zuordnung von „assertorisch“ und „referentiell“ in der kantischen Logik ist – im Blick auf die bisher bestätigte Arbeitshypothese, insbesondere auf die schon vorgestellte Auslegung von Scheffer (1995) – diese Zuordnung nur mittelbar zu verstehen, da „assertorisch“ von Kant in doppelter Bedeutung gebraucht wird: einmal als assertorische logische Urteilsform, zum andern als ontologische, empirische Wirklichkeitsbehauptung in der logischen Form des assertorischen Urteils. Dazu zunächst folgender Hintergrund: Basis und Ausgangspunkt eines Teilbereichs (auf den die Logik eigentlich abzielt und der ihr Sinn ist) des Materials, auf dem die kantische Logik operiert, sind Objekt- und Prädikatbegriffe sowie Urteilsrelationen des realen Verstandesgebrauchs. Ebenso ist die Zielebene, der Zielpunkt der Logik, wiederum eigentlich die reale Referenz und erkenntnistheoretische Geltung der logischen Formen, Relationen und Operationen. Die formale Logik ist eine begriffliche Theorie-Ebene und Analysetechnik, deren Ergebnisse referentielle Geltung besitzen, wenn die Eingaben oder Vorgaben referentiell real waren und sind. Diese letztere Bedingung macht aber gerade den Sinn und Zweck der Logik aus:

„Hauptvollkommenheit des Erkenntnisses, ... die wesentliche und unzertrennliche Bedingung aller Vollkommenheit [also auch der „Logischen Vollkommenheit des Erkenntnisses der Qualität nach“ (AA, IX, 38), d.i. der formallogischen Begriffsanalyse bzw. „Deutlichkeit im Begriffe“ (ebd.)] ist „die Wahrheit“, verstanden als Relation bzw. „Übereinstimmung der Erkenntniß mit dem Gegenstande“ (Logik, AA, IX, 49—50).

Die bisher erarbeitete Hypothese bestätigt sich somit: Es handelt sich bei der in der Theorie geforderten referentiellen Neutralität der kantischen Logik m.a.W. offensichtlich um eine methodische Einschränkung: Der für die logische Sinnhaftigkeit und Vollkommenheit des Erkenntnisses nötige referentielle Charakter des Gegenstandsbereichs wird in der formalen Logik eingeklammert, da sie als eine Disziplin bestimmt ist, in deren methodische Zuständigkeit nur die begriffslogischen, intensionalen Formen, Relationen und Operationen, jedoch über begrifflich erfassten realen Merkmalen, Dingen und Relationen der realen Wahrnehmung und Erfahrung, fallen. Die Modalitäten Möglichkeit – Wahrheit – Notwendigkeit beziehen sich somit unmittelbar nur auf unterschiedliche Aussageformen der intensionalen Begriffs- und Urteilslogik. Die entscheidende Beweistelle ist § 30 Modalität der Urteile: Problematische, assertorische, apodiktische, Anm. 1 der Kant-Jäsche-Logik:

„Dieses Moment der Modalität zeigt also nur die Art und Weise an, wie im Urteile etwas behauptet oder verneint wird: ob man über die Wahrheit oder Unwahrheit eines Urtheils nichts ausmacht, wie in dem problematischen Urtheile: die Seele des Menschen mag unsterblich sein; oder ob man darüber etwas bestimmt, wie in dem assertorischen Urtheile: die menschliche Seele ist unsterblich; oder endlich, ob man die Wahrheit eines Urtheils sogar mit der Dignität der Notwendigkeit ausdrückt, wie in dem apodiktischen Urtheile: die Seele des Menschen muß unsterblich sein. Diese Bestimmung der bloß möglichen oder wirklichen oder nothwendigen Wahrheit betrift also nur das Urtheil selbst, keineswegs die Sache, worüber geurtheilt wird.“ (AA, IX, 108—109) Vgl. die Parallelen in KrV B 99–100 und in Allgemeine Metaphysik Volckmann (AA XXVIII, 418) für die ebenfalls Nichtidentität von logischer Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit und realer Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit. Eine ausgezeichnete Interpretation hierzu bietet auch Scheffer (1993, 194—195).

Kantmünze 050/15 [KFS Mainz]Aber: Weil die Begriffslogik mit referentiell gegründetem Material über dem realen Gegenstandsbereich der Wahrnehmung und Erfahrung unter der „wesentliche[n] und unzertrennliche[n] Bedingung“ der „Wahrheit“ [AA, IX, 38] arbeitet, deswegen gilt idealerweise von einem formallogisch assertorischen Satz ipso facto, dass er mittelbar auch referentiell gültig ist, sobald die methodische Einschränkung der referentiellen Neutralität der formalen oder allgemeinen Logik aufgehoben wird. [Bild links: 5 DM-Münze der Bundesrepublik Deutschland zum 250. Geburtstag Kants 1974, von Doris Wachk-Balz]

Auch im Fall des hypothetischen Urteils ist nach der kantischen Theorie die logische Assertion von der realen Assertion zu unterscheiden; und zwar insofern die Konsequenz im hypothetischen Urteil – unabhängig von der referentiell-problematischen oder referentiell-assertorischen Modalität der Einzelurteile – unmittelbar einen begriffslogisch wahren Sachverhalt behauptet, der mittelbar im Falle des assertorischen Erfahrungsursprungs oder -gebrauchs der zugrundeliegenden Elementarurteile ipso facto auch referentiell wahr wäre.

