Dr. phil. Paul Natterer

Theologie der praktischen Vernunft

Die philosophischen Schriften (Ketubim) machen den dritten großen Teil des Tanakh (Altes Testament) aus. Religionsphilosophisch handelt es sich um theoretisches (philosophisches) und v.a. praktisches Lebenswissen, Alltagswissen, Lebenskunst, Lebensbewältigung. Oder kürzer: Die Schriften verstehen sich als vom Göttlichen inspirierte philosophische Reflexion und praktische Vernunft und Ethik. Sie sind eine „Theologie der praktischen Vernunft“ (Zenger, E. / Fabry H.-J. / Braulik, G. et al.: Einführung in das Alte Testament. Mit einem Grundriss der Geschichte Israels von Christian Frevel, Stuttgart 7. Aufl. 2008, 330). In den Lektionarien der neutestamentlichen Liturgie werden daher diese Schriften insgesamt unter dem Titel Buch der Weisheit zusammengefasst. Diese Theologie der praktischen Vernunft setzt voraus und meditiert ein (i) Grundwissen von Gut und Böse (ii) das Wissen um den Tun-Ergehen-Zusammenhang (iii) das Wissen um die Ordnungen des Guten im Leben des Einzelnen, der Familien, der Gruppen, Staaten und des Kosmos, welche in einer vom Göttlichen gesetzten ganzheitlichen Weltordnung gründen (ebd. 330).

Objektive Voraussetzung des literarischen Korpus der philosophischen Schriften ist dabei die Überzeugung, dass (i) die menschliche Existenz eine Existenz in einem vernünftigen und guten Lebensraum ist, weil ein Produkt des personalen theistischen Absoluten und (ii) das Gelingen des Lebens damit unmittelbar oder mittelbar eine transzendente Gabe ist. Subjektive Bedingung ist dementsprechend das Vertrauen in und die Achtung vor dem Göttlichen und Spirituellen: „Der Respekt vor Gott ist Anfang der Weisheit“ (Sprichwörter 1, 7; 9, 10; 15, 32; Ijob 28, 28). Die Grundformel ist nach Deissler, A.: Die Grundbotschaft des Alten Testaments, Freiburg 7. Aufl. 1979 [13. Aufl. 2006], 132—139: Bringe dein Verhalten in Übereinstimmung mit der Menschen und Dinge überwaltenden Weltordnung, die letztlich im Wollen und Walten Gottes wurzelt. 

Dabei kommt auch das individuelle Moment ethischen Handelns zum Tragen und damit eine Multiperspektivität der Welt- und Lebenswahrnehmung entsprechend der eigenen Natur, Erfahrung, erprobten Einsicht.

Kulturgeschichtliche Exzellenz

Die hier in Rede stehende Weisheit oder Philosophie des Tanakh oder Alten Testamentes ist kein kulturwissenschaftliches Orchideenfach zum Traditionsgut einer randständigen Ethnie. Sie kann im Gegenteil klassische Geltung beanspruchen. Wieso? Nun, die wichtigsten Gründe sind die in Folge genannten.

Schrittmacher der neolithischen Revolution

(1) Kanaan, d.h. Palästina und Phönizien sind nicht nur der globale geographische Knotenpunkt im Schnittpunkt dreier Kontinente, sondern seit der Vorgeschichte auch Brennspiegel und Schrittmacher der Kultur- und Technikgeschichte: "Im Nahen Osten, vor allem in Palästina und der Levante, vollzog sich zum ersten Mal der Übergang von den Jäger- und Sammlerkulturen der Frühzeit zu einer sesshaften bäuerlichen Gesellschaft: ein entscheidender Schritt in der Geschichte der Menschheit [...] In Palästina und Syrien ... taten die neolithischen  Bewohner des Nahen Ostens einen der wichtigsten Schritte in der Entwicklung der Menschheit: Sie begannen Nutzpflanzen anzubauen. Von jetzt an wurde planmäßig gesät und geerntet, und wilde Arten wurden kultiviert. Jericho ... ist die erste uns bekannte Niederlassung von Ackerbauern [...] In Palästina ... wohnten sie nun in festen Häusern ... Handwerkliche Fähigkeiten konnten sich entwickeln und ... es nahm die Arbeitsteilung ihren Anfang" (M. Oliphant: Atlas der Alten Welt, München 2000, 10. 12—13).

(2) Kurze Zeit später, 9000 v. C. nach etablierter Zeitrechnung, begann hier im Nahen Osten gleichfalls zum ersten Mal die Zähmung und Zucht von Tieren (Oliphant a.a.O. 13)

(3) Grundlegende handwerkliche Techniken wie professionelle Brennöfen und die Steinzeug-Keramik (metallic ware) wurden zuerst im Nahen Osten und Letztere speziell in Syrien entwickelt.

(4) Vorderasien und besonders die Levante ist Ausgangspunkt von Bergbau, Hüttenwesen und Metallverarbeitung: In Palästina erreicht die Kupferverarbeitung im Chalkolithikum ihren technischen Höhepunkt (Fund von Nachal Mischmar) und die Bronzetechnologie ist 3300 v. C. in Palästina zuerst nachgewiesen, Jahrhunderte früher als anderswo.

Schrittmacher der Urbanisation und Industrialisierung

(1) In Jericho in Palästina entstand die erste Stadt der Welt: "Um 8000 v. Chr. wuchs es plötzlich zu einer Stadt mit vier Hektar Fläche an [und ...] wurde eine riesige Mauer aus Stein ... errichtet" (ebd. 13). In der Folge (7./6. Jahrtausend) breitete sich in Palästina und dem angrenzenden Kleinasien (Çatal Höyük) die älteste Stadtkultur der Erde aus, ein Jahrtausend vor der sumerischen Stadtkultur und zwei Jahrtausende vor der ägyptischen Hochkultur. Zwar folgten auf Phasen der Urbanisierung immer wieder katastrophen- und kriegsbedingt solche eher dörflichen Charakters. Dennoch liegen die ältesten bestehenden Metropolen unserer Erde mit einem Alter von 4500+ Jahren alle in diesem Gebiet: Beirut, Jerusalem, Jaffa, Gaza, Damaskus, Aleppo.

(2) Die phönizische Zivilisation Kanaans ist die Mutter der fabrikmäßigen Textil- und Metallindustrie, der Hochseeschiffahrt, der Finanzwissenschaft und des Welthandels von China bis zum Atlantik, von Nordasien bis Zentralafrika. Ein jahrtausendealtes und zur Zeitenwende von dem arabischen Scheichtum der Nabatäer kontrolliertes Zentrum der Erdöl- und Asphaltförderung sowie der Bitumenindustrie war das Tote Meer (römischer Name: Asphaltsee). Es handelte sich um eine Schlüsselindustrie für Schiffbauer, Reedereien und Marinen, welche Bitumen zur Abdichtung und Versiegelung von Seeschiffen gegen Salzwasser und Korrosion benötigten. Darüber hinaus fand Asphalt breite Verwendung im Straßenbau und als Binde- und Dichtungsmittel im Hochbau, Kanalbau und Sanitärwesen. Vgl. Ezechiel, Kap. 27 und 28, über die phönizische Vormacht Tyrus: "Durch deine gewaltige Intelligenz, durch deinen Handel" schufst du dir "unvorstellbaren Reichtum an Gold und Gütern [...] und eine vollendet schöne Stadt [...] Produzenten, Handwerker und Händler aller Regionen hast du beschäftigt und den Wohlstand der Nationen kontrolliert".

(3) Deuteronomium 8, 7—9 nennt Kanaan ein „prächtiges Land“ und definiert den Ausdruck als „Land mit Bächen, Quellen und Grundwasser, das im Tal und am Berg hervorquillt, ein Land mit Weizen und Gerste, mit Weinstock, Feigenbaum und Granatbaum, ein Land mit Ölbaum und Honig, ein Land, in dem du nicht armselig dein Brot essen musst, in dem es dir an nichts fehlt, ein Land, dessen Steine aus Eisen sind, aus dessen Bergen du Erz gewinnst“. Tatsächlich machten die natürlichen Bedingungen das Kanaan der Epoche zu einem ausgesprochen paradiesischen Land: ein von zwei Regenzeiten bewässerter Mikrokosmos mit schneebedecktem bewaldetem Hochgebirge (Libanon), dominierenden bewaldeten Mittelgebirgen mit eingestreuten Obstwiesen und Weinbergen, großen Seen und ertragreichem Kulturland in den Ebenen, einer tropischen Vegetation und Tierwelt im Jordantal, aber auch Steppen für extensive Weidehaltung und Wüste unter einem insgesamt milden subtropischen Klima und mit Zugang zu zwei Weltmeeren. Reisende der Bronzezeit, die sich dem Land von See näherten, waren tief beeindruckt von den rauschenden Eichenwäldern der Saronebene und dem von blühenden Wiesen, Weinbergen und Wäldern bedeckten Karmelmassiv. Dazu war das Land auf modernstem Niveau von Handwerk und Technik, Architektur, Schriftkultur und Infrastruktur (Häfen und Fernhandel), siehe in Folge. Mit einem etwas launigen aber nicht falschen Vergleich könnte man sagen, dass das Land im damaligen Zustand eher an das heutige Oberbayern erinnert, als an das neuzeitliche Erscheinungsbild, von dem Mark Twain in Innocents abroad sagte: „Von allen trostlosen Gegenden ist, glaube ich, Palästina die ödeste“. Letzterer Zustand entspricht der in Levitikus 26, 33 u.ö. stehenden Fluchandrohung: „Euer Land wird zur Wüste“. Das blühende Ökosystem wurde endgültig und unvorstellbar verwüstet in den beiden Jüdischen Kriegen Roms 66—73 und 132—135 n. C. und und erodierte weiter nach der islamischen Eroberung.