Auch das assertorische Disjunkt im disjunktiven Urteil ist nach Kant dergestalt zu verstehen, dass ein Disjunkt nur formal und hypothetisch betrachtet wahr, assertorisch, sein muss, um formal sinnvoll von einem disjunktiven Urteil sprechen zu können. Hier ist jedoch die nur methodische Neutralität am deutlichsten zu erkennen, da die formallogische Begriffsanalyse bei diesem Urteilstyp nur sinnvoll in Gang kommen kann, wenn die Existenz eines und nur eines [da Kant mit der Tradition die Disjunktion als starke Disjunktion fasst] referentiell-assertorisch wahren Disjunktes hypothetisch angenommen wird. Die entscheidende Beweisstelle ist hier KrV B 100—101: „So sind die beiden Urteile, deren Verhältnis das hypothetische Urteil ausmacht, ... imgleichen ... das Disjunktive ... insgesamt nur problematisch“. Vgl. hierfür neben Scheffer a.a.O. 1993 auch Schönrich a.a.O. 1981, 106—107.

... in der Schlusstheorie

Die methodische Zweigesichtigkeit der kantischen Logik zeigt sich schließlich auch in der Schlusstheorie. Bei den kategorischen Schlüssen wurde dies bereits im Vorhergehenden angesprochen, im Fall der hypothetischen Schlüsse sagt die in Rede stehende Untersuchung: „The hypothetical syllogisms require[d] assertoric judgments and truth values“ (Seebohm 1995, 576); und im Falle der disjunktiven Schlüsse: „The minor and the conclusion of a disjunctive syllogism are assertoric judgments. The condition for valid disjunctive syllogisms refers to truth values“ [Logik, 129—130/§§ 77—78] (Seebohm 1995, 576). Die Frage ist auch hier nur, in welchem Sinn assertorisch zu nehmen ist.

Die Logik sagt hierzu, zu den Vernunftschlüssen, folgendes Grundsätzliche [§§ 56–80]: „Ein Vernunftschluß ist das Erkenntniß der Notwendigkeit durch die Subsumption seiner Bedingung unter eine gegebene allgemeine Regel.“ (AA IX, 120) „Allgemeines Princip“ derselben ist: „Was unter der Bedingung einer Regel steht, das steht auch unter der Regel selbst.“ (AA IX, 120): „Wesentliche Bestandsstücke“ sind „1) eine allgemeine Regel ... der Obersatz (propositio maior) ... 2) der Satz, der ein Erkenntnis unter die Bedingung der allgemeinen Regel subsumiert ... der Untersatz (propositio minor) ... 3) der Satz, welcher das Prädicat der Regel von der subsumierten Erkenntniß bejaht oder verneint: der Schlußsatz (conclusio).“ (AA IX, 120)

Materie der Vernunftschlüsse sind die Vordersätze (Prämissen) (AA IX, 121). Form der Vernunftschlüsse ist die „Conclusion, sofern sie die Consequenz enthält“ (AA IX, 121). Zur Einteilung der Vernunftschlüsse sagt die Logik:

„Alle Regeln (Urtheile) enthalten objective Einheit des Bewußtseins des Mannigfaltigen der Erkenntniß, mithin eine Bedingung, unter der ein Erkenntniß mit dem andern zu einem Bewußtsein gehört. Nun lassen sich aber nur drei Bedingungen dieser Einheit denken, nämlich: als Subject der Inhärenz der Merkmale, oder als Grund der Dependenz eines Erkenntnisses zum andern, oder endlich als Verbindung der Theile in einem Ganzen (logische Eintheilung). Folglich kann es auch nur eben so viele Arten von allgemeinen Regeln (propositiones majores) geben, durch welche die Consequenz eines Urtheils aus dem andern vermittelt wird.
Und hierauf gründet sich die Eintheilung aller Vernunftschlüsse in kategorische, hypothetische und disjunctive. [...] Das Unterscheidende ... liegt im Obersatze. In kategorischen Vernunftschlüssen ist der Major ein kategorischer, in hypothetischen ist er ein hypothetischer oder problematischer, und in disjunctiven ein disjunctiver Satz.“ (AA IX, 121—122)

Diese Ausführungen liegen ganz in der Linie der Beweisführung Kants in der Urteilstheorie: Worauf es in beiden Bereichen ankommt, sind formallogische Begriffslagen in den logischen, nicht: realen Modi der Möglichkeit (problematisch), Wirklichkeit (assertorisch), Notwendigkeit (apodiktisch). Auch die o.g. „objective Einheit des Bewußtseins des Mannigfaltigen der Erkenntniß“ ist die Form der objektiven Einheit, d.h. des intentionalen logischen Wesens von Subjektbegriffen, unter methodischem Absehen von deren Herkunft und Anwendung.