Schrittmacher der Hochkultur und Weltzivilisation

(1) Kanaan resp. Palästina und Phönizien ist Ursprung der modernen rationellen Alphabetschrift als globales Bildungs- und Wissensinstrument. Alle europäischen Alphabete und Schriften hängen von dieser ab. Durch diese moderne westsemitische Alphabetschrift erfolgte nachgewiesenermaßen eine prinzipielle Alphabetisierung aller sozialen Schichten seit der Mitte des 2. Jahrtausends v. C.

(2) Die urbane Zivilisation der Stadtstaaten Kanaans resp. Palästinas repräsentierte die maßgeblichen Kulturen dreier Kontinente: (i) Nahöstliche semitische und hamitische Amoriter und/oder Kanaaniter, Aramäer, Phönizier, Araber (Midianiter / Nabatäer / Ituräer) und — durch assyrische Zwangsumsiedlung — Babylonier; (ii) Indoeuropäer aus Asien (Hethiter, Hurriter, Protoiraner, Meder, Perser) und Europa (Seevölker, Minoer, Philister, Griechen); (iii) Ägypter, Libyer bzw. Berber, Nubier aus Afrika (aufgrund der langdauernden politisch-militärischen Präsenz der ägyptischen Hegemonialmacht). Hierzu nur dieses sprechende Beispiel aus der Kunstgeschichte: Die weltberühmten Wandfresken der minoischen Kultur Kretas im Palast von Knossos finden sich — zusammen mit minoischer Töpferware — genauso in den bronzezeitlichen Palästen der großen Städte Galiläas und Südkanaans wie Hazor und Meggido. 

(3) Kanaanäische Westsemiten gründeten im Osten 2300 v.C. das weltweit erste Großreich Sargons von Akkad Hyksos Netzund 1800 v. C. unter Hammurabi die erste oder amoritische Dynastie von Babylonien, den Archetypus eines Weltreiches und einer Weltmetropole. Eine kanaanäische Allianz eroberte wenig später auch das Pharaonische Ägypten und beherrschte es unter dem Namen der Hyksos zwei Jahrhunderte lang (1700—1532 v.C.). [Bild rechts: Pharao Amose I, 1560—1525 v.C., im Kampf gegen die Hyksos]

(4) Die phönizische Hauptstadt Tyrus gründete ein Jahrtausend später im Westen Karthago, welches die Vormacht Nordafrikas und Westeuropas wurde, dessen Expansion erst durch Rom im 2. Jh. v.C. zum Halten gebracht wurde.

Gravitationszentrum krimineller Energie

(1) Dieser Knotenpunkt bedeutete auch potenzierten Götzendienst, Luxus, Ungerechtigkeit, kriminelle und sexuelle Exzesse sowie Ritualmorde. Die wegen ihrer Verderbtheit und kriminellen Energie sprichwörtlichen Sodom und Gomorrha mit ihren drei Schwesterstädten waren - wie aktuelle Ausgrabungen in Bab edh-Drah und Numeira dokumentieren - besonders reiche und gewaltige Stadtstaaten Kanaans in engem Kontakt mit Babylonien: ein frühgeschichtliches Wirtschaftswunderland und Ballungszentrum, dessen Friedhöfe mehrere Millionen Gräber umfassen. Dazu noch einmal Ezechiel 28 über Tyrus: "Durch deinen ausgedehnten Handel wurdest du erfüllt von Gewalttat, in Sünde bist du gefallen [...] durch gewaltige Schuld, durch unredliche Handelsgeschäfte".

(2) Die Präsenz des alttestamentlichen Israel in Kanaan, dem Wirtschaftswunderland und Motor wissenschaftlich-technischer Hochkultur, hat auch religionsphilosophisch weltgeschichtlichen Rang. Es ist eine — nach der Tora gesollte — Konfrontation der sakralen und politischen Elite des prophetischen Theismus mit dem anderen Gesicht Kanaans, nämlich dem des Mutterbodens par excellence von Amoralität, Kriminalität und antigöttlicher heidnischer Hybris, welcher dem Bann verfallen soll.

Multiplikator von Bildung und Wissenschaft

(1) Andererseits liegt Kanaan bzw. die Levante jedoch im Knotenpunkt der ältesten und angesehendsten Weisheitsliteratur der Menschheit: Mesopotamien — Ägypten — Edom / Arabien. Deren Gattungen (Philosophie, Poetik, Mathematik, Astronomie) werden in Syrien, Phönizien und Palästina gepflegt und weiterentwickelt.

(2) Am Anfang der griechischen Philosophie steht Thales von Milet (624—547 v. C.), der nach der wahrscheinlicheren Tradition aus einer bedeutenden phönizischen Familie stammte. Die einflussreichste philosophische Schule der Zeitenwende und z.T. bisZeno of Citium Museo archeologico nazionale di Napoli Netz heute war die Stoa, welche ebenfalls — so die gängige Annahme — durch einen zyprischen Phönizier, Zenon (333—261 v. C.) [Büste links: Archäologisches Nationalmuseum Neapel], begründet wurde, der sich in Athen professionell in die griechische Wissenschaft eingearbeitet hatte. Auch sonstige griechische Denker wie Herodot und Pythagoras lassen sich regelmäßig im Rahmen von Forschungsaufenthalten von der Wissenschaft und Weisheit des Ostens inspirieren.

(3) Die selbst in diesem vibrierenden intellektuellen und industriellen Umfeld besonders herausragende Weisheit König Salomons ist geschichtlich vielfach bezeugt. Seine Sprüche oder Sentenzen sind neben den Liedern Davids (Psalmen) und dem Buch Job der Kern der hier thematischen Schriften des Alten Testamentes. Für eine historisch-philologische Erörterung zur Entstehung und Überlieferung dieser Schriften siehe das Papier Die Tora in Monarchie — Untergang — Wiederaufbau.

(4) In der Sache sind die in Rede stehenden Schriften einer optimistischen Ethik des Tun-Ergehen-Zusammenhangs oder des Vergeltungsdogmas verpflichtet: Gerechtigkeit resultiert in Segen und Ungerechtigkeit in Unheil. Dies gilt tel quel und ohne Qualifizierung für Sozialsysteme und speziell Völker als Ganzen. Im individuellen Leben kommt darüber hinaus der ethische Stellenwert des Leidens als Bewährung, Läuterung und spirituelles Medium der Neutralisierung problematischer und verderbter Milieus ins Spiel (Buch Ijob) und die Gelassenheit anzielende Bewusstmachung der nur begrenzten Einsicht und Kraft von Menschen angesichts vordergründig absurder Welt- und Lebensverläufe (Buch Kohelet).

Literarische Formen

Man kann vier literarische Grundformen unterscheiden. Der (i) Spruch ist eine Erfahrungsverdichtung und Angstneutralisierung vor Unerwartetem und Bedrohlichem. Die poetische Grundfigur ist der parallele Strophenbau (Parallelismus membrorum), also die bildliche oder sachliche Verwandtschaft zweier aufeinander folgender Glieder (Bildreim, Gedankenreim). Der Spruch tritt auf als klassisches Sprichwort, prophetischer Wahrspruch, Rätselspruch, Zahlenspruch und Mahnspruch. Die (ii) Lehrrede und das (iii) Lehrgedicht behandeln den Sinn und das Glücken des Lebens angesichts von Leid und Tod. Die (iv) Lehrerzählung tritt in Novellen- oder Romanform auf.

Man unterscheidet ferner überlieferte Volksweisheit im alltäglichen Sozialverhalten — internationale städtische Schulweisheit von Prinzen- und Beamtenakademien für den korrekten Umgang mit Loyalität, Reichtum, Lebensgenuss und Ehre — Prophetische oder theologische Weisheit. Letztere legt den Akzent auf die Tora als bedeutendste Verdichtung der Weisheit (Deuteronomium 4, 6—8): "Ihr sollt auf sie achten und sollt sie halten. Denn darin besteht eure Weisheit und eure Bildung in den Augen der Völker. Wenn sie dieses Gesetzeswerk kennen lernen, müssen sie sagen: In der Tat, diese große Nation ist ein weises und gebildetes Volk. Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie Jahwe, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihn anrufen? Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsvorschriften, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?"