Mittelbare Referenzialität der formalen Logik

Zur bereits mehrfach in Rede stehenden vordergründigen Widersprüchlichkeit der kantischen Logik (theoretisch: Absehen von Gegenstandsbezug und Referenz – faktisch: Gegenstandsbezug und Referenz) grundsätzlich das Folgende: Sie lässt sich – wie bereits angesprochen – lösen, wenn man die ebenso radikale wie ausschließliche methodische Beschränkung der formalen Logik qua formaler Logik in Rechnung stellt.

Diese ist durchaus verträglich mit dem doppelten Sachverhalt, dass (1) zusätzliche nicht formale, d.h. referentielle Voraussetzungen für die logische Wahrheit angesetzt werden, wie im empirischen Begriffsbildungsverfahren. Hier wird die wahrnehmungsgestützte Existenz der den Begriffsumfang des betreffenden Allgemeinbegriffs bildenden Gegenstände im Falle der analytisch (formallogisch) wahren Urteile des realen Verstandesgebrauches vorausgesetzt. Dies fällt aber nicht in den Zuständigkeitsbereich der formalen Logik. Diese rein methodische Beschränkung ist weiterhin verträglich mit dem Sachverhalt, dass (2) die formale Wahrheit referentielle Bedingungen festlegt. Dies ist global durch Festlegung der notwendigen Bedingung aller objektiv-realen Verstandesurteile gegeben, und partiell durch Festlegung der notwendigen und hinreichenden Bedingung der analytischen, objektiv-realen Verstandesurteile. Doch auch diese referentiellen Aufgaben und Folgen der Logik sind nach Kant methodisch nicht Gegenstand der formalen Logik. Strawson (The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, London 1966, 74—76) sieht m. E. nicht nur ausdrücklich diese indirekte Referentialität der (kantischen) formalen Logik, sondern stellt diese auch sehr gut dar.

Dieser doppelte Sachverhalt soll hier durch die Formel mittelbarer Gegenstandsbezug (indirekte Referentialität) der formalen Logik (nach Voraussetzungen und Folgen) erfasst werden. Dieser mittelbare Gegenstandsbezug ist ein, wenn nicht der entscheidende Schlüssel zur Metaphysik Kants, und hauptsächlicher Gegenstand meines Systematischen Kommentars zur Kritik der reinen Vernunft, Berlin / New York 2003, Kapitel 13—16 und Kap. 17—19. Dort wird gezeigt, dass die formale Begriffslogik im Rahmen der transzendentalen Logik und Ästhetik ebenso grundlegende wie überwältigende Bedeutung für den realen Verstandesgebrauch hat. Man kann diesen doppelten Sachverhalt auch mit der modernen Unterscheidung von (1) intensionalem Sachverhalt (Proposition, Urteil) und (2) extensionaler Feststellung (Statement, Satz) ausdrücken. Die formale Logik hat es im von Kant vertretenen intensionalen Programm der Logik unmittelbar nur mit intensionalen Propositionen als begrifflichen Idealisierungen zu tun. Der mittelbare Gegenstandsbezug vollzieht sich erst in extensionalen Sätzen, die individuell eingeschränkte, partikuläre Realisierungen der Propositionen in der raum-zeitlichen Welt der sinnlichen Erfahrung sind:

Watanabe 1885 [KFS Mainz, Nr. 096]„Läßt man intensionalen Sachverhaltssinn als Gegenstand der Logik zu, so sind jenseits der Feststellungen Propositionen anzusetzen und es gilt dann, daß es die Propositionen sind, die wahr oder falsch werden. Da die rein intensionale Interpretation der Logik im subjektiven Konzeptualismus den Gegenstandsbezug von der Logik ausschließt, hat sie es im Grunde nur mit Propositionen zu tun. Propositionen werden hier als Urteile bezeichnet, und die logische Analyse des Urteils analysiert es ebenso wie Schlüsse als Beziehungen zwischen Begriffen, als Begriffslagen. Urteile werden zu Sätzen, assertorischen Urteilen, wenn sie auf Gegenstände bezogen werden. Deren Behandlung gehört aber nicht mehr in die formale Logik, die es rein mit dem Urteilen des Begriffes zu tun hat, sondern in eine transzendentale Logik (Kant Logik, 102; KrV, B 93f; ...).“ (Seebohm 1984, 55—56) [Bild rechts: Ältestes Kantbildnis in Japan, von Bumaburo Watanabe 1885. Mit Buddha, Sokrates und Konfutse]