Besonders ausführliche Beispiele solcher theologischer Meditationen zur Tora mit dem Schwerpunkt auf Exodus und Sinaigesetzgebung bieten Jesus Sirach, Kap. 44—50, und das Buch der Weisheit Kap. 10—19. Es handelt sich dabei um die Aktualisierung der prototypischen und symbolischen Bedeutung der Gestalten, Ereignisse und Gesetze der Tora für die jeweilige Epoche und Generation und besonders auch für die messianische Zukunft. Mit den nötigen Kautelen können auch die messianischen Passionsberichte der Evangelien und das Johannesevangelium als solche Aktualisierung unter dem Namen Passah-Haggada angesprochen werden. Vgl. Ziener, G.: Weisheitsbuch und Johannesevangelium. In: Biblica 38 (1957), 396—418; und Schulz, H.-J.: Die apostolische Herkunft der Evangelien. Zum Ursprung der Evangelienform in der urgemeindlichen Paschafeier, Freiburg / Basel / Wien 3. Aufl. 1997, v.a. 162—186, 291—340. Passah-Haggada ist ein kommentiertes Rituale und Lektionar für die Osterfeier oder -liturgie und nicht zu erwechseln mit sonstiger (H)aggada, d.h. legendenhaften Erzählungen und allegorischen Erklärungen.

Personifizierte Weisheit

Die prophetische Weisheit gipfelt in der Meditation der kosmischen und Lebensordnung als Gabe und Manifestationsmedium JHWHs: Personifizierung der Weisheit. Die Weisheit spricht wie ein philosophischer Mentor, aber in transzendenter Vollmacht — als Umkehrpredigerin, Ratgeberin, Gastgeberin und Beraterin JHWHs, als ewiger Logos (Vernunft resp. Wort Gottes), „die aus dem Mund des Höchsten hervorging“ (Jesus Sirach 24, 3) und in Jakob ihr Zelt aufschlägt (24, 8). Es ist zweifellos nicht inkonsistent, sondern folgerichtig, wenn die Messianische Tora des Neuen Bundes diese Aussagen auf den Messias bezieht. Vgl. den Prolog des Johannesevangeliums, Kap. 1, und Gese, H.: Der Johannesprolog. In ders: Zur biblischen Theologie, Tübingen 1983, 173ff. Auch der bedeutendste Religionsphilosoph der wendezeitlichen Synagoge, Philo von Alexandrien (ca. 20 vor bis 50 nach Christus), ist hier erstrangig einschlägig. Das Werk dieses führenden Denkers des hellenistischen Judentums ist eine Synthese des trinitarischen Denkens der philosophischen Schriften des Alten Testamentes: Absolutes Sein Gottes — Personifizierte Weisheit Gottes — Personifizierter Geist Gottes.

Aber das Thema hat nach Umfang und Tiefgang noch eine viel weitgehendere Präsenz. Ein besonders kompetenter und verlässlicher Experte hierzu ist Paul David Drach: De L'Harmonie entre l'Eglise et la Synagogue. Perpétuité et Catholicité de la Religion chrétienne, 2 Bde. Paris 1844. Der Band I im Umfang von 613 Seiten hat den Untertitel Le traité complet de la doctrine de la très Sainte Trinité dans la synagogue ancienne / Vollständige Abhandlung der Lehre von der Heiligsten Dreifaltigkeit in der frühen vorchristlichen Synagoge. Die Kernargumentation bieten die Seiten 277 bis 503. Der 1823 zum Katholizismus konvertierte Doktor der Pariser Talmud-Akademie und designierte Großrabbiner Drach ist wahrscheinlich der gelehrteste gleichzeitige Bibelexperte sowohl zur jüdischen als auch zur christlichen Exegese und Theologie, den die Geschichte kennt. Die von ihm veröffentlichte und kommentierte monumentale Bibelausgabe Bible de Vence (27 Bde., Paris 1827—1833) ist der heute wahrscheinlich begehrteste und nahezu unerschwingliche Bibelkommentar.

Er formulierte bereits 1825 als vordringliches Arbeitsprogramm: "Von besonderer Wichtigkeit erscheint mir, auf die zahlreichen Belegstellen in der schriftlichen und mündlichen Glaubensüberlieferung der alttestamentlichen Synagoge [in Bibel [Tanach], Talmud, Zohar, Philon, Maimonides etc.] aufmerksam zu machen, wo die Lehre von der Dreipersönlichkeit des Einen Gottes bereits entwickelt ist" (Lettre d'un rabbin converti aux Israélites, ses frères, sur les motifs de sa conversion, Paris 1825, 12—24). Wiederabgedruckt mit ausführlichen Anmerkungen in Deuxième lettre d'un rabbin converti aux Israélites, ses frères, sur les motifs de sa conversion, Paris 1827, 346 S. Drach dokumentiert zahllose Belegstellen für die alttestamentliche und wendezeitliche Glaubensüberzeugung von der Dreieinigkeit Gottes. Diese Tatsache war auch der frühen Kirche durch aus dem Judentum kommende Bischöfe bewusst.

Drach zeigt, dass die Belegstellen sich von Anfang an durchgängig in allen Schichten und Textgattungen der mündlichen und schriftlichen Tradition finden. Namentlich auch bei besonders autoritativen und prominenten Propheten, Weisen, Schriftgelehrten und Rabbinern, die ausdrücklich dieselbe Lehre von der Dreieinheit Gottes bekannten wie die Apostel, Bischöfe und Theologen der neutestamentlichen Kirche. Durchschnittliche Schriftgelehrte hatten dasselbe Wissen in weniger entwickelter Form. Und das nicht theologisch gebildete Volk wusste in Andeutungen und Umrissen davon. Siehe besonders a.a.O. 1827, 25—97 und der Anmerkungsapparat 1827, 298—307.

Und diese dichte Beweislage ergibt sich, obwohl das — so Drach — von der authentischen vor- und nachchristlichen Offenbarung und Religion abgefallene talmudische Rabbinertum in Spätantike, Mittelalter und Moderne bemüht war und ist, diese Beweislage zu verdrängen und zu verdunkeln — bis zur bewussten Tabuisierung / Tilgung / Ersetzung von Buchstaben, Silben, Wörtern, Büchern. Auch dazu ist Drachs Ouevre eine besonders detaillierte und vollständige Aufarbeitung. 

Für die ebenfalls zahllosen, durchgängigen und eindeutigen Belegstellen in Schrift und Tradition der vorchristlichen Synagoge für die Menschwerdung der zweiten Person (Wort, Logos, Weisheit) des Ewigen und die gottmenschliche Natur des Messias siehe besonders a.a.O. 1827, 98—297 und die Anmerkungen ebd. 308—332. Drach erörtert insbesondere — stets an den Quellentexten und den klassischen Kommentaren — alle Würdetitel des Messias und deren Erfüllung in der Biographie des neutestamentlichen Messiasprätendenten und Herrn Jesus Christus. Dabei argumentiert Drach immer sowohl historisch-philologisch wie systematisch-theologisch. Wer als Religionswissenschaftler oder Theologe an dieser Satz für Satz erhellenden Aufklärung aus erster Hand vorbeigeht, kann nur die Absicht haben, auf eigene Faust den Narren zu spielen. 

Religionsphilosophisch ist das Bild mithin dieses: Die personifizierte Weisheit als Wort Gottes steht so in den philosophischen Schriften des Tanakh in übergeordneter Beziehung zur theologischen Weisheit der Tora; und Letztere steht wiederum in übergeordneter Beziehung zur kosmischen Weisheit von Philosophie und Ethik.

Das Feindbild des Toren

Das Feindbild der philosophischen Literatur des Tanakh ist der Tor. Toren machen einen nicht geringen Teil der Gesellschaft aus und werden definiert durch Dummheit oder Ignoranz und Dünkel oder Arroganz. Ihren Charakter beschreiben wir im Deutschen mit dem Sprichwort: Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz. Die philosophischen Schriften des Tanakh sagen illusionslos: "Das Herz des Toren schreit die Narrheit hinaus [...] Der Tor verbreitet nur Dummheit" (Sprichwörter 12, 23; 13, 16). Aus diesen Defiziten wachsen die anderen moralischen Fehler auf: Narzissmus, Soziopathie, Trägheit, Feigheit, Zuchtlosigkeit, Unbeständigkeit, Verlogenheit, Verschlagenheit: "Geh ihm aus dem Weg!" (Jesus Sirach 22, 13